Die Welt der Illusionisten

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Joseph gab nicht klein bei und stritt weiter energisch für seinen Vorschlag. Er wollte eine Entscheidung, und er bekam sie. Der gesamte Parteivorstand stellte sich gegen ihn. Die vage Andeutung über die Wiedervereinigung wurde aus dem Parteiprogramm gestrichen und durch die Betonung der Zweistaatlichkeit ersetzt. Über eine Neuwahl des Parteivorstandes musste danach nicht diskutiert werden, denn Joseph trat von diesem Amt zurück.

Sie frühstückten auf dem Balkon des Aparthotels. An der gedrechselten Brüstung, die der Hausherr angefertigt hatte, hingen Kästen mit Geranien, deren dunkelrote Blüten mit denen auf den benachbarten Balkons wetteiferten. Unter ihnen lag eine breite Wiese, auf der vormittags sieben Kühe weideten.

»Sieben«, sagte Joseph, »eine Glückszahl.«

»Seit wann bist du abergläubig?«

»Seitdem ich Glück brauche.«

»Du glaubst doch, dass du gerade dein eigenes Glück schmiedest.«

»Ich habe aber sehr hoch gepokert.«

»Eben, das meine ich ja.«

»Ich werde aber siegen!«

»Na, abwarten.«

Frühmorgens versetzte der Bauer den Weidezaun um einige Meter und gab den Kühen saftige Kräuter und frische Gräser frei. Danach mähte er ein anderes Stück und fuhr das Futter für nachmittags in den nahen Stall.

Die Penkenbahn wurde in Betrieb gesetzt, und von oben näherten sich die ersten Gondeln der Talstation. Joseph Adam nahm sich schon die dritte Tasse Kaffee, er saß bequem und völlig entspannt und beobachtete den Bauern beim Mähen. Erst als Magda zum dritten Mal auf ihre Uhr blickte, reagierte er: »Wir haben doch Zeit, nichts drängelt uns.«

»Heute schon, wir müssen nach Hintertux fahren.«

»Müssen?«

»Müssen!«

»Ich dachte, wir wollten einfach mal zwei Wochen Urlaub machen, ganz gemütlich mit ein paar Wanderungen durch die Täler, bevor der Sommer endet.«

»Machen wir ja auch.«

»Aber ich sehe es dir an der Nasenspitze an, dass wir nicht nur deshalb hier sind.«

»Kann sein.«

»Also heute?«

»Ja, heute!« Sie blickte wieder auf die Uhr.

»Okay, okay, ich bin ja schon fertig.« Gespielt hastig schüttete Joseph den letzten Schluck Kaffee in sich rein. »Da bin ich aber mal gespannt!«

Sie verriet ihm nichts und genoss die Autofahrt bis Hintertux durch die schöne Bergwelt und die herausgeputzten Dörfer.

»Eins habe ich unserem Hausherrn schon gesagt, aber das hört der gar nicht so gerne, ich habe noch nie eine so stinkreiche Gegend gesehen wie hier im Zillertal.«

»Ich auch nicht, obwohl andere ja auf die Schweiz verweisen. Die Leute hier haben ein unglaubliches Schwein. Als vor etwa 140 Jahren der Tourismus begann, brauchte ein Ahne nur ein Haus mit Grundstück zu besitzen, und schon hatten alle nachfolgenden Generationen ausgesorgt.«

»Das solltest du dem Hauswirt aber nicht sagen.«

»I bewahre.«

In der Talstation der Hintertuxer Bergbahnen wollte Joseph gleich Tickets bis ganz nach oben kaufen. »Wenn wir schon mal hier sind, will ich auch den Gletscher erleben. Vielleicht haben wir ja auch eine gute Sicht bis zur Zugspitze.«

»Nein! Wir müssen nur bis zur Sommerbergalm.«

Magda verschwieg immer noch ihr Ziel und übersah die tiefe Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen bildete.

Mit ihnen betrat ein junges Paar die Kabine. Er war klein und schmächtig, hatte aber ein brutal wirkendes, feistes Gesicht mit unangenehmen Augen. Sie war einen Kopf größer als er, schlank, rassig, bildschön. Er redete in einer hart klingenden, slawischen Sprache auf sie ein, und sie senkte ihre Augen.

Oben blickte Magda auf ihre Uhr: »Wir haben noch etwas Zeit.«

Sie gingen zu dem Aussichtspunkt hinter der Station. Tief unter ihnen schlängelte sich die Straße durch das weite Tal mit den langgestreckten Dörfern. Am Südhang grasten viele Kühe auf den Almen, der Nordhang war unten bewaldet, darüber zeugten Lawinenschutzzäune von den Gefahren, denen die Bewohner im Winter ausgesetzt waren.

»Wunderschön!« Magda konnte nicht genug fotografieren. Dann wandte sie sich zurück zu dem steil aufragenden Olperer. Auf seinem tief herabhängenden Gletscher bewegten sich kleine dunkle Punkte nach unten. Einer verharrte kurz, war vielleicht gestürzt, während ein anderer noch wenige Meter weiterfuhr und dann wartete.

»Wenn das der Reiche war, wird er seiner Frau die Schuld geben«, meinte Joseph.

»Das müsste sie ertragen.«

Magda behielt nun den Ausgang der Bergbahn im Blick. Und dann kamen dort vier Personen heraus, ein älterer, graumelierte Herr, ein jüngeres Paar und ein kleines Mädchen.

Joseph hatte sie noch nicht entdeckt, aber Magda sagte: »Jetzt müssen wir gehen.«

Nur 50 Meter hinter der Gruppe erreichten sie den Wanderweg zum Tuxer Jochhaus. In diesem Moment blickte sich der ältere Herr um, und Joseph blieb abrupt stehen:

»Da, da, das ist …«

»Ja, das ist er.«

»Dann, dann ist das Mädchen …«

»Ja, das ist unsere Tochter.«

Er schwieg verwirrt und meinte dann: »Das wird dem Weinbauern aber nicht gefallen.«

»Dem nicht, aber der musste sich beugen. Seine Frau und seine Schwiegereltern sind schließlich Georgier. Für die ist die Familie das allerwichtigste. Die haben verstanden, dass ich meine Tochter noch einmal sehen will, wenn wir das auch anders vereinbart hatten.«

»Und deshalb habt ihr euch hier verabredet?«

»Ja, weitab vom Schuss. Wir treffen uns zufällig, gehen ein Stück miteinander, essen oben und gehen wieder auseinander. Keiner bemerkt etwas, auch Lena nicht.«

Am Wegrand standen zwei Kühe. Eine säuberte der anderen mit ihrer langen Zunge gründlich den Hals. Die andere blieb ganz ruhig stehen, ohne sich von den neugierigen Menschen stören zu lassen. Die Eltern stellten sich mit Lena davor, und der Opa wollte sie fotografieren.

»Möchten Sie mit auf das Foto?«, fragte Magda.

»Ja, danke, das ist nett.«

Jetzt bemerkte eine Kuh den Blumenstrauß, den Lena sich gepflückt hatte und fraß ihn auf, bevor Lena ihre Hand wegziehen konnte.

»Meine Blümchen, schade.«

»Guck mal dort«, Magda entdeckte in einer Felsspalte gelb leuchtende Arnikablüten und nahm ihre Tochter an die Hand, »komm, die holen wir dir.«

Ohne Scheu folgte Lena der fremden Frau.

»Sind die nicht schön?«

»Findest du noch mehr?«

»Ja, guck dort.«

Die Beiden pflückten zusammen viele Blumen, während die anderen weitergingen. Der Aufstieg zur Hütte wurde steiler als sie von unten vermutet hatten. Der Fürst fiel etwas zurück, und Joseph blieb bei ihm. Als die anderen sie nicht mehr hören konnten, blieb der Fürst stehen und sagte: »Sie haben sich sehr verändert.«

»So? Mit anderen Worten, Sie interessieren sich für meine Karriere?«

»Gelegentlich.«

»Natürlich habe ich mich seit Lenas Taufe verändert. Aber Sie haben mich damals auch in einer schlechten Situation kennengelernt. Ihr Schwiegersohn hatte mir absichtlich zu viel von diesem schweren Wein eingeschenkt.«

»Ich denke nicht nur daran.«

»Ja, klar, auch an Lena. Aber eins müssen Sie wissen, ich hatte bei der Entscheidung, sie zur Adoption frei zu geben, kein Mitspracherecht. Das haben mir Tante Sarah, von der Sie ja wissen, wie resolut sie sein kann, und Magda im gleichen Moment mitgeteilt, in dem ich von der Schwangerschaft erfuhr.«

Der Fürst nickte und hielt dieses Thema für abgeschlossen. »Noch einmal zu Ihrer Karriere. Ihre Partei fällt im Moment ja ins Bodenlose. Auch für die trifft Gorbatschows Spruch zu ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.‹ Sie waren der Einzige, der eine Vision hatte, aber Sie wurden dafür abgestraft.«

»Sie sind wirklich gut informiert. Aber«, Joseph lachte auf, »das macht nichts, ich werde wieder auf die Füße fallen.«

»Dann sind Sie im Wahlkampf wohl so wenig aktiv, weil Sie sich auf die Zeit danach vorbereiten?«

Joseph blickte ihn überrascht an. Nicht einmal im Traum hätte er es für möglich gehalten, dass sich der Fürst so für ihn interessieren könnte. Warum machte der das? Und was hatte der vor? Offensichtlich wollte der dieses Treffen für etwas Konkretes nutzen.

Zurückhaltend antwortete er: »Diese Schlussfolgerung haben noch nicht einmal meine Gegner gezogen, zumindest nicht mir gegenüber.«

Der Fürst ging schneller, um nicht zu weit zurückzufallen.

»Sie finden Ihren Weg«, sagte er dann, »Sie werden schneller aufsteigen als ich auf diesen Berg. Es wird Sie nun nicht mehr überraschen, dass ich Ihre Frau gebeten habe, Sie zu diesem Treffen mitzubringen. Als Politiker wissen Sie ja, dass es nicht nur in Osteuropa große Veränderungen geben wird, sondern auch in Asien. Haben Sie den Namen Berkel Zorbas schon einmal gehört?«

»Habe ich, manche nennen ihn den aufsteigenden Stern Asiens.«

»Ich würde eher sagen die aufsteigende Sonne. Ich kenne ihn gut. Er wird Abestan zu einer Großmacht entwickeln. Keine Frage. Aber«, er suchte direkten Blickkontakt mit Joseph Adam, »heute braucht er Hilfe aus Westeuropa, auch und gerade aus Deutschland. Weil er weiß, dass ich viele Kontakte habe, hat er mich gebeten, ihm dafür geeignete deutsche Politiker zu empfehlen. Aber mit den etablierten, die sich erdreisten, arrogant auf ihn herabzublicken, kann er nichts anfangen, er sucht neue, aufsteigende. Wenn sich Ihre Karriere so entwickeln würde, wie ich vermute, könnten auch Sie ihm bald helfen.«

»Das muss man abwarten«, wich Joseph aus.

»Selbstverständlich. Aber wenn es dann so weit ist, werden Sie ihn kennenlernen können.«

»Interessanter Vorschlag«, sagte Joseph, und er konnte in diesem Moment ja nicht ahnen, was dieses Gespräch für seine Zukunft bedeuten würde.

 

Ihren Gedanken nachhängend holten sie die anderen wieder ein, die an einer Weggabelung auf sie warteten.

»Hat sie dich erkannt?«, fragte Joseph leise.

»Nein.«

»Aber du hast sie doch so lange gestillt.«

»Das ist Jahre her. Ein Kind vergisst das.«

Als sie weitergingen, gab Lena Magda eine Hand und reichte die andere Joseph hin: »Holla hupp?«

»Du wirst lästig«, meinte der Weinbauer, aber Joseph ergriff die Hand seiner Tochter.

Sie nahmen Anlauf. »Eins, zwei, drei«, und sie schleuderten Lena weit hoch, »holla hupp.«

Das Kind quietschte vergnügt. »Noch mal.«

»Eins, zwei, drei, holla hupp.«

»Noch mal.«

»Eins, zwei, drei, holla hupp.«

Lenas Lachen schallte durch das weite Tal. Aber Magda drehte plötzlich ihr Gesicht weg.

Die DDR-Bürger werden mitwählen, hatte Joseph schon vor einem Jahr prophezeit. Sie taten es, und Haberecht erhielt für seine Strategie eine schallende Ohrfeige. Schon bei der ersten Wahlprognose lag die 5%-Hürde unerreichbar fern. Aber unbeirrt trat er nach der ersten Hochrechnung vor seine Parteifreunde und verteidigte diese Strategie, sprach von einer Wahlschlappe, die dem Zeitgeist geschuldet und zu überwinden wäre. Doch es klatschten nur wenige. Die Mehrheit der Zuhörer gehörte zu Adams Anhängern, und die buhten Haberecht so aus, dass es dem die Sprache verschlug und er ratlos und schweigend am Mikrofon stehen blieb.

Und plötzlich war aus dem Hintergrund ein leiser Ruf zu hören: »Joseph, Joseph, Joseph!«

Alle blickten sich um.

»Joseph, Joseph, Joseph!«, riefen nun schon mehrere und schließlich fast alle.

Und der ließ seine Freunde noch ein bisschen zappeln, betrat dann von hinten die Bühne und ging schnurstracks zum Mikrofon. Die Masse jubelte auf. Haberecht blickte ihn nur kurz an, senkte sein Haupt und schlich sich davon. Seine Anhänger folgten ihm in der gleichen Körperhaltung.

Joseph stand nun alleine auf der Bühne und genoss den Beifall. Erst als der ein bisschen nachließ, senkte er seine Hände beschwichtigend und stellte sich das Mikrofon ein. Dann blickte er in den Saal, der etwas leerer geworden war und lächelte breit. Ohne eine Erklärung zu benötigten, lachten die Zuhörer auf und klatschten wieder.

»Liebe Freunde, diese Wahlschlappe wirft uns nicht um, sondern sie macht uns stark. Was wir soeben erlebt haben, bedeutet eine Zäsur in der Entwicklung unserer Partei. Eine Gruppe spaltet sich ab, eine kleine Randgruppe, der wir nicht nachtrauern müssen.«

Gelächter und zustimmender Applaus erklangen. Obwohl er schon in Wien gelernt hatte, dass die Massen Ironie nicht mögen und ein seriöser Politiker lieber darauf verzichten sollte, fühlte sich Joseph zu einer kurzen Bemerkung angestachelt. »Ich will jetzt kein Wortspiel mit einem Namen machen.«

Wieder unterbrach ihn Gelächter.

»Gut, das ist ja sowieso vorbei. Wir stehen heute nicht am Ende, sondern vor einem neuen Anfang. Wir befreien uns von dem ideologischen Müll, ohne dabei unsere Visionen aus den Augen zu verlieren. Wir nennen uns ›Die Anderen‹. Aber was bedeutet denn dieser Name? Wollen wir nur anders sein als die Altparteien? Würde uns das genügen? Würde mir das genügen? Natürlich nicht! Das Land muss anders werden. Wir wollen unser Land verändern, das ist unsere historische Aufgabe, das ist unsere Vision.«

Zustimmender Beifall brandete auf.

»Und dieser Aufgabe stellen wir uns jetzt. Wir verlassen die Nische, in die uns Ideologen getrieben haben. Wir stellen uns neu auf und machen uns regierungsfähig.«

Ein ungläubiges Raunen ging durch den Saal. Dieses Wort hatte noch kein Politiker der Partei in den Mund genommen. Und ausgerechnet nach dieser schweren Niederlage, die sie alle in die außerparlamentarische Opposition trieb, wagte Joseph das.

»Ja, das sage ich ganz bewusst, und ich wiederhole es: Wir müssen regierungsfähig werden. Unser Ziel kann nicht nur sein, bei der nächsten Wahl wieder ins Parlament einzuziehen, sondern wir müssen so viele Stimmen erhalten, dass wir als Koalitionspartner an die Macht kommen.«

Auch das Wort Macht hatte bisher nur Einer ausgesprochen – Joseph selbst auf dem Gründungsparteitag, aber daran erinnerten sich nur noch wenige. Vielen Zuhörern blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Aber sekundenschnell machte sie Josephs Ziel zu ihrem eigenen und tobten vor Begeisterung. Adam redete noch weiter, aber viel mehr hätte er nicht sagen müssen.

Joseph Adam hatte seine Bude in Bonn aufgegeben und wohnte wieder mit Magda zusammen in Frankfurt. Zum Neuaufbau der Partei reiste er kreuz und quer durch das Land.

Noch nie hatte sich Magda in seine Terminplanung eingemischt, aber plötzlich sagte sie: »Wann musst du nach München? Am 15.? Das geht nicht.«

»Was ist denn jetzt los?«

Sie holte einen Monatskalender aus ihrem Nachttisch. Ein Tag am Monatsanfang und einer am Ende war rot gekennzeichnet, einer in der Mitte dunkelgrün und jeweils zwei Tage davor und danach hellgrün.

»Was ist denn das?«

»Musst du doch erkennen.«

»Nein, keine Ahnung.«

»Das ist mein Zyklus. Am dunkelgrünen Tag, also an dem Tag, an dem du verreisen willst, habe ich den Eisprung. Die anderen vier Tage sind auch noch fruchtbar.«

»Du willst?«

»Ja, ich will.«

»Schon seitdem wir Lena getroffen haben, nehme ich an.«

»Ich kann dir auf die Sekunde genau sagen seit wann. Als wir mit ihr holla hupp gespielt haben.«

»Ach so. Und ich habe mich in der letzten Zeit gewundert, warum du so oft wolltest. Also bist du nicht sexsüchtig geworden.«

Sie lachte auf: »Aber es hat bisher nichts gebracht. Also müssen wir uns jetzt ganz genau an meine fruchtbaren Tage halten.«

»Aber die Reise am 15. muss ich noch machen. Die kann ich nicht mehr absagen.«

Magda atmete tief ein und lächelte. Und weil sie ihm das nicht erklären wollte und musste, sagte sie schnell: »Gut, wenn es sein muss, aber danach musst du deinen Terminplan mit mir abstimmen.«

»Wie du sagst, wenn es sein muss.«

Joseph lachte amüsiert. Noch! Er war ja nun fast vierzig und hielt es schon aus, mal einen ganzen Tag lang nicht an Sex zu denken. Andererseits glaubte er aber noch, allzeit bereit zu sein. Doch Sex nach Plan, sozusagen mit der Stoppuhr in der Hand, gefiel ihm nicht lange. Sex nicht aus Liebe, nicht zum beiderseitigen Vergnügen, sondern als Pflicht mit einem konkreten Ziel, befriedigte ihn nicht so wie vorher.

Die Lehre seiner ersten, reifen Geliebten, nicht nur an sich selbst zu denken, hatten sie immer beide beherzigt. Aber als es nach vielen Versuchen nicht klappte, einfach nicht klappen wollte, vielleicht nie mehr klappen würde, dachte Magda nicht mehr an ihn, auch nicht mehr an sich selbst. Nach Monaten ging es nicht mehr nur um ihre fruchtbaren Tage, nun musste es an jedem Tag sein. Kündigte er eine Dienstreise außerhalb ihrer Periode an, kamen ihr sofort die Tränen: »Du denkst ja nur noch an deine Karriere, ich bin dir doch scheißegal.«

»Bitte Magda, jetzt bist du aber ungerecht.«

Sie schluchzte auf: »D...d... du interessierst d...d...dich nicht mehr für m...m...mich.«

Sie warf sich auf die Couch. Ihr Oberkörper zuckte. Sprachlos stand er wie erstarrt neben ihr. Dann setzte er sich zu ihr und versuchte, sie zart zu streicheln. Sie schlug seine Hand weg: »B...b...bleibst d...d...du?«

»Bitte, Magda, ich muss doch meine Arbeit machen.«

»D...d...dann liebst d...d...du m...m...mich nicht mehr.«

Völlig ratlos, wie er sie beruhigen sollte, versucht er es anders: »Jetzt ist aber Schluss, Magda so können wir doch nicht miteinander umgehen.«

Sie sprang auf und stürzte hinaus.

Und dann kamen die mitleidigen, oft spöttischen Blicke ihrer Kolleginnen, Bekannten und Freundinnen. Joseph fragte einen Freund direkt: »Spricht Magda denn mit jeder darüber?«

»Mit jeder! Sie kennt nur noch dieses Thema. Du solltest, entschuldige, wenn ich das so unverblümt sage, dich mal untersuchen lassen.«

Joseph rührte fast der Schlag. Ohne nachzudenken, was er damit verriet, platzte er raus: »Aber ich habe den Fruchtbarkeitstest doch schon bestanden.«

»So, meinst du? Die Mutter ist immer sicher.«

Joseph schluckte auch das noch runter und entschied sich für die Offensive: »Wenn es einfach nicht klappt, obwohl wir zusammen schon ein Kind gezeugt haben, sollten wir uns testen lassen. Wir beide.«

Magda erwies sich als kerngesund, und zu Joseph sagte der mit ihm befreundete Arzt anerkennend: »Wenn du mal einen anderen Job brauchen würdest, könntest du als Zuchtbulle arbeiten. Du schaffst 6 Milliliter mit weit über 100 Millionen Spermien, von denen mehr als 80 Prozent leben. Das ist das beste Testergebnis in meiner Laufbahn.«

Also war alles in bester Ordnung, nur eins nicht, Magda wurde nicht schwanger.

Gold! Goldene Wände, goldene Decke, goldene, wuchtige Ledersessel mit goldfarbenen Kissen, goldener Tisch, für die 10 Gäste gedeckt mit goldenem Service und Besteck, goldfarbener Teppich. Acht Gäste, die einzeln die breite Esskabine des privaten Jumbojets von Berkel Zorbas betraten und dabei nicht ahnten, dass sie gefilmt wurden, blieben wie der Ehrengast, Superbanker Müller, dem Joseph Adam ja schon vorgestellt worden war, überrascht und tief beeindruckt in der Eingangstür stehen. Nur der letzte, Joseph, dessen Teilnahme an dieser hochrangigen Wirtschaftdelegation alle anderen überraschte, blickte für einen Moment angewidert. Als er saß, irrte sein Blick unruhig hin und her und fand endlich in den drei grünen Lampenschalen über dem Tisch und in den hellen Wolken hinter den Flugzeugfenstern einen Halt.

»Die Farben gelb, goldgelb waren in Asien alleine dem Kaiser vorbehalten«, erläuterte sein Sitznachbar, Herr von Söben, den Joseph schon von der Inbetriebnahme des ersten Windrades kannte, »sie stehen ja auch heute noch für Wärme, Sympathie, Ewigkeit, ja sogar für die Sonne, der Quelle allen Lebens.«

»In Asien schon, aber bei uns bezeichnet sie kaum einer als seine Lieblingsfarbe, uns erinnert sie auch an Gier, Neid, Ruhmsucht oder Verrat.«

»Aber wir fliegen ja nach Asien. Und dort ist gelb auch die Farbe der Männlichkeit, für deren Schöpferkraft und Weisheit.«

Joseph fiel auch noch ein, dass die Nazis den schwarz umrandeten Judenstern aus zwei gelben Dreiecken gebildet hatten, aber er lenkte ein: »Auch in unserer Kultur ist gelb mit positiven Assoziationen verbunden. Helios ist im gelben Gewand über den Himmel gefahren.«

»Eben! Aber ich verstehe Ihre Vorurteile durchaus, dieser Speiseraum überrascht mich auch. Ehrlich gesagt, die Privatsphäre unserer Großaktionäre blieb mir bisher verschlossen. Ich hätte nicht erwartet, dass sie so offen mit ihrem Reichtum protzen würden.«

Der Konzernchef dachte kurz nach: »Ich habe versucht, mich über unseren Gastgeber zu informieren. Der hat sich zwar dieses riesige Schloss gebaut und nutzt es nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten als Amtssitz, aber er soll darin eine Jurte bewohnen, sicherlich eine luxuriöse. Dieser Raum hier passt vielleicht gar nicht zu ihm. Vielleicht will er damit nur seinen Gästen imponieren.«

»Und das gelingt ihm auch.« Joseph deutet zu den anderen, die immer noch die Einrichtung bewunderten, ohne zu bemerken, dass der livrierte Kellner den Aperitif einschenken wollte.

»Kennen Sie eigentlich dessen Werdegang?«

»Ja«, antwortete Joseph, »sehr interessant!«

»Stimmt, diese Oligarchen konnten sich selbst hochkatapultieren.«

Früher hatte es Berkel Zorbas als Generaldirektor eines riesigen Kombinates für wichtig gehalten, die Meinung der Partei über den faulenden, absterbenden Kapitalismus zu verbreiten.

»Die Einführung des Privateigentums vor zehntausend Jahren war der Anfang vom Ende der Menschheit«, pflegte er zu sagen, »der Erste, der sich vor einen Acker stellte und behauptete, der wäre sein eigener, hätte gleich erschlagen werden müssen. Die Menschheit kann nur überleben, wenn wir wieder eine klassenlose Gesellschaft einführen.«

Aber dann kam die so genannte Wende auch in sein Land und mit ihr die Privatisierungswelle. Als Generaldirektor konnte er unbemerkt Geld des Kombinates auf ein Privatkonto überweisen und damit die meisten Vouchers seiner Betriebe kaufen. Als der Neustart dieser Firmen alles andere als vielversprechend verlief, waren die Arbeiter und Angestellten bald froh, wenn sie ihre Vouchers gegen geringe Erlöse versilbern konnten, und quasi über Nacht erwarb sich Zorbas mit Millionen ein Milliardenvermögen. Aber nur für kurze Zeit befriedigte ihn das, er kaufte sich Banken dazu, eine 110-Meter Yacht, diesen Jumbo Jet, und einen westeuropäischen Fußballclub, der die Champions League gewinnen sollte. Während sich Superreiche in anderen Ländern Politiker kauften, an die Macht brachten und völlig unsichtbar aus dem Hintergrund die Strippen zogen, wollte er schließlich selbst regieren. Also ließ er sich zum Präsidenten von Abestan wählen und verschaffte sich durch Reformen eine nahezu unbegrenzte Machtfülle.

 

Obwohl er deren Wirtschaftssystem übernommen hatte, verfolgten viele westeuropäische Politiker diesen rasanten Aufstieg nicht besonders wohlwollend, und deren Medien ließen meist kein gutes Haar an ihm. Deshalb hatte er sich durchaus interessiert gezeigt, als ihn sein alter Ego, der georgische Fürst, auf diesen jungen, aufsteigenden deutschen Politiker aufmerksam gemacht hatte. Das Video von dessen Auftritt nach der Wahlschlappe überzeugte ihn bereits, um so mehr aber das große Medieninteresse an der eigentlich nun unbedeutenden Partei in der außerparlamentarischen Opposition, deren Umbau Adam abgeschlossen hatte und die in Umfragen bereits wieder weit über der Fünf-Prozent-Hürde lag.

»Der steigt auf, keine Frage«, prophezeite ihm der Fürst, »denn der will aufsteigen, vielleicht um jeden Preis. Wer ihn jetzt protegiert, sichert sich für immer seine Dienste. Wenn er nach der nächsten Wahl Minister werden würde, hättest du mit ihm ein wichtiges Standbein in Deutschland und damit auch in der EU.«

»Na, nun aber langsam mit den jungen Pferden. Wenn ich dich richtig verstanden habe, müsste sich seine Partei noch sehr verändern, bevor der Minister werden könnte.«

»Kein Problem für den, das kriegt der hin. Lade ihn doch mal ein, dann kannst du ihn persönlich kennenlernen.«

Zorbas zögerte kurz und wechselte plötzlich das Thema: »Dessen Partei ist doch auch von Atomkraftgegnern gegründet worden. Interessiert die sich eigentlich für den Klimawandel?«

Der Fürst wunderte sich über diese unerwartete Frage. Aber er hakte nicht nach, sondern antwortete:

»Die redet davon, wie andere auch.«

»Und er persönlich?«

»Ich habe gehört, dass er ihn ernster nehmen würde. Manche sollen ihn deshalb sogar schon ausgelacht haben.«

»So! Interessant. Ich kann es ja mal mit ihm versuchen.«

»Lade ihn aber nicht direkt ein, das würde seine Partei noch überfordern. Wenn er im Rahmen einer deutschen Delegation kommen könnte, würde das nicht so auffallen.«

»Der hätte den Kanzler doch schon früher mit Wirtschaftsbossen begleitet, sagtest du, dann lade ich ihn eben mit denen ein. Ich will mit den Deutschen sowieso ins Geschäft kommen.«

»Mach das, das wäre besser.«

Die Delegierten wurden direkt am Flugzeug mit schneeweißen, fast 10 Meter langen Lincoln Town Cars abgeholt und in diesen von bildhübschen Bediensteten empfangen, die perfekt deutsch sprachen und nach dem anstrengenden langen Flug Fingerfood und Champagner anboten. Durch die dunkel getönten Fensterscheiben konnte von außen kein Einheimischer einen Blick auf die illustren Gäste werfen. Innen lief auf Bildschirmen ein Film über den geplanten Neuaufbau des Landes. Eine neue Hauptstadt, in der einmal 100 Millionen Abestaner wohnen würden, sollte errichtet werden, riesige Dämme die Flüsse anstauen, um das karge Land mit Wasser und Energie zu versorgen, und mit gewaltigen Industrieanlagen sollte danach der Agrarstaat und Rohstofflieferant in eine Supermacht verwandelt werden. Blickte Joseph Adam nach außen, war davon noch nichts zu erahnen. Die jetzige Hauptstadt wirkte halb zerfallen, öde die kleinen Dörfer und weiten Ebenen, auf denen Schafe weideten und noch keine Baukräne standen. Aber nur ihm fiel dieser krasse Gegensatz zum Film auf. Alle anderen waren von den angekündigten Milliardeninvestitionen noch faszinierter als von dem goldenen Speiseraum. Der Präsident wollte sein Land in die Neuzeit katapultieren! Aufträge winkten, Aufträge in Dimensionen, die sogar für den Superbanker Müller neu und noch nicht vorstellbar waren.

Die holprige Straße wurde plötzlich asphaltiert und eben, sie ging in eine Allee mit jungen Bäumen über, an deren Ende die Türme und Kuppeln des Palastes zu erkennen waren. Jeder Gast, auch Joseph, wusste, dass der 366 Zimmer besaß, für jeden Tag des Jahres eins, denn Zorbas war an einem 29. Februar geboren worden. In dem weitläufigen Park vor dem Palast zeugten eingefriedete Gehege von der skurrilen Leidenschaft des Besitzers, er wollte vom Aussterben bedrohte Arten retten, insbesondere die in der Natur selten gewordenen Amurtiger und -leoparden. Die Tiger wurden gerade gefüttert und jagten hinter Kadavern her, die an Seilen mit hoher Geschwindigkeit durch das Gehege gezogen wurden.

Die Creme der deutschen Wirtschaft war es gewohnt, dass ihr der Hausherr bereits am Eingang entgegenkam. Doch Zorbas ließ sie erst einmal in der riesigen Audienzhalle warten, in der ihm schon Hunderte Anhänger gehuldigt hatten. Bögen, die aus vergoldeten und bemalten Marmorpfeilern emporstiegen, teilten die Halle in kleinere Bereiche und erinnerten den Kenner sofort an einen weltberühmten indischen Empfangssaal. Und wie in diesem war die Decke mit Gold und Silber eingelegt und auf einem Marmorpodium stand ein mit Edelsteinintarsien verzierter Thron für den Herrscher, dessen Arbeitsbereich durch ein goldenes Geländer vor den Untertanen geschützt wurde.

Den Gästen blieb nicht genügend Zeit, alle Details der prunkvollen Halle zu betrachten, denn nun ließ sich der Präsident wegen dringender Staatsangelegenheiten entschuldigen. Als sein Beauftragter begrüßte sie der Wirtschaftsminister, ohne anscheinend ihre Verärgerung wahrzunehmen. Ohne Umschweife sprach er über das riesige Investitionsprogramm Abestans, das auch den deutschen Unternehmen und Banken große Chancen bieten würde, und da leuchteten die Augen der Gäste wieder auf.

Alle nahmen verständnisvoll zur Kenntnis, dass der Superbanker aus dem Saal gebeten wurde, aber dass ihm wenig später Joseph Adam folgen musste, verwunderte sie schon. Nicht zu den bekannten Palastsuiten, über deren luxuriöse Ausstattung auch in deutschen Zeitungen orakelt wurde, ohne dass je ein Foto von denen gezeigt werden konnte, wurde Joseph geführt, sondern geradewegs zu dem Tigergelände, in dessen Mitte ein großer Teich mit einer überdachten Insel zu erkennen war. Kurz vor der Einfriedung ging der Fußweg durch einen mit Marmor verkleideten Torbogen hinunter in einen Tunnel zur Insel. Die weißen Wände waren mit Bildern von riesigen Welsen, Amurkarpfen und Zandern bemalt.

Joseph schritt ein Welsbild ab und sagte: »Etwa drei Meter.«

»Exakt 2,82 Meter«, präzisierte der Bedienstete.

»Toll!«, betonte Joseph spöttisch.

Aber dann begann an einer Wandseite unterhalb des Wasserspiegels eine hohe Glasfront, die sich entlang einer breiten, mit Pflanzen bewachsenen Bucht bis zur Insel erstreckte. Neben auf dem Grund befestigten Baumstämmen, unter denen sich Raubfische verstecken konnten, schwammen Schwärme von Friedfischen. Und auf die lauerte der Wels, so riesig groß, als wäre er gerade aus dem Bild gekommen. Joseph riss seine Augen weit auf.

»2,82 Meter lang, 130 Kilogramm schwer«, bekräftigte der Führer, »bei der letzten Messung.«

Die Maße für den folgenden Zander: »1,30 Meter, 20 Kilogramm«, und Karpfen: »1,40 Meter, 60 Kilogramm«, bezweifelte Joseph bereits nicht mehr.

Aber er fragte: »Ihr Land zieht ja viele Anglertouristen an. Ist Ihr Präsident auch ein großer Angler, etwa wie Hemingway einer war?«

»Nein, er taucht gerne.« Die Stimme des Dieners signalisierte, dass er nicht über seinen Herrn sprechen wollte, und Joseph stellte ihm keine weitere Frage.

Die von außen massiv wirkende Inselüberdachung war von innen durchsichtig. In der Inselmitte stand eine Luxusjurte, an den Rändern mehrere kleinere. Ein breites Fenster der großen Jurte gab den Blick frei auf den Teich und auf die jagenden Tiger. Dahinter standen zwei Männer, die sich, als sich Joseph Adam näherte, zum Eingang begaben.

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