Buch lesen: «WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN»
INHALTSVERZEICHNIS
COVER
TITEL
PROLOG
1
2
3
KAPITEL 1
1
2
3
4
KAPITEL 2
1
2
3
4
5
KAPITEL 3
1
2
3
4
5
6
7
8
KAPITEL 4
1
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KAPITEL 5
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5
6
7
KAPITEL 6
1
2
EPILOG
1
2
3
ANMERKUNGEN DES AUTORS
NACHWORT
WEITERE TITEL DES AUTORS
LESEPROBE
PROLOG
1
Es war wie die weltberühmte Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei. Denn nach ihrem Erwachen wusste sie zunächst nicht zu sagen, ob nun das schmerzhafte Pochen in ihrem Schädel dafür gesorgt hatte, dass sie erwachte, oder es sich nicht eher andersherum verhielt und der Kopfschmerz erst in dem Moment entstanden war, als sie begonnen hatte, zu sich zu kommen.
Da sie instinktiv ahnte, dass der Schmerz sich intensivieren würde, sobald sie die Augen öffnete, ließ sie diese lieber noch zu. Sie überlegte, ob sie heute zur Schule musste oder ausschlafen konnte. Sie konnte sich allerdings nicht erinnern, welcher Tag heute war. Das kam am Wochenende gelegentlich vor. Dann wachte sie auf, dachte, sie müsste gleich aufstehen, weil sie Schule hatte, und dann fiel ihr ein, dass Samstag oder Sonntag war und sie sich beruhigt noch einmal auf die andere Seite drehen und weiterschlafen konnte. Auch dieses Mal wartete sie auf diese Erkenntnis, doch anders als gewohnt stellte sie sich heute nicht ein, sodass sie weiter darüber nachgrübeln musste.
Hatte sie etwa doch Schule? Aber wieso hatte sie dann den Wecker nicht gehört? Vielleicht war es also tatsächlich so, dass der bohrende Schmerz in ihrem Kopf sie geweckt hatte. Oder sie hatte ein Geräusch im Haus gehört. Ihre Mutter möglicherweise, die immer vor allen anderen aufstand, um in Ruhe die erste Tasse Kaffee des Tages zu genießen, bevor die anderen lärmend herunterkamen und sie Pausenbrote für die Kinder machen musste. Oder ihr Vater, der noch schnell ins Bad schlurfte, kurz bevor ihr Wecker klingelte und sie das Bad für die nächsten zwanzig Minuten mit Beschlag belegte. Nur die Nervensäge Robin, ihr neunjähriger Bruder, konnte es nicht gewesen sein, denn der stand nie vor den anderen auf, sondern erst im letztmöglichen Moment, bevor Mama die Geduld verlor, nach oben ging und ihm die Decke wegriss. Dann hatte er gerade noch Zeit für eine Katzenwäsche, das Zähneputzen und ein hastiges Frühstück, bevor er aus dem Haus rannte.
Sie versuchte sich zu erinnern, was sie am letzten Abend getan hatte, um über diesen Umweg in Erfahrung zu bringen, was für ein Wochentag heute war, stieß jedoch anstelle einer Erinnerung nur auf gähnende Leere. Sie runzelte die Stirn, was den Schmerz unter ihrer Schädeldecke augenblicklich verstärkte.
Warum kann ich mich nicht daran erinnern, was ich gestern Abend getan habe?, fragte sie sich beunruhigt.
Es sah immer mehr so aus, als würde sie unter einem Kater leiden. Aber wie konnte das sein, wo sie doch schon aus Prinzip keinen Alkohol trank? Niemals! Und dabei machte sie auch keine Ausnahmen. Sie trank noch nicht einmal ein Glas Sekt, wenn eine ihrer Freundinnen Geburtstag feierte. Doch die Symptome, unter denen sie heute früh litt – stechender Kopfschmerz und eine riesige Gedächtnislücke –, erinnerten sie unwillkürlich an das, was Freunde und Bekannte über die Nachwirkungen von übermäßigem Alkoholgenuss erzählt hatten. Außerdem hatte sie, wie ihr erst jetzt auffiel, einen trockenen Hals und einen ekelhaften Geschmack im Mund. Bitter und intensiv, so als hätte sie vor dem Schlafengehen Medizin eingenommen.
Da das Pochen in ihrem Schädel nicht wie erhofft schwächer, sondern mit jeder Minute noch intensiver wurde, beschloss sie, aufzustehen und eine Schmerztablette zu nehmen. Außerdem wollte sie sich die Zähne putzen und den Mund gründlich ausspülen, um den scheußlichen Geschmack loszuwerden.
Sie öffnete die Augen und blinzelte in die trübe Helligkeit, die sie umgab und ihre Kopfschmerzen – wie sie richtig vermutet hatte – zusätzlich anheizte. Sie stöhnte laut und lang gezogen, allerdings weniger wegen der Schmerzen, sondern eher wegen dem, was ihre Augen ihr zeigten. Denn sie erkannte augenblicklich, dass sie gar nicht zu Hause in ihrem Bett lag, wie sie seit dem Aufwachen geglaubt hatte, sondern ganz woanders war. An einem fremden Ort, den sie noch nie gesehen hatte und an dem sie nie zuvor gewesen war.
Sie hob den schmerzenden Kopf vom Kissen, das ihr nun nicht mehr so weich wie ihr eigenes erschien. Und auch die Matratze, auf der sie lag, war viel härter, dünner und unbequemer. Mit behutsamen Bewegungen ihres Kopfes und ihrer Augen sah sie sich um.
Das Licht, das es ihr erlaubte, ihre Umgebung zu erkennen, war diffus und kam durch eine rechteckige, vergitterte Öffnung unmittelbar unter der unverputzten Betondecke. Auch die Wände sahen aus wie in einem Rohbau und waren schmucklos. Als sie den Kopf langsam nach links wandte, entdeckte sie eine fensterlose Tür aus Metall, die hellgrau gestrichen war.
Ich muss in einem Kellerraum sein. Aber warum bin ich hier? Und wer hat mich hierher gebracht?
Sie versuchte erneut, sich an die letzten Ereignisse unmittelbar vor dem Einschlafen zu erinnern. Doch alles war wie ausgelöscht. Ihr kam der vage Gedanke, dass sie mit Freunden unterwegs gewesen und anschließend im Dunkeln allein nach Hause gegangen war. Aber alles, was danach eigentlich kommen müsste, war weg, als hätte es nie existiert oder wäre nachträglich gelöscht worden.
Für den Bruchteil eines Augenblicks erschien, wie von einem Blitzlicht aus der Dunkelheit gerissen, ein Gesicht vor ihrem inneren Auge, um allerdings sofort wieder zu verschwinden, bevor sie in der Lage war, Details zu erkennen. Ihr wurde lediglich bewusst, dass sie die Person, der das Gesicht gehörte, nicht kannte und nie zuvor gesehen hatte.
Aber warum sehe ich dann ihr Gesicht vor mir, während ich darüber nachgrüble, was mit mir geschehen ist?
Obwohl sie das Antlitz nur für die Dauer eines Lidschlags gesehen hatte, fiel ihr im Nachhinein auf, dass es zwei gänzlich unterschiedliche Ausdrücke gezeigt hatte. Erst lächelnd und freundlich, aber schon im nächsten Moment böse und verzerrt. Fast wie die beiden gegensätzlichen Seiten ein und derselben Medaille.
Sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren und das Gesicht noch einmal aus der Finsternis ihrer verlorenen Erinnerungen reißen zu können. Es gelang ihr aber nicht. Außerdem verstärkte sich der Schmerz, je intensiver sie nachdachte.
Also öffnete sie die Augen wieder und richtete ihren Oberkörper auf. Es klirrte metallisch, als sie sich bewegte. Sie sah nach unten und entdeckte voller Entsetzen, dass ihre Handgelenke von eisernen Schellen umschlossen wurden, die durch silberne, massiv wirkende Ketten mit einem Stahlring in der Wand verbunden waren. Sie hob die Hände näher vor ihre Augen, als könnten sich die Fesseln dadurch als Trugschluss herausstellen. Doch schon das laute Klirren, das sie dadurch erzeugte, bewies ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Die Schellen und Ketten lösten sich partout nicht in Luft auf, sosehr sie sich das auch wünschte, und plötzlich konnte sie auch deutlich ihr Gewicht und die Enge um ihre Handgelenke spüren.
Die eisige Kälte der Todesangst griff nach ihrem Herzen, umschloss es mit knochigen Fingern und drückte in dem Augenblick zu, als ihr bewusst wurde, was das alles – die fremde Umgebung, der Kopfschmerz, die Erinnerungslücke und die Ketten – bedeuten musste.
»Aber wer …?«, fragte sie mit krächzender Stimme, ehe ein Hustenanfall sie verstummen ließ. Während sie hustete, löste jede einzelne Erschütterung ihres Körpers in ihrem gequälten Schädel weitere weißglühende Pfeile aus purem Schmerz aus, die in alle Richtungen flogen.
Aber als hätten die neuen Schmerzimpulse sie befreit, tauchten plötzlich Erinnerungen in ihr auf. Es waren allerdings ganz andere Erinnerungen, als sie erwartet und erhofft hatte. Sie erinnerte sich nämlich daran, dass vor ein paar Tagen eine junge Frau verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht war. Sie wohnte ganz in der Nähe von Fürstenfeldbruck und sah ihr sogar ein bisschen ähnlich. Beide hatten langes, hellblondes Haar und hübsche, ebenmäßige Gesichtszüge. Beide waren groß gewachsen und schlank. Sie hatte die andere zwar nicht gekannt, da sie in verschiedenen Orten wohnten und unterschiedliche Schulen besuchten, dennoch hatte ihr spurloses Verschwinden sie entsetzt und beunruhigt.
Sollte ihr nun dasselbe widerfahren sein und das gleiche Schicksal drohen wie der verschwundenen Frau, die nur ein knappes Jahr jünger war als sie.
»Aber wieso ausgerechnet ich?«
Es schien, als wären ihre Worte von jemandem vernommen worden und hätten in einem anderen Teil dieses Hauses eine Reaktion ausgelöst, denn plötzlich wurden direkt über ihr Geräusche laut. Stampfende Schritte ertönten, verharrten kurz, wurden dann lauter, nachdem vermutlich eine Tür geöffnet worden war, polterten anschließend Stufen herunter und kamen dann rasch näher.
Ihr Herz schlug mit jedem lauter werdenden Schritt der unbekannten Person schneller und heftiger, während es noch immer im eiskalten Griff ihrer furchtbaren Angst steckte. Denn selbst wenn sie denjenigen, der sich ihr näherte, gar nicht kannte, musste es sich doch um die Person handeln, die sie aus ihrem normalen Leben gerissen und an diesen albtraumhaften Ort gebracht hatte und nun hier gefangen hielt.
Als die Schritte schließlich unmittelbar vor der Tür zu ihrem Kellerverlies verstummten, hielt sie unwillkürlich die Luft an. Mit ängstlichem Blick und laut klopfendem Herzen starrte sie die geschlossene Tür an, die einzige Barriere, die nun noch zwischen ihr und ihrem Entführer lag.
Ein Schlüssel drehte sich im Türschloss. Dann wurde ein Riegel zurückgezogen. Die Tür öffnete sich mit einem nervenzerreißenden Quietschen. Es fuhr ihr durch Mark und Bein und hätte sie beinahe laut schreien lassen.
Beim Anblick des Maskierten, der den Kellerraum betrat, konnte sie sich allerdings nicht länger beherrschen. Sie schrie so laut und schrill, wie sie noch nie zuvor geschrien hatte. Doch ihr Schrei währte nur Sekunden, bevor der Vermummte nach vorn sprang und ihr ins Gesicht schlug. Nicht so fest, dass sie verletzt wurde oder das Bewusstsein verlor, aber doch fest genug, um ihr Schreien zu einem leisen Wimmern werden zu lassen.
»Endlich aufgewacht, Miststück?«, fragte der Maskierte, der eine bunte Clownsmaske und eine bis zum Boden reichende schwarze Kutte mit Kapuze trug, mit dunkler, rauer Stimme. Er legte seine behandschuhte, rechte Hand unter ihr schmales Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Dann können wir ja endlich anfangen, dir Schmerzen zuzufügen, die du für den kümmerlichen Rest deines kurzen, beschissenen Lebens nicht mehr vergessen wirst, damit du das, was du getan hast, endlich eingestehst und bereust.«
Durch die Augenschlitze konnte sie die Augen der Person sehen, die sie mitleidlos und zornig anfunkelten. Noch mehr als der Schlag ins Gesicht und die ganze Maskerade ließ sie dieser Blick frösteln und das Schlimmste befürchten …
2
Er grub wie ein Besessener. Der Schweiß lief ihm nicht nur übers Gesicht, sondern längst am ganzen Körper herunter und durchtränkte seine Kleidung. Er schwitzte und fröstelte zugleich, denn ein kühler Wind wehte durch die Bäume, unter denen er stand und grub, und brachte die Blätter zum Rascheln. In seinen Ohren klang es beinahe so, als unterhielten sich die Bäume flüsternd über ihn und das, was er hier tat.
Doch auf all diese Dinge achtete er nur am Rande. Denn viel mehr interessierte ihn die Erde unter seinen Füßen und das, was sie vermutlich enthielt.
Seine Bewegungen wurden immer hektischer, je größer das Loch wurde, das er aushob. Er achtete auch nicht darauf, ob jedes Mal genug Erde auf dem Blatt des Spatens war, damit sich die ruckartige, beinahe wütende Bewegung, mit der er die Erdbrocken hinter sich schleuderte, auch lohnte. Ihm kam es nicht darauf an, effektiv und kräftesparend zu graben und mit der ausgehobenen Erde neben dem Loch einen ordentlichen Haufen zu bilden. Ihm kam es einzig auf Schnelligkeit an. Er hatte es eilig, denn er wollte endlich Gewissheit haben, auch wenn er schon jetzt wusste, dass ihm die Gewissheit vor allem Kummer bereiten und Leid zufügen würde.
Obwohl er erst vor wenigen Minuten zu graben begonnen hatte, war die ungleichmäßige Grube unter seinen Füßen bereits knöcheltief. Längst schnappte er keuchend nach Luft, gönnte sich aber keine Pause. Ohne Unterlass grub er, als hinge sein Leben davon ab.
Und vielleicht war es ja auch so. Er war sich in dieser Hinsicht nämlich noch nicht sicher.
Was werde ich tun, wenn es tatsächlich wahr ist?, hatte er sich in den letzten Minuten mehr als einmal bang gefragt. Werde ich den Mut haben, die richtigen Konsequenzen aus dem, was ich finde, zu ziehen? Das Richtige zu tun? Das, was getan werden muss?
Er kannte die Antworten auf diese Fragen nicht. Vermutlich würde er sie erst wissen, wenn er fand, wonach er suchte. Falls es tatsächlich hier vergraben war. Denn noch war nichts sicher. Noch hatte er Hoffnung, dass es nur ein Irrtum war.
Die Arme wurden mit jedem Heben des Spatens schwerer. Seine Unterarmmuskeln verkrampften sich immer wieder aufgrund der ungewohnten Belastung durch die heftigen, ruckartigen Bewegungen. Außerdem schmerzte sein Rücken, weil der Griff des Spatens zu kurz war und er gebückt graben musste. Als die Krämpfe in den Unterarmen zu stark wurden, musste er doch eine kurze Pause einlegen. Er lehnte den Spatengriff gegen sein rechtes Bein, dessen Knie ebenso wie das andere vor Anspannung und Angst zitterte. Dann massierte er sich zuerst mit der linken Hand den rechten Unterarm und anschließend umgekehrt, bis sich die schmerzhafte Verkrampfung ein bisschen gelockert hatte.
Wie gut das tat, als der Schmerz nachließ. Zumindest was den körperlichen Schmerz betraf, denn den vermochte er halbwegs zu lindern. Im Gegensatz zu seinem seelischen Leid. Die Wunde, die sein Herz davongetragen hatte, war zu tief und zu schwer, als dass sie heilbar wäre. Und von dem, was hier vergraben lag, würde es abhängen, ob sie letzten Endes auch tödlich war.
Er legte den Kopf in den Nacken und gönnte sich noch ein paar weitere Augenblicke, um zu verschnaufen und wieder ein wenig zu Atem zu kommen. Durch vereinzelte Lücken im Laubwerk der Bäume, die ihn umgaben und überragten, konnte er den Nachthimmel sehen, der vom Mond erhellt wurde, der in dieser Nacht noch immer fast voll und rund war. Einzelne Strahlen schienen auch zwischen den Ästen hindurch auf ihn und den erdigen Untergrund, auf dem er stand und ein Loch aushob. Das Mondlicht war Beleuchtung genug, um ihn sein makabres Werk verrichten zu lassen. Die Taschenlampe, die er von zu Hause mitgebracht hatte, hatte er deshalb wieder eingesteckt, sobald er diesen Ort gefunden und erkannt hatte, was er verbarg.
Mach weiter!
Der mentale Befehl, den er sich selbst gab, setzte ihn gleichermaßen abrupt und ruckartig in Bewegung wie einen ferngesteuerten Roboter der Druck auf den Kontrollhebel. Er nahm den Spaten, atmete noch einmal tief durch und trieb das Blatt dann mit neuer Kraft tiefer als zuvor in die Erde. Er stöhnte leise, als er einen großen Erdbrocken anhob und zur Seite warf. Der Schweiß auf seinem Körper hatte nicht einmal Zeit gehabt, vollständig zu trocknen, da brach er ihm erneut aus.
Seine Bewegungen wurden immer verbissener. Er ahnte, dass er seinem Ziel nahe war. Er konnte es kaum erwarten, dass seine Mühen und die Ungewissheit ein Ende fanden, hatte gleichzeitig aber auch furchtbare Angst davor, genau das zu finden, was er befürchtete. Erneut trieb er die Spitze des Spatens besonders tief in die Erde, indem er mit dem rechten Fuß auf die Kante des Schaufelblatts trat und es in den Boden drückte. Als er den Stiel wie einen Hebel nach unten drückte, um die Erde zu lockern, ließ er sich im ersten Moment keinen Millimeter bewegen. Er befürchtete schon, der Spaten könnte feststecken, und wollte ihn herausziehen, da spürte er, wie die Erde doch noch unter dem Druck nachgab. Er hob den Erdbrocken, der schwerer war als alle bisherigen Ladungen, mit der Schaufel aus dem Loch und ließ ihn daneben zu Boden fallen.
Erneut musste er für einen Moment verschnaufen, bevor er weitergraben konnte. Er sah nach unten, um seinen Fortschritt zu begutachten. Seine letzten Bemühungen nach der Pause waren effektiver gewesen als das planlose, hektische Buddeln zuvor. Er hatte dadurch bereits ein knietiefes Loch geschaffen. Niklas sah, dass die Erde am Rand bröckelte und nach unten rieselte. Noch während er zusah, löste sich ein größerer Erdbrocken und purzelte zum Grund des Lochs. Und aus der Lücke, die dadurch an der Seitenwand des Lochs entstanden war, klappte wie ein makabrer Scherzartikel eine leichenblasse, menschliche Hand herunter.
Ihm stockte der Atem, während auch das hämmernde Herz in seiner Brust vor Schreck mehrere Schläge ausließ, ehe es in noch schnellerem Tempo weitergaloppierte. Er stöhnte leise, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Der Griff des Spatens entglitt seinen gefühl- und kraftlosen Fingern. Gleichzeitig gaben seine zitternden Knie unter dem Gewicht des Körpers nach und knickten ein. Er fiel auf die Knie, während er weiterhin wie gebannt auf den menschlichen Körperteil starrte, der so plötzlich, aber gleichzeitig nicht wirklich überraschend an diesem Ort zum Vorschein gekommen war.
Die Hand und der sichtbare Teil des Gelenks waren so weiß, dass sie im fahlen Licht des Mondes, das durch eine Lücke im Geäst auf sie fiel, beinahe zu leuchten schienen. Er hatte eine solche Hautfarbe noch nie bei einem Menschen gesehen. Allerdings hatte er auch noch nie eine echte Leiche zu Gesicht bekommen. Nur einige kreisrunde, dunkle Flecken auf der Handfläche, an den Spitzen mancher Finger und an den empfindlicheren Stellen zwischen den Fingern, die wie Brandmale aussahen, störten die ansonsten beinahe makellose Weiße. Das Handgelenk endete dort, wo es in den Unterarm mündete und in der Erde verschwand, und es sah auf den ersten Blick beinahe so aus, als wäre die Hand vom Rest des Körpers abgetrennt worden, der noch immer im Boden vergraben war. Das, was er vor sich sah, war nur ein kleiner Teil, der wie die Spitze eines Eisbergs aus der Erde ragte.
Er schauderte, als er zaghaft seine eigene rechte Hand in Richtung der leichenblassen Hand ausstreckte. Er schlotterte am ganzen Körper, und das nicht nur wegen der kühlen Brise, die den Schweiß auf seinem Körper trocknete und ihn frösteln ließ. Als seine eigenen, gut durchbluteten Fingerspitzen nur noch wenige Zentimeter von den blutleeren Fingern der Leiche entfernt waren, zuckte er unwillkürlich zurück.
»Nein!«, schalt er sich augenblicklich selbst und flüsterte dabei automatisch, als hätte er Angst, er könnte durch ein lautes Wort den Leichnam, dem die Hand gehörte, wieder zu gespenstischem Leben erwecken und dazu veranlassen, sich aus seinem kühlen Grab zu erheben. Er wusste natürlich, dass diese Vorstellung absurd war, und redete sich ein, er würde nur wegen der Nachbarn und des Grundstückseigentümers flüstern, die ansonsten auf sein Tun aufmerksam werden könnten. Dabei wusste er genau, dass dieser Ort ziemlich abgeschieden war und sie ihn um diese Uhrzeit vermutlich nicht einmal dann hören könnten, wenn er lauter sprechen würde. »Du musst es tun!«, fuhr er, noch immer wispernd, aber in beschwörendem Tonfall fort. »Du musst dir Gewissheit verschaffen!«
Auch wenn dich die Gewissheit umbringt?, fragte die Stimme der Vernunft in seinem Verstand, die an diesem Abend allerdings bislang kein Gehör gefunden hatte. Und auch in diesem Moment ignorierte er sie, so als hätte er die berechtigte Frage gar nicht gehört. »Du musst!«, sagte er noch einmal, diesmal ein wenig lauter, und griff beherzt nach der leblosen Hand, die vor ihm aus der Erde ragte.
Er hatte sofort erkannt, dass es sich um die rechte Hand der vergrabenen Person handelte. Als wollte er dem Leichnam die Hand schütteln und sich artig vorstellen, ergriff er sie mit seiner eigenen rechten Hand und zog einmal kräftig daran. Natürlich erhoffte er sich nicht, den Körper auf diese Weise aus der Erde ziehen zu können. Das war auch gar nicht seine Absicht. Allerdings gab der Arm, an dem die Hand hing, etwas nach, und ein weiteres Stück des Unterarms kam zum Vorschein. Dadurch gerieten weitere Erdklumpen in Bewegung, blätterten ab und purzelten nach unten.
Als er genauer hinsah, entdeckte er, dass durch seine Aktion nicht nur ein weiterer Teil des weißen, mit kreisrunden Brandmalen bedeckten Unterarms sichtbar geworden war, sondern auch ein Armband aus silbernen Kettengliedern, an denen mehrere Anhänger hingen.
Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich an einer heißen Herdplatte verbrannt. Er gab einen kurzen, teilweise unterdrückten Laut von sich, eine Mischung aus Stöhnen, Aufheulen und Schluchzen, und starrte gebannt auf das Armband. Auch ohne genauer hinzusehen oder die Anhänger zu zählen und zu untersuchen, wusste er, dass es sich um ein silbernes Bettelarmband handelte, an dem sieben kleine Symbole hingen. Es handelte sich um ein Kreuz, ein Herz, ein Kleeblatt, einen Schlüssel, einen Pilz, einen Engel und einen kleinen Eiffelturm. Symbole, Erinnerungen und Stationen eines Lebens, das nun unweigerlich beendet war.
Sein Blick verschleierte sich, als ihm Tränen in die Augen schossen. Doch das Bild des zierlichen, leichenblassen Handgelenks mit dem im Mondlicht glänzenden Armband hatte sich ohnehin längst unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er schluchzte leise, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen und sich dort mit dem Schweiß vermischten.
Er hob beide Arme, die Hände zu Fäusten geballt, und legte den Kopf in den Nacken. Mit tränenverschleiertem Blick starrte er zum Mond empor, der die Szene, die ein paar seiner Strahlen aus der Finsternis rissen, im Schutz des Astwerks schweigend beobachtete. Das leise Schluchzen verstummte, als er tief Luft holte, den Mund ganz weit aufriss und einen gellenden Schrei von sich gab, der wie das Heulen eines Wolfs klang und weithin hörbar durch die nächtliche Stille hallte. Ein paar Hunde in der Nähe wurden davon aufgeschreckt und erwiderten das Heulen, als wollten sie einen neuen Artgenossen in ihrer Mitte begrüßen …