Buch lesen: «Geist & Leben 4/2018»
Inhalt
Heft 4 | Oktober-Dezember 2018 Jahrgang 91 | Nr. 489
Notiz
Sehnsucht nach Eucharistie
Klaus Vechtel SJ
Nachfolge
Ignatianische Spiritualität in der Familie
Antonio Allende SJ
Erotik, Sexualität und die Beziehung zu Gott
Christian M. Rutishauser SJ
Ignatianisch Pilgern. Gedanken zum „Camino ignaciano“
Stefan Kiechle SJ
Nachfolge | Kirche
Geistliche Gemeinschaften. Biblische Perspektiven
Gerhard Lohfink
Profunde Spiritualität.
Das Verdienst Hugo Rahners (1900–1968)
Jörg Nies SJ
Gegen Machtmissbrauch.
Das Zeugnis der Benediktusregel
Michaela Puzicha OSB
Das „tägliche Werk“ der Ökumene. Zeichen der Einheit in Bose
Matthias Wirz
Nachfolge | Junge Theologie
„Die Himmel lächeln milde“. Theologische Annäherungen an Emily Dickinson
Annika Schmitz
Reflexion
Henry Corbin (1903–1978).
Philosoph, Orientalist, Suchender
Mathias Bänziger
Pilger an unheiligen Orten
Raymond Pelly
Stolperstein
Stephan Philipp
Lektüre
Das Gebet von Arbeitern (Teil II)
Michel de Certeau SJ
Die Verhandlung
Martin Schleske
Buchbesprechungen; Jahresinhaltsverzeichnis
Impressum
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Deutsche Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Britta Mühl (Lektorats-/Redaktionsassistenz)
Redaktionsbeirat:
Bernhard Bürgler SJ / Wien Margareta Gruber OSF / Vallendar Stefan Kiechle SJ / Frankfurt Bernhard Körner / Graz Jörg Nies SJ / Rom Simon Peng-Keller / Zürich Andrea Richter / Berlin Klaus Vechtel SJ / Frankfurt
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A–1090 Wien Tel. +43–(0)664–88680583 redaktion@geistundleben.de
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Klaus Vechtel SJ | Frankfurt a.M.
geb. 1963, Dr. theol., Professor für Dogmatik in Sankt Georgen, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
Sehnsucht nach Eucharistie
Nach einem monatelang andauernden Streit ist die Handreichung der deutschen Bischöfe zur gemeinsamen Teilnahme von Ehepartnern in konfessionsverbindenden Ehen als Orientierungshilfe veröffentlicht worden.1 Bereits zu Beginn bezieht sich die Orientierungshilfe auf die Gemeinsame Erklärung, die 2016 anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes im schwedischen Lund zum Reformationsgedenken von Papst Franziskus und dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, Bischof Munib Younan, veröffentlicht wurde: „Viele Mitglieder unserer Gemeinschaften sehnen sich danach, die Eucharistie in einem Mahl zu empfangen als konkreten Ausdruck der vollen Einheit. Wir erfahren den Schmerz all derer, die ihr ganzes Leben teilen, aber Gottes erlösende Gegenwart im eucharistischen Mahl nicht teilen können. Wir erkennen unsere gemeinsame pastorale Verantwortung, dem geistlichen Hunger und Durst unserer Menschen, eins zu sein in Christus, zu begegnen. Wir sehnen uns danach, dass diese Wunde im Leib Christi geheilt wird“ (Nr. 1). Wie weit reicht die hier angesprochene Sehnsucht von Christ(inn)en, die Eucharistie in einem Mahl zu empfangen? Ist ihr durch die nicht verwirklichte, sichtbare Einheit der Kirche von katholischer Seite eine nach wie vor unüberwindliche Grenze gesetzt?
Die Orientierungshilfe beruft sich auf die von Johannes Paul II. in den Enzykliken „Ut unum sint“ (1995) und „Ecclesia de Eucharistia“ (2003) vorgenommen Klärungen: „Ein Grund zur Freude ist in diesem Zusammenhang, daran zu erinnern, dass die katholischen Priester in bestimmten Einzelfällen die Sakramente der Eucharistie, der Buße und der Krankensalbung anderen Christen spenden können, die zwar noch nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, aber sehnlich den Empfang der Sakramente wünschen, von sich aus da rum bitten und den Glauben bezeugen, den die katholische Kirche in diesen Sakramenten bekennt“ (Nr.16). Hier wird die kirchenrechtlich vorgesehene Situation einer schweren Notlage weitergeführt im Blick auf eine geistliche Notlage, die durch den Begriff eines inneren desiderium ausgedrückt wird. Entscheidend für die Kommuniongemeinschaft ist nicht eine äußere Notsituation, sondern eine innere Sehnsucht des Herzens, verbunden mit dem Glauben an diese Sakramente.2 Der Begriff der Sehnsucht ist dabei nicht auf eine psychologische „Befindlichkeit“ zu reduzieren, sondern spannt einen Bogen, der vom Dürsten des biblischen Betenden (Ps 63) und dem Seufzen der gesamten Kreatur (Röm8) über Augustinus’ Formel vom unruhigen Herzen, das in Gott Ruhe findet (Bekenntnisse I,1), bis hin zum naturhaften Sehnen nach der Gottesschau bei Thomas von Aquin (desiderium naturale) reicht. Zugleich gibt die Orientierungshilfe der Sehnsucht nach eucharistischer Gemeinschaft einen sakramententheologischen und ekklesiologischen Ort. Weil die Eheleute durch die Taufe und das Sakrament der Ehe miteinander verbunden sind, bilden sie „eine Art Hauskirche“ (LG 11). „Keine Kirche kann aber ohne Eucharistie sein. Wie die Kirche aus der Eucharistie lebt, so ist – wie Amoris laetitia betont – für die christliche Ehe die ‚Nahrung der Eucharistie‘ (…) Kraft und Anreiz, den Ehebund jeden Tag als ‚Hauskirche‘ zu leben (AL 318, unter Verweis auf LG 11)“ (Nr. 29). Kann die Sehnsucht nach eucharistischer Gemeinschaft auch über den Fall einer konfessionsverbindenden Ehe hinaus Kommuniongemeinschaft ermöglichen? Klaus Mertes SJ hat im Blick auf die Gedenkstätten der ökumenischen Märtyrer des 20. Jh. von „Löseorten“ gesprochen, an denen eine im Blut bezeugte Einheit des christlichen Bekenntnisses verwirklicht ist, die eine Trennung im eucharistischen Sakrament nicht mehr zulässt. Ähnliches könnte meiner Meinung nach für die von Jean Vanier gegründete Gemeinschaft der Arche und ihre tiefe Lebens- und Glaubensgemeinschaft gelten, aber auch für christliche Gemeinden und Gemeinschaften, die gemeinsam einen intensiven ökumenischen Weg gehen. Die Einheit im Sakrament der Taufe, welche die Christgläubigen bereits auch ekklesiologisch zu einem Leib Christi verbindet, drängt auf die Gemeinschaft im Abendmahl: „Die Kirchengemeinschaft gründet in der Taufe. (…) Sie ist ‚ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind. Dennoch ist die Taufe nur ein Anfang und Ausgangspunkt, da sie ihrem ganzen Wesen nach hinzielt auf die Erlangung der Fülle des Lebens in Christus. Daher ist die Taufe hingeordnet auf das vollständige Bekenntnis des Glaubens, auf die völlige Eingliederung in die Heilsveranstaltung, wie Christus sie gewollt hat, schließlich auf die vollständige Einfügung in die eucharistische Gemeinschaft‘ (UR 22)“ (Nr. 13). Damit ist an der vollen Einheit der Kirchen als Ziel festgehalten, ohne auszuschließen, dass es Orte geben kann, an denen eine eucharistische Gemeinschaft möglich ist, wo Gläubige zu dem dargereichten „Leib Christi“ und zur Kirche als dem „Leib Christi“ ein Amen sprechen zu können.
1 Mit Christus gehen – Der Einheit auf der Spur. Konfessionsverbindende Ehen und gemeinsame Teilnahme an der Eucharistie. Orientierungshilfe (20. Februar 2018), URL: https://www.dbk.de/fileadmm/redakti-on/diverse_downloads/dossiers_2018/08-Orientierungshilfe-Kommunion.pdf (Stand: 24.07.2018).
2 Vgl. W. Kasper, Eine Lösung ist möglich, in: HK 7 (2018), 13–14.
Antonio Allende SJ | Madrid
Bildungsbeauftragter der Jesuiten in Spanien
Ignatianische Spiritualität in der Familie
Fünf Regeln1
Ist es verfehlt, den Begriff „Ignatianische Familie“ zu verwenden, wenn man sinngemäß das zusammenfassen will, was der heilige Ignatius über die Familie gesagt hat? Einerseits leben viele ihr Familienleben auf Basis der ignatianischen Spiritualität. Anderseits ist das Thema nicht etwas, wofür der heilige Ignatius sehr berühmt gewesen wäre. Dazu kommt, dass profunde, ernsthaftere Studien, die den Reichtum der ignatianischen Spiritualität für das Leben in der Familie zeigen, fehlen.
Das Anliegen dieses Beitrags ist darum sehr schlicht: Wir fragen uns, welche ignatianischen Weisheiten helfen können, das Evangelium in unseren Familien zu leben. Es wird sich zeigen, dass es nicht sehr viele Unterschiede zu anderen Ansätzen von christlichem Familienleben gibt, wenn man auf Basis des Evangeliums lebt. Aber es ist einen Versuch wert, das, was wir in diesen 500 Jahren Gutes über eine gesunde Familie gelernt haben, zu reflektieren und mit der ignatianischen Spiritualität ins Gespräch zu bringen.
„Regeln“
Wenn im Folgenden von „Regeln“ gesprochen wird, sind diese als Fährten zu verstehen. Sie helfen, sich im Spiel des Lebens zurechtzufinden, es zu genießen, die zukünftigen „Spielzüge“ zu planen sowie die Gegenwart zu verstehen. Die ignatianischen „Regeln“ geben uns Leitlinien, um zu wählen, aber sie sind keine in sich geschlossenen Wege.2 Eine Eigenschaft der ignatianischen Spiritualität ist die Flexibilität. Der heilige Ignatius stellte in der Ordensgründung klare Regeln für das alltägliche Leben der Jesuiten auf. Ebenso gab er sehr konkrete Anweisungen in seinen Briefen, wie jemand seine bestimmte Mission erfüllen sollte. Gleichzeitig lässt er aber auch jedem Menschen Raum, um selbst zu entscheiden, was es an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Lebenslage braucht.
Dasselbe passiert auch in unseren Familien. Wir alle wissen, was wir für unsere Kinder wollen, was gut für sie ist, aber manchmal müssen wir auch realistisch sein und dem im Moment Wichtigen Raum geben. Nochmals: Diese Regeln dienen als Landkarte, als Koordinaten, um zu wissen, wo wir uns befinden und wo wir hin sollen, begünstigt durch gute Winde oder manchmal auch Wirbelstürme.
Noch eine letzte Vorbemerkung: Die Idee der christlich-ignatianischen Familie, die uns vorschwebt, weist Gemeinsamkeiten zum Konzept der „Haus-Kirche“ auf. Dieses Konzept umfasst wesentliche Punkte der sog. traditionellen Familie und öffnet diese zugleich für die Bedürfnisse einer größeren Welt. Familien sollten sich nicht in kleinen Kreisen nur sich selbst liebend verschließen, sondern in guter Verbindung zu anderen Familien und der größeren Gesellschaft stehen: „Wir brauchen Großfamilien einer neuen Art. Damit Kernfamilien überleben können, müssen sie sich in einen größeren generationsübergreifenden familiären Zusammenhalt einfügen, in dem die Großmütter und Großväter eine wichtige Funktion entwickeln, in interfamiliären Kreisen von Nachbarn und Freunden, wo die Kinder auch in Abwesenheit der Eltern einen Zufluchtsort haben, und die alleinstehenden Alten, die Geschiedenen und alleinstehenden Eltern eine Form von Zuhause finden. Die spirituellen Gemeinschaften stellen oft einen Raum und ein spirituelles Klima für die familiären Gemeinschaften bereit. Anzeichen einer ‚Haus-Kirche‘ sind auch Gebetsgruppen, katechetische oder ökumenische Bibelgruppen.“3
Regel 1: Vor der Frage, ob man dies oder das tun soll, ist zu klären, wer Gott für mich ist.
Wer über eine beliebige menschliche Situation nachdenkt, um sie im Licht des Evangeliums zu deuten, sollte mit dieser Frage beginnen, oder, ignatianisch formuliert, mit dem Gründungswort des Jesuitenordens: curet primo deum. Blicken wir also zuerst auf unser Fundament, nämlich die Gewissheit, in Gottes Händen zu sein, und was es ist, das unserem Leben Sinn gibt. Von dorther haben wir eine Vertrauensbasis im Leben und die Gewissheit, dass alles Erschaffene gut ist, zu unserem Wohl und für das Gemeinwohl der ganzen Menschheit bestimmt ist. Darin verbirgt sich eine Sicherheit, zu der wir nur gelangen, wenn wir uns entscheiden, diesen Vertrauenssprung zu wagen, um dann im Glauben voranzugehen, dass das, woran wir glauben, auch möglich wird.
In diesem Sinn bedeutet Glaube zuerst tatsächlich zu glauben – das Sehen folgt danach. Zwei Menschen mit der starken Überzeugung, ein lebendiges gemeinsames Projekt realisieren zu können, schließen sich zusammen. Zugleich sind sie neuem Leben gegenüber offen. Das passiert nicht nur am Beginn des gemeinsamen Lebens, sondern in ihrem gesamten weiteren Leben, wenn sich der Alltag manchmal schwierig gestaltet, Probleme entstehen, die die Durchführbarkeit des Projektes, die eigenen Kräfte und den Wert des bereits Geschaffenen anzweifeln lassen. Dennoch: Man geht voran und vertraut der Verheißung, dass alles gut ist und wird. Tim und Sue Moldoon formulieren es so: „Es ist, wie wenn man in der Nacht Auto fährt: Man sieht nur so weit, wie das Licht der Lampen leuchtet (…). Aber es reicht aus, um weiterzufahren.“4 Der Glaube ist eine feste Zuversicht auf das, was man hofft und ein Überzeugtsein von Dingen, die man noch nicht sieht. (Hebr 11,1) Manchmal erlebt eine Familie außergewöhnliche Momente, wenn Dinge passieren, die man sich erhoffte. Dann wieder muss man die Zähne zusammen beißen und nach vorne blicken, auch wenn man keine Lust dazu hat: Wenn die Arbeit drängt, die Kinder streiten und niemand die Glühbirnen am Gang austauscht.
Wer dann die Situation dramatisiert, ist keine Hilfe. Es ist wie beim Pilgern: Ein großer Teil des Weges verläuft im Flachland, ohne Sicht auf große Berge oder spektakuläre Täler. Aber es gibt die kleinen Freuden des Gehens auf ein Ziel hin. Der stete Blick auf das Ziel (das unser Ursprung und zugleich Nahrung ist) gibt die Richtung vor und ermöglicht das Wissen: Es ist nicht sinnlos. Bereits jetzt sind wir vom Reich Gottes umgeben. Wir erleben nicht eine Serie von zusammenhanglosen Ereignissen. Gott lädt uns ein, gemeinsam mit ihm eine Welt zu bauen, wie sie sein sollte, eine Welt der Liebe – beginnend bei unserer Familie: „Glaube ist (…) die Perspektive zu wechseln: Die Welt ist kein Theaterstück, wo sich dein Leben darstellt: Es ist eine stete Einladung, gemeinsam mit Gott zu arbeiten.“5
Regel 2 (ähnlich der ersten): In unseren Handlungen kontemplativ sein.
Um Gott zu vertrauen, muss man ihn zuerst kennen. Das bedeutet, ihm Zeit zu schenken, um die persönliche Beziehung zu ihm zu nähren. Ignatianische Spiritualität will Menschen in Bewegung bringen, dass sie Gott erfahren und kennenlernen, wie Jesus ihn kennenlernte; dass sie sich in Gott verlieben, damit alles im Leben von dieser Liebe getragen und alles im Licht der Liebe gesehen wird. Ohne Vertrautheit mit Gott lässt sich diese Vision nur schwer aufrechterhalten. Mit Büchern und Konferenzen erreichen wir vielleicht eine Doktrin, aber nur eine regelmäßige Glaubenspraxis führt zur Freundschaft mit Gott.
Das ignatianische „Gott in allen Dingen finden“ meint, in unseren Handlungen kontemplativ sein. Stille und Ruhe sind wesentlich für ein Leben mit Tiefgang. Aber die meisten Menschen leben in einem sehr umtriebigen, lauten Umfeld. Ist nicht Gott in dieser und in keiner anderen Welt Mensch geworden? Im Leben der Familie geht es oft um die kleinen, einfachen Dinge: nach den Kindern Ordnung zu machen, zu verhindern, dass sie streiten, einen Film zu genießen, Zeit zu haben, um sich der leidenden Welt zu widmen. Das ist das Leben, hier ist Gott zu suchen und zu finden. Karl Rahner betrachtete die „Familie als Ort der Präsenz Gottes“: „Das weltliche Leben, ehrlich und ohne Zurückhaltungen gelebt, ist bereits ein spirituelles Element (…). Wer sich der Welt wahrhaftig in Liebe hingibt, findet in derselben Welt das Kreuz Christi und die Unergründbarkeit Gottes, und braucht sie nicht mehr wie eine Zauberformel zu behandeln (…). Diese weltlichen Tugenden offenbaren sich demjenigen dann eines Tages als das größte Geheimnis, das Gott selbst ist.“6
Um kontemplativ leben und handeln zu können, ist – so die Pädagogik des hl. Ignatius – das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit (Examen) eine große Hilfe. Es wäre wichtig, das Examen als Begegnung mit Gott so zu gestalten, dass sie uns immer selbstverständlicher, ja zur alltäglichen Gewohnheit wird. José A. García führt aus: „Wenn ein Mensch Tag für Tag ausdrücklich vor Gott steht und den Lauf seines Lebens zurückspult und sich demütig-vertrauensvoll fragt: ‚Wie hast du mich in meinem Leben in dieser konkreten Zeit begleitet, wie habe ich dich aufgenommen und dir geantwortet?‘“, integriert dieser Mensch diese Perspektive nach und nach in sein Leben: „Indem man sich diese Frage immer wieder retrospektiv stellt, stellt man sie auch automatisch nach vorne. So wird diese Frage Teil des eigenen Lebens, stets neu aktualisiert.“7
Um für diese Übung Zeit zu finden, müsste man ein wenig kreativ sein. Und was unsere Kinder und Jugendlichen betrifft: Derzeit gibt es in vielen Jesuitengymnasien die Praxis der täglichen Gewissensüberprüfung und es gibt dazu viele Adaptierungen für Kinder.
Regel 3: Die Familie ist ein Weg, der zu Gott führt (Familie als Berufung).
Diese Regel spricht eine der häufigsten Versuchungen an, uns vom gewählten Weg zu entfernen. Ein Aphorismus bringt diese auf den Punkt: „Das Gras im Garten des Nachbarn ist immer grüner.“ Wir denken, dass wir besser kontemplativ im Handeln sein könnten, wenn wir uns für einen anderen Weg entschieden hätten:
„Wenn ich in einem Orden wäre, hätte ich kein Problem, Zeit für das Gebet zu finden oder spiritueller und intellektueller zu sein.“ Das stimmt so nicht, da Ordensleute dieselben Probleme haben. Darüber hinaus ist dieser Gedanke insofern eine radikale Versuchung, als er das Wesen unserer Berufung (als eines persönlichen Gerufenseins) leugnet, denn nur in der Familie finden wir unsere wirkliche Chance zu wachsen. Wir sind für eine Zukunft berufen, nämlich das zu werden, was wir noch nicht sind. Wir erkennen eine tiefe Sehnsucht in uns, daran zu arbeiten, diese Berufung Realität werden zu lassen. Im Falle der Berufung zur Familie wird der Ruf als Paar, mit dem Auftrag, um uns herum mehr Leben zu schaffen, beantwortet.
Während wir unsere Berufung leben, erfahren unsere tiefsten Wünsche eine Klärung: durch Lebensumstände, durch Nachdenken und durch Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind. Wir erkennen jene, die wertvoller sind, weil sie uns zu einem Leben in größerer Fülle einladen. So bearbeiten wir alles, was uns geschieht. Nach einer Metapher von James Martin können wir unser Leben betrachten wie ein Bildhauer, der vor einer Skulptur steht. Das Leben und die Berufung – sie werden so „herausgemeißelt“, bis die Figur entsteht, zu der du berufen bist, persönlich, als Partner(in) und als Familie. Manchmal sehen wir nur die Stücke, die der Bildhauer wegnimmt. Der Glaube hilft uns, tiefer zu sehen, bis wir uns selbst so erkennen, wie uns der Bildhauer erdacht hat (vgl. 1 Kor 12,13).
Man darf nicht erschrecken, wenn man in sich selbst widersprüchliche, im christlichen Sinn wenig vorzeigbare Wünsche vorfindet. Ignatianische Pädagogik widmet sich diesem Punkt: zu erkennen, was unsere höheren Wünsche sind – und welche keine höhere Aufmerksamkeit verdienen. Für Ignatius genügt es, mit Demut zu erkennen, dass alles, was wir in uns erkennen, oft nur das Verlangen ist, diesen höheren Bestrebungen zu folgen, die aber in uns noch nicht wirksam geworden sind. Indem wir prüfen, klären und unterscheiden, wo der Ruf Gottes in diesen unseren Wünschen ist, bilden wir den Horizont unserer Berufung. Wir können erkennen, wo wir hingehen wollen.
Regel 4: Kein Hindernis sein
Dieser Ausdruck verweist auf das ignatianische Konzept von Mission. „Wählen“ und „dienen“ – diese beiden Verben haben das Projekt christlichen Lebens im Blick. Dabei reicht es nicht, Dinge zu tun; es geht darum, die „Dinge Gottes“ zu tun, das „Reich zu erschaffen“. Dafür ist es zunächst wichtig zu wissen: Gott geht uns immer voraus. Er leistet die Vorarbeit. An uns liegt es, zu antworten und zu dienen: „in allem lieben und dienen“, als Antwort darauf, was Er in unseren Familien und in der Welt vollbringt.
Dies anzuerkennen führt dazu, uns in dieser Mission zu wissen – ohne sie uns anzueignen. Sie ist nie „unsere“ Mission, sondern wir sind gemeinsam in der Mission des/der Anderen. Dies braucht einen Raum der Großzügigkeit und Selbsthingabe. Es ist keine Mission „für“ uns. Nach Ignatius soll man an der Mission Gottes mit Demut, Einfachheit und Weisheit mitwirken, indem man nicht „stört“. Das bedeutet, ein(e) Vermittler(in) der Liebe Gottes zu sein und sich selbst nicht zwischen Gott und die Welt zu stellen. Nicht die Selbstverwirklichung ist vorrangig, sondern „aus unserer eigenen Liebe, unserem Wollen und unserem Interesse auszubrechen“ (GÜ 189). Denn so sehen wir jene, denen wir dienen, als Geschöpfe Gottes und geraten weniger in Versuchung, sie leicht für unsere eigenen Zwecke zu gebrauchen. Obwohl er sehr bekannt ist, möchte ich hier einen Text aus Der Prophet von Khalil Gibran zitieren, in dem er sehr gut erklärt, wie wir mit unseren Kindern leben sollen:
„Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu
machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Laßt euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.“
Dieser Text lädt ein, den eigenen Platz in der Mission der Erziehung unserer Kinder zu finden. Kinder sind zuallererst Kinder Gottes, also mit Respekt zu behandeln. Sie benötigen ein Nest, wo sie sich geschützt, verstanden und geliebt fühlen, aber auch einen Ort, von dem aus sie fliegen lernen, andere beschützen, das Leid anderer verstehen und mit anderen in Gemeinschaft leben. Leben in einer Partnerschaft, das Familienleben ist auch gegenseitiges persönliches Wachstum, wenn man die/den andere(n) als Geschenk, Gabe und Aufgabe sieht.
Wäre es nicht möglich, als eine Ebene von Kommunikation in einer Partnerschaft das geistliche Gespräch hinzuzufügen? Dabei ist die Art und Weise, wie je- de(r) ihr/sein Leben im Geiste lebt, im Zentrum. Hier tauscht man aus und teilt, was Gott jeder/jedem von uns sagt. Jedes Paar wird es auf seine Art und Weise unterschiedlich machen. Das ergibt eine tiefe und qualitätsvolle Kommunikation.
Regel 5: Gott schauen, um die Welt zu verstehen; in die Welt schauen, um Gott zu verstehen.
Heute eine Familie zu gründen, ist nicht einfach. Wir leben in einer Zeit kulturellen Umbruchs. Darin würde sich Ignatius nicht fremd fühlen, da er selbst auch zwischen Mittelalter, Renaissance und dem Beginn der Neuzeit lebte. Die Antwort auf viele Fragen war seine Spiritualität, die das Evangelium im Fokus hat. Für diese Antwort genügt es nicht, das zu tun, was wir immer tun, auch nicht das erste, das uns gerade in den Sinn kommt.
Nur diejenige Antwort hat Gültigkeit, die tatsächlich auf die Bedürfnisse derer, die in Familien leben, eingeht. Für Ignatius reicht es nicht, sich nur voll und ganz hinzugeben. Man muss wissen: Was ist das Beste, das man hier und jetzt tun kann? Und was die beste Art und Weise, es zu tun? P. Adolfo Nicolas verweist diesbezüglich auf zwei Betrachtungen der Geistlichen Übungen: jene zur Menschwerdung (101 ff.) und jene zur Erlangung der Liebe (230 ff.), in der das Wissen nicht nur darauf gerichtet ist, die Welt zu verstehen, um sie durch Technik zu verändern, sondern sie zu genießen, zu fühlen und zu schmecken, eine Welt, in der sich die Liebe Gottes entfaltet.
Unsere Erfahrung im Bildungsbereich zeigt, dass viele Eltern keinen passenden Umgang mit ihren Kindern haben und oft nicht bereit für die Erziehung sind. Sie glauben, dass die Zuneigung, der gute Wille, die Wiederholung dessen, was mit ihnen gemacht wurde, heutzutage ausreichen. Nicht wenige sind deshalb sehr unsicher und mit einem Schuldgefühl behaftet. Erziehen ist keine Frage, die sich mit dem guten Willen oder einfachen Menschenverstand klären lässt. Erziehung erfordert stetes Lernen und das Erlernen einiger „Techniken“ sowie Kompetenzen in Entwicklungspsychologie, Kommunikation, Soziologie und Informationstechnologien. Vor allem ist es wichtig, ein gemeinsames Modell von Erziehung zu haben, zu wissen, was man dem Kind über die Welt, Beziehungen und Werte vermitteln will. Einige Autor(inn)en bezeichnen dies als „Die Fächer des Lebens“. Indem Eltern immer wieder auf Erziehung reflektieren, wird die Wahl der Methoden für den „Unterricht in diesen Fächern“ für sie erkennbar.
Regel 6: Erfolg ist kein Name Gottes. Aber Scheitern auch nicht.
Im Grunde sollte diese Regel am Anfang stehen, da sie sich direkt auf die ignatianische „Indifferenz“ bezieht. In unserer Vorstellung, unseren Wünschen und in unseren Projekten für unsere Familie ist das zu unterscheiden, was uns Freiheit nimmt, von dem, was uns Freiheit gibt. Um diese Regel anwenden zu können, muss man frei werden, die Dinge als das zu sehen, was sie sind, nämlich als Geschenk. Das Gegenteil wäre, von den Dingen so zu denken, was und wie sie sein sollten, also geprägt von eigenen Illusionen oder Ängsten. Als Beispiele führt Ignatius die Gegensätze Gesundheit – Krankheit, Armut – Reichtum, Ehre – Schande und kurzes Leben – langes Leben an. Paulus drückte es so aus: „weder Tod noch Leben, weder Höhe noch Tiefe.“ (vgl. Röm 8,38–39) Im Grunde geht es darum, unsere letzte Stunde sowie die Vorrangstellung der Liebe Gottes über allen Dingen in unserem Leben vor Augen zu haben. Bezogen auf die Familie: Die Liebe steht über Reichtum oder Armut, über Gesundheit oder Krankheit. Von dieser Frei heit handelt die ignatianische Indifferenz. Es ist ein Wissen (und kein Vergessen), was das Wichtigste im Leben ist, um sich innerlich zu ordnen. Dadurch gewinnt man Freiheit und eine gewisse Ordnung.
Kinder sind keine Weihnachtsbäume, die wir mit verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten (Englisch, Klavier, Tennis …) schmücken sollen. Auch sollen sie nicht unsere unerreichten Träume bzw. das, was man gerade für Glück hält, erfüllen müssen. Der Sinn des Lebens ist ein anderer. Nicht Ergebnisse, die man erhält, machen ein erfülltes christliches Leben aus, sondern wie man sein Leben lebt und zu welcher Lebensgestalt man sich formen lässt.
Wie bei Jesus von Nazareth, dem wir folgen: Nicht seine erreichten Erfolge zählen, sondern wie er seinen Weg gelebt hat. Greg Boyle meint dazu: „Jesus war zu sehr damit beschäftigt, dem Willen seines Vaters zu folgen, als dass er sich um Erfolg gekümmert hätte. Ich bin auch nicht gegen Erfolg. Erfolg ist dann gut, wenn er aus unserer Treue zu Gott resultiert. Wenn unsere Hauptsorge Erfolge sind, werden wir nur mit jenen arbeiten, die uns gute Resultate bringen.“8 So wären wir weder als Christ(inn)en noch als solche, die sich ignatianischer Spiritualität verpflichtet wissen, am rechten Weg.
1 Ursprünglich erschienen in Manresa. Revista De Espiritualidad Ignaciana 88 (2016), Nr. 347, 155–165. Übersetzung: Barbara Karner, Bearbeitung: Christoph Benke.
2 Noch weniger sollen sie Richtlinien sein, um eine ideale Vergangenheit wiederherzustellen, die es nie gegeben hat. Wie W. Kasper sagt: „Wenn wir von der Familie und ihrer Schönheit sprechen, dürfen wir nicht von einem irrealen romantischen Bild ausgehen. Wir müssen auch die harten Realitäten sehen und an den Traurigkeiten, den Sorgen, den Tränen in vielen Familien teilhaben (…). Wir dürfen uns nicht der Versuchung beugen, die Vergangenheit zu idealisieren und dann, wie es leider an einigen Orten Mode ist, die Gegenwart wie eine reine Geschichte des Verfalls zu sehen. Das Herbeisehnen der guten alten Zeiten und das Jammern über jüngere Generationen gibt es, seitdem es eine frühere Generation gibt“, in: ders., ElEvangelio de familia. Santander 2014, 11.