Die Weltzeituhr

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Zeitansage, 2. und 3. Jahr

24. Oktober: Als die Jobber und Clubmitglieder der New Yorker Börse am Abend ihre Geschäftsbücher prüften, gab es nichts zu summieren, sondern nur ungeheuer viel zu subtrahieren. Ei, verflucht: Schon bald nach Eröffnung der Corbeille waren bislang hochbegehrte Wertpapiere und Garanten der Weltwirtschaftsblüte hingeblättert worden wie Herbstlaub. Schwindelerregende Verkaufsaufträge und Baisse-Angriffe hatten zur vorsorglichen Verstärkung der Sicherheitswachen geführt. Mit Entsetzen beobachteten die Finanzmänner das Dahinschwinden des Aktienkapitals von General Motors, Radio- und United Steel Corporation. Der Ticker karikierte maschinelle Überproduktion, indem er endlose Zahlenschlangen ausspie und inflationär machte. Trotz blitzflinker Kursnotierungen verzögerten sich seine Kundeninformationen über die Marktlage immer mehr, bis der Rückstand zwei Stunden betrug und für nahezu jede Minute Rekordverluste von einigen Millionen Dollar auswies. Panik, Nervenzusammenbrüche, Raserei! Doch, Herrschaften, liebet einander! Infolge des raschen transatlantischen Absaufens von fünfzehn Milliarden Dollar breiteten sich die Wogen der Verzweiflung auch auf europäische Großbanken und Handelshäuser aus. „Nur einer kann uns retten“, sagten die christlichen Geldsäcke im Deutschen Reich, und am lautesten sagte es der „Retter“ selbst.

Im nächsten Spätsommer, 10. September: Die versammelten Leute im Berliner Sportpalast erwarteten weder Eishockeyspiel, Boxkampf noch Sechs-Tage-Rennen, sondern die Wundershow der Schowis. Violette Wandbespannungen, „Heiligen“-Bilder und gedämpfte Lichteffekte schufen eine Stimmung wie vor katholischem Messopfer oder theatralischer Gralsfeier. Mit einem Male flammten Jupiterlampen auf. Fahnenschwenken, Trommelwirbel und Fanfaren kündigten die närrische Hauptattraktion des Münchener Zirkus Krone an, den Boss Ahi, der im Redesport innerhalb einer Woche den Rekord von zwanzig dreistündigen Lall-Monologen aufgestellt hatte. Nach bejubeltem, forschem Erscheinen legte der Kehlkopfathlet seinen Feldherrnmantel ab und grüßte, wobei er die rechte Hand wie eine Fliegenklatsche schlenkerte. Dann feuerte er aus dem Terzerol einen Schuss ab und trat ans Mikrofon. Mit rau-gutturaler Stimme rief er: „Elendes Gesocks!“ – Am folgenden Morgen berichtete die nationale Presse, jede Losung sei mit „stürmischem Beifall“ bedacht worden. In der Tat beklatschte das Publikum die staunenswerte Begabung des Bosses, stundenlang Spruch an Spruch zu reihen und heilig-nichtssagend die Üppigkeit seines „Genies“ darzutun. Wie ein Hypnotiseur wiederholte er eindringliche Formeln: Schandbares Unrecht sei einem Volke geschehen. Schandbuben und vaterlandslose Verbrecher hätten die Ehre des Volkes verkauft. Wie ein Mann aufstehen müsse das Volk gegen „schurkische Ehrabschneider, Weltverjudung und bolschewistische Versauung“. Während Ahi diese Reizworte in die Menge schleuderte, trommelte er mit den Fäusten aufs Pult und gelangte auf einen Höhepunkt. „Attacke!“, brüllte er unvermittelt. „Zickezacke, Heil!“, schrien die Schowis im Chor. „Attacke – Zickezacke!“ Dreimal reproduzierte sich das erprobte rituelle Responsorium, in dem die Getreuen eine Weltkriegsreminiszenz des Erretters oder einen hochkünstlerischen Raptus vermuteten. – Kurze Verschnaufpause! In dem Bewusstsein, dass er sich an eine gebildete, poesie- und philosophiekundige Nation wandte, schmückte der Boss sein Marathon-Kolleg nun mit dichterischen Redeblumen aus. Unerschrocken charakterisierte er die „Kulturkotze“ der bestehenden Republik. Was denn die sogenannten Stars und Intelligenzfatzken des verkommenen Novembersystems vorzuweisen hätten? Nichts als Schweinereien! Stinkenden Romanrotz, üble Nuttendramen und hinterfotzige literarische Gemeinheiten über edelrassige Frauen und Familien. Das müsse anders werden, tobte Ahi und stampfte mit den Füßen. In einer von ihm geführten Regierung würden die Deutschen keine rechtlosen Hottentotten mehr sein, sondern Kämpfer. Infolge der Notwendigkeit kämpferischer Lebensbehauptung gäbe es keinen Unterschied zwischen Krieg und Frieden. Eiskalt müsse ein Revolutionstribunal Köpfe rollen lassen und unwertes Leben zum Gnadentod bestimmen. „Ausrotten!“, grölte er. „Attacke!“ – Vier Tage später wählten achtzehn Prozent des Volkes das verheißene Heil.

Der liebe Gott hat gepetzt

Während Guido auf dem Wallachsofa schaukelte, versuchte die Mutter, ihn für Lebensreize und die psychologische „Einübungstheorie“ zu gewinnen. Mit einschmeichelnden Worten reichte sie ihm Gummiring, Klapper, Klötzchen und Puppe, damit er sich sinnvoll beschäftige. Er nahm das Spielzeug behutsam von der linken in die rechte Hand und warf es nacheinander über die Lehne auf den Boden. Dada flog ins Dada und bestätigte den ersten Grundsatz der Thermodynamik. – Frau Dagmar hob die misshandelten Gegenstände liebevoll auf, streichelte sie und präsentierte sie erneut. Doch jedes Mal beförderte der Knabe das Dargebotene ungerührt und krachend zurück ins Nichtsein. Erledigt! Nun offerierte sie ihm ein Bilderbuch und zwei Münzen mit silbernen Reichsadlern. Scheinbar überrascht schaute Guido auf und prüfte Barschaft und Album. Dann verurteilte er alles zum freien Fall in die Zero-Tiefe. Ein unheimliches Benehmen! Offenbar übte er den Umgang mit der Dingwelt, indem er sie degradierte.

Theo fand das in Hinblick auf eine gewisse Philosophie sehr klug: Ob denn das kindliche Tun nicht genau das symbolisiere, was gescheite Erwachsene heute über das Dasein dächten? Die Mutter hingegen meinte, niemand könne es sich gegenwärtig leisten, Geld in die Gosse zu schütten. Um des Weiterlebens willen müsse man die sogenannte Wegwerfwelt wenigstens mit der Gier auf Neues betrachten. – Selten hatte sie ihren Mann derart unmanierlich lachen sehen.

Wenige Tage später erlebte sie jedoch die Genugtuung, dass sich Guido durchaus für seine Umwelt interessierte, und zwar auf dem Umweg über die Sprache. Da sich bestimmte Objekte beim besten Willen nicht wegschieben, bestimmte Antworten nicht schadlos verweigern ließen, begann er allmählich, über das universelle Dada-Hoheitsgebiet hinaus Bezeichnungen zu erfragen. Immerhin schien es nützlich zu sein, das eigene Subjekt, vertraute und fremde Personen, Auffälliges und Erwünschtes benennen zu können. Durch Fingerzeige und forschend-forderndes „Was?“ bemächtigte er sich zunächst einer Hundertschaft von Hauptwörtern, wodurch diese überraschend ihre Hauptsächlichkeit einbüßten und Dienst tun mussten in seinem Sprachgebäude. Er brauchte sie nur zu rufen, und sogleich bewies ihr promptes Erscheinen eine ihm rätselhaft verliehene Vollmacht. Das war komisch und verführerisch zugleich. Lange glaubte er an das fantastische Einerlei von Worten und Wesenheit, weshalb er recht viele Begriffe zu ergreifen suchte.

Die Sprachleine erwies sich auch als Orientierungshilfe, als er erste, torkelnde Schritte durch das Zimmerlabyrinth wagte. Auf An- und Notrufe kam jedes Mal ein beruhigendes, unterrichtendes Echo. Im Seemannsgang und bald in ekstatischem Tanz bewegte sich Guido an Stubenkulissen vorbei und in Möbelhöhen, um die dritte Dimension zu erkunden. Er drang buchstäblich vor bis zum Grunde des Hausrats. Geschwind wie ein Dieb räumte er Schubladen, Regale und Schrankfächer aus und fand enttäuschend begrenzte Leere. Papierkörbe und Mülleimer leerte er; Blumenvasen kippte er um; aus Kissen schüttete er Eiderdaunen; Bücherbände ließ er kurzweilig herunterpurzeln von Borden, deren Höhlen zum Hineinkauern und meditativen Studium des Nichts verlockten.

Da Frau Dagmar die lebhafte Praktizierung der Einübungstheorie und die Neuverteilung des Wohnungsinventars selten rechtzeitig gewahrte, bemühte sie sich, das Erkenntnisstreben ihres Sohnes zu zügeln, indem sie ihm das Märchen vom lieben Gott erzählte, der alles sehe. Guido erkundigte sich nach dem Aufenthaltsort des unerwarteten Aufpassers. „Ist er da drin? Oder dort?“ Obwohl der Himmelschef (nach Auskunft der Mutter) auf Erden ungefähr so herumflog wie Licht und Wind und aus Zimmerwinkeln duftete wie Dr. Möglichs Zigarrenrauch, vermutete der Knabe, dass sich Gott vor allem in jenem hochnäsigen, goldgelben Brummkreiselkopf über der Buchwand verberge. „Aber das ist doch Goethe!“, bemerkte Mama amüsiert. „Wenn dein Vater ein dickes Buch schreibt, baut man ihm vielleicht auch so ein Denkmal.“

Schon am nächsten Tag gelang es Guido, mittels Tisch und Sessellehne zum geheimnisvollen Aussichtsbrett emporzuklimmen und sich in schwindelfreiem Balanceakt dem glänzenden Haupt zu nähern. Hier oben konnte der heilige Spion nicht beiseite gucken, weshalb es glücken musste, ihm ein Taschentuch über die Augen zu werfen. Doch im letzten Moment passierte ein Malheur. – Als die Mutter den schweren Bronzegong hörte und alarmiert herbeilief, rief ihr das Büblein kleinlaut entgegen: „Ja, ja, nun hat dir der liebe Gott gepetzt, dass ich ‚Töte‘ runtergeschmissen hab.“

Die Regierung mit Gottes Hilfe bewährte sich nur vorübergehend, denn zu Beginn des dritten Lebensjahres machte Guido zunehmend Souveränitätsansprüche geltend. Hatte er bisher von sich gleichmütig in der dritten Person gesprochen, so übersprang er jetzt den zweiten Rang und definierte sich entschlossen als Ersten und Einzigartigen. Stolz entdeckte er sein Ich mit Ellbogen und dem Drang, anderes Ich zu verdrängen und zu bezwingen. Gewiss wusste er noch nicht immer, wo die Grenzlinien des Ichs lagen, aber genau wusste er, dass er das Wollen wollte und die Bekräftigung der absoluten Freiheit des Willens. Darum sagte er grundsätzlich zu allem nein, was nicht seinem eigenen Entschluss entsprang, und zwar sowohl zu anmaßenden Ess- und Schlafaufforderungen der Erwachsenen wie zu unerbetenen Zärtlichkeiten oder Naschgaben.

 

Um Begehrtes zu erlangen, Lästiges abzuwehren und Elternenergien durch seinen kapriziösen Willen zu blocken, bediente er sich einer probaten Methode. Falls die Mutter beispielsweise das schandbare Unrecht beging, den ihm zustehenden viertelpfündigen Schokolade-Tagestribut zu verweigern, oder nicht daran dachte, die Mahlzeiten den Erfordernissen seiner Spielpassion anzupassen, holte er tief Luft, und dann brüllte er los. Mit puterrotem Kopf schrillte er abwechselnd wie Gellflöte und Dudelsack, setzte das Schlagzeug der trommelnden Fäuste und stampfenden Füße in Bewegung und erreichte binnen Kurzem die respektable Lautstärke von achtzig Dezibel. Zur Unterstreichung seines sakralen Zorns biss er in den Teppich; jede Aufrichtung verhinderte er, indem er sich versteifte wie eine Gipsfigur. Oh, wie genoss er es, wenn Frau Dagmar ihn durch törichte Popoklapse oder gutes Zureden zur Räson zu bringen versuchte! Wie beseligend fand er ihre sanften Trost- und Begütigungssprüche, die ihn schließlich dazu bewogen, wieder „lieb“ zu sein! Infolge der Effektivität unterzog sich Guido der Mühe, den Trotztrick täglich bis zu dreißigmal zu produzieren.

Ungefähr nach fünf Wochen geruhte der Diktator, sich das eigene Schauspiel mal mit verteilten Rollen anzusehen. Er inszenierte folgenden Auftritt: „Mama, jetzt musst du sagen, dass du Kuchen essen willst.“ – „Ich habe gar keinen Hunger.“ – „Du sollst aber!“ – „Na schön, ich möchte Kuchen haben.“ – „Den kannst du nicht kriegen, verdirbst dir den Magen, es gibt gleich Mittagbrot.“ (Soufflierend:) „Nun musst du schreien und trampeln und aufn Tisch hauen, damit du doch kriegst.“

Frau Dagmar stutzte; parodistisch plärrte und lärmte sie. Der Bengel quiekte vor Vergnügen!

Leider verlor das Böckchendrama seitdem an Reiz. Die Eltern waren nämlich plötzlich so gemein, Konflikte zu vermeiden, indem sie mehrere Entscheidungen zur Wahl stellten und Wutanfälle gänzlich unbeachtet ließen. Welche Demütigung, nicht mehr alles wollen zu dürfen und sich aus Verbannungen brav in die Familiengunst zurückschleichen zu müssen!

Derartige Erlebnisse tragischer Vereinsamung führten dazu, dass Guido allmählich eine Welt nach seinem Wunsche schuf. Er bemerkte die überraschende Vielförmigkeit von Klötzen und Stöcken, die sich wispernd als Häuser, Bäume oder Wagen anboten und gleichzeitig wie Menschen redeten. Noch mehr gefiel es ihm, sich selbst zu verwandeln und mit Illusionen zu umgeben.

Unermüdlich unterhielt er sich mit „Daus“, einem Allzweckwesen, dessen Transformationen sämtliche Gesetze der Physik und Biologie außer Kraft setzten. Daus konnte zum Beispiel als fächerflossige Grunzgroppe in Papierschnipselgestalt durch das Wasser der Luft schwimmen und im Winter als Dampfvogel aus dem Mund flattern. Manchmal glich er einem Schopfgibbon, der sich an der Mittagstafel rekelte und viel ausgeschimpft werden musste, weil er ungezogen schmatzte, manschte und kleckerte. Ein andermal hopste er (stellvertretend für seinen untadeligen Herrn) mit schmutzigen Schuhen auf dem Sofa herum, oder er wusste die Angehörigen zu erfreuen, indem er Schlüssellöcher mit Brotkrümel verkleisterte und unpikierte Salatpflanzen zu Blumensträußen bündelte. Außerdem erfüllte Daus wichtige Beschützerfunktionen. Aus der Steckdose vermochte er, Funken zu sprühen wie eine Wunderkerze und Guidos Widersacher furchtbar mit „Totmachen“ zu bedrohen. Schließlich schwebte der hilfreiche Geist allnächtlich als undurchdringlicher achtäugiger Regenschirm über dem Bett des Schläfers.

Nach dem Erwachen stand der treue Begleiter sofort wieder zu Diensten. Er tat schön vor dem blondbeschopften Gebieter, den es heute danach gelüstete, aus tschibukartiger Strohhalmpfeife zu schmauchen, pantomimisch imaginäre Lakritze-Luftbonbons zu verspeisen und sich selbst in Luft aufzulösen. Während die Mutter rufend suchte, lief der zaubermächtige Knabe stundenlang mit Tarnkappe durch die Wohnräume, leise kichernd, himmlisch-heimlich und unsichtbar.

Nun lebte Frau Dagmar periodisch mit zwei Nichtexistierenden oder Versteckspielern zusammen, denn seit einigen Wochen sah sie auch Theo nur noch zu den Mahlzeiten. Wenn sie ihm die jüngsten Schelmenstückchen des Söhnchens schilderte, mimte er beiläufig Interesse, aber sie gewahrte, dass er weder auf die Kinderspäße achtgab noch auf ihre zarte Einladung, sich wieder mal „was Hübsches“ zu gönnen. „So?!“, sagte er abwesend. „Um sich die Lippen nass zu machen, muss man nicht küssen.“ Eilig entschwand er ins Arbeitszimmer.

Früher hatte sie geglaubt, seine desillusionierenden Reden bedeuteten eine Schutzreaktion gegenüber gefühlsmäßiger Ergriffenheit. Es konnte doch nur ein Medizinerulk und nicht sein Ernst sein, die Liebe als „vernunftwidrigen Fortpflanzungsmechanismus“ und „schlimme Krankheit“ zu bezeichnen, ausgelöst durch „liederliche“ innersekretorische Vorgänge beim Anblick sexueller Reizzonen! Aber neuerdings zweifelte sie bisweilen an seiner seelischen Empfindungsfähigkeit und der Bereitschaft, erotische Vergeistigungen anzuerkennen. Ob er etwa mit der laxen zeitgenössischen Moral übereinstimmte, mit dem Zeitungsgeschwätz vom Revisionsbedürfnis der Ehe und Kult des Nackten? Ob es gewagt gewesen war, diesen nahezu zwanzig Jahre älteren Mann zu heiraten?

Seltsame Grübeleien! Als sie ihn am Sonntagabend besorgt auszuhorchen versuchte, berichtete er zunächst ausweichend von einem sensationellen Artikel im Fachblatt. „Kürzlich“, sagte er, „wurde ein junger Assistenzarzt aus der Provinz entscheidend angeregt durch den Aphorismus: ‚Der sicherste Weg zum Herzen einer Frau geht durch die Vagina‘“ „Eine sehr virile Marginalie“, meinte sie.

„Bitte schön: Mein Kollege hielt Ausschau nach einem vergleichbaren schwarzen Kanal in seinen eigenen Innereien und erinnerte sich an die blauen, dünnwandigen Blutbahnschläuche. Kurz entschlossen anästhesierte er eines Tages seine linke Ellenbeuge, rief ‚Vena cephalica, öffne dich!‘ und schob einen geölten Katheter in Stromrichtung aufwärts: bis zum Schlüsselbein und dann, unter Selbstkontrolle vor dem Röntgenschirm, durch die obere Hohlader in die rechte Herzkammer.

Toll, nicht wahr?“

„Ja, gewiss! Und warum erzählst du mir das?“

Er blickte sie halb erstaunt, halb spöttisch an. „Gedenke des Alters“, antwortete er leise. „Vielleicht ergibt sich mal die Notwendigkeit, ein tugendsames Herz in beschriebener Weise mit Traubenzuckerbalsam beträufeln und auffrischen zu müssen. Im Übrigen hoffte ich, meine Probleme würden dich interessieren.“

„Wieso: deine Probleme. Hast du einen ähnlich gefahrvollen Unsinn vor?“

„Wie dürfte ich es wagen, mein Schatz! Trotz gelegentlicher Unaufmerksamkeit verstand ich, dass dir der liebe Gott vieles petzt.“

Sie lachte und fühlte sich ein bisschen durchschaut. Doch er missdeutete ihr Lachen und Fragen als Zeichen eines heiter-verblüffenden Mitwissens um seine geheimsten Ideen, weshalb er nach kurzer Pause erklärte: „Du kannst schon recht haben mit deinen Befürchtungen. Ich gäbe etwas darum, wenn ich ebenso verrückt zu experimentieren vermöchte wie der Mann aus der Provinz und etwas fände, was das Leben sinnvoller macht. Vermutlich müsste man es zu verlängern suchen. Wie? Das weiß ich noch nicht, obwohl bestimmt nicht durch Injektionen von Stierhodenhäckerle.“

„Um Himmels willen! Daran hast du gedacht?“

„Nein, nein! Ich wünschte mir nur genug Zeit zum Lesen und Überlegen. Der kleine Sprechstundenalltag befriedigt mich nicht mehr. Am liebsten hielte ich Sprechstunden ab für die ganze Welt, die heute dringend einen Herz-Arzt braucht.“

Inspektion des Universums

Mehrmals hatte er inständig darum gebeten, man möge ihn in Ruhe lassen. Doch da er ein berühmter Erfinder, Entdecker und Prophet war, glaubte die Öffentlichkeit, ein Recht auf sein Privatleben zu besitzen.

Als er eine Woche später in der stillen Schiffskabine der „Bergenland“ an die turbulenten Tage in der Metropole New York zurückdachte, standen ihm noch immer die gottlob unskalpiert gebliebenen Haare zu Berge. Ojemine, wie aufregend verlief die unscheinbare Erholungsreise eines Naturforschers!

Fürchterliche Erinnerung an Autogrammstunden, Empfänge, Reden an die Nation, Opernbesuche und Stadtrundfahrten. Menschengetümmel wie beim Triumphzug von Old Washington nach der Schlacht von Yorktown. Überall ein spürbares indiskretes Interesse, vermischt mit Sensationslust, weshalb es ihm Spaß machte, dass seine „alte Dame“ mit sichtbehinderndem Sombrero neben ihm thronte. Um die Bewunderer nicht zu enttäuschen, hatte er artistisch seinen schwarzen Filzhut in die Luft geworfen und jauchzend gedankt für Blumengeschosse, die ihm hart ums Haupt schwirrten. – Dann sein unbändiges Gelächter vorm steinernen Ebenbild und Reliefdenkmal an der Riverside-Kirche, wo ihn die Leute umdrängten wie einen Heiligen. Am liebsten hätten sie ihm wohl die bauschige, graumelierte Mähne ausgezupft und ins Reliquiar getragen wie seine ausgetretenen Schuhe, die ihn künftig in der „Halle des Ruhmes“ vertreten sollten.

Am schlimmsten trieben es die Publizisten, Bildreporter und Werbeagenten. Bis zu zwanzigtausend Dollar hatten ihm die verrückten Reklamechefs geboten für zehn Worte über seinen bevorzugten Whisky, Instant-Coffee, Tabak, Bubble-Gum, Deo-Spray oder Rasiercreme. Ungläubiges Staunen, als er seine unzivilisierte Geringschätzung für Bucks und „all diese Dinge“ bekundete. – Schließlich die Massenmeetings und Pressekonferenzen!

Frage: „Wie beurteilen Sie die Deutschen?“

Antwort: „Drollige Leute! Obwohl sie mich für eine stinkende Blume halten, stecken sie mich gerne ins Knopfloch.“

Frage: „Wie ernst nehmen Sie die Drohung der Schowis, beim Machtantritt verhasste Köpfe rollen zu lassen?“

Antwort: „Vorwiegend heiter. Sobald sich Deutschlands Magen füllt, dürften sich die Kassen des Bosses leeren. Ansonsten würde man binnen Kurzem wissen, wie viel mein Gehirn wiegt.“

Frage: „Rechnen Sie demnächst mit einem neuen Krieg?“

Antwort: „Nein. Falls nur zwei Prozent der Wehrpflichtigen die ‚Pflicht‘ verweigerten, besäße keine Regierung genügend Gefängnisse für das Heer der Friedensfreunde.“

Und so weiter und so fort! Meistens verzapften die Interviewer interrogativ Blödsinn, weshalb sie seine Foppereien nicht verstanden und auch nicht die Gegenfrage: „Warum lebt man?“ Heiter-hintergründig erklärte er ihnen: „Um Menschen zu erquicken, von deren Wohlergehen das eigene Glück abhängt.“

Nun fuhr der große Mann (dessen Längenausdehnung im unbeschleunigten Erdsystem allmorgendlich 176 Pariser Zentimeter betrug) als Zeitflüchtling in den Frieden maritimer und kalifornischer Entlegenheit hinein. Bald würde er ungestört den Garten Amerikas und die Wunder des Alls betrachten können. Trotz halber Kontinentumschiffung veränderten sich die Horizonte wenig. Es gab Ausblicke auf das Karibische Meer, auf grüne Küsten, die Bai von Habana mit Palmen und Lorbeerbäumen, die sechs Schleusen des Panamakanals und den ewigen Schnee der Sierra Madre. Als sich die Reisenden Ende Dezember bei Santa Margarita über den Wendekreis des Krebses bewegten, begannen die Wasser des Stillen Ozeans plötzlich zu brodeln. Wie dampfende Kessel oder sprühende Riesentorpedos schwammen hintereinander fünf Dutzend Wale vorüber, die sich auf dem Wege ins Mexikanische Sommerrevier befanden.

Nach knapp zwei Wochen lief der königlich-belgische Schnelldampfer „Bergenland“ in den Zielhafen von San Diego ein. Dort lag einst ein Stück Wilder Westen, und der naturliebende Passagier freute sich auf die provinzielle Stille. In Begleitung von Frau Elsa ging er beschwingt über den Laufsteg an Land.

Da bliesen Trompeter einen Tusch. Im Chor rief es: „Salut für den famosen Professor Einstein!“ Viel Volk strömte herzu. Stadtväter überreichten dem Hohepriester der Wissenschaft Chrysanthemen und einen Begrüßungstrunk. Mit der finsteren Entschlossenheit von Kannibalen umringten ihn Journalisten, die ihre Mikrofone wie Schlagstöcke unter seine Nase schoben und ihn zur Rede stellten.

Stimmengewirr: „Wie gefallen Ihnen die ‚Staaten‘? Lieben Sie Coca, Blues, Lumberjack? Vielleicht einen bestimmten Frauentyp? Was halten Sie von Blondie und Cinema? Finden Sie Berühmtsein schön? Gibt es einen lieben Gott? Erklären Sie bitte in einem Satz die Relativitätstheorie!“

Während die „alte Dame“ erschrocken konstatierte: „Nun sind wir aus dem Wolkenguss in den Wasserfall gekommen“, holte Einstein bekümmert seine Geige aus dem Kasten: Auf dem sonnigen pazifischen Pier spielte er seine Violinpartie aus der Kleinen Nachtmusik.

 

In einer reservierten Ford-Limousine fuhren die Gäste eilig weiter nach Los Angeles, wo sie im Vorort Pasadena in einem hübschen Bungalow Wohnung nahmen. Obwohl der Gelehrte seit mehr als zwei Lustren überall ungewöhnliches Aufsehen erregte, fühlte er sich durch das Gegaffe noch immer stark belästigt. Andererseits sah er nicht ein, weshalb er sich irgendwelche Zurückhaltung auferlegen sollte, ja manchmal verstärkte er schelmisch die öffentliche Aufmerksamkeit. Zum Beispiel lud er im modernen Selbstbedienungsladen kiloweise frische Erdbeeren und Honiggläser ins Einkaufswägelchen, oder er spazierte in Shirt und Leinenhose durch die Straßen und leckte ungeniert an Eiswaffeln. „Ich stehe Modell“, sagte er.

Bereits am zweiten Tage des Aufenthalts rollte er im Caltech-Chevrolet auf langer, gewundener Chaussee ins gebirgige Amphitheater hinauf, um sich in 1 700 Meter Höhe das größte Spiegel-Schauspiel der Erde anzugucken. Die Mitarbeiter des Mount-Wilson-Observatoriums empfingen den prominenten Ankömmling sehr respektvoll. Dieser schon mit fünfzig Jahren legendenumwobene Mann war für die meisten von ihnen gleichsam ein verkörpertes Energie-Gesetz, der spekulative Weltgeist in Person, und einige Verehrer fürchteten, dass sie seinen wissenden Blick nicht zu ertragen vermöchten. Auch der Chefastronom hatte ein wenig Lampenfieber, doch in Gedanken an ein erprobtes Besuchsprogramm blieb er äußerlich ruhig. So schlug er gleich nach dem Begrüßungszeremoniell einen Rundgang durch die technischen und wissenschaftlichen Einrichtungen des Instituts vor.

Überraschend antwortete Einstein: „Wozu? Das Sichtbare kann ich mir denken. Erzählen Sie mir lieber vom Unsichtbaren, wobei wir vielleicht wie chinesische Mönche ein bisschen Tee süffeln sollten.“

Im Studierzimmer holte der Gast eine quirllange Tschibukpfeife hervor, ohne sie anzurauchen. Der Himmelsforscher bemerkte erfreut ein gemeinsames „Laster“, zückte seinerseits eine Shagpfeife und bot „prima Virginia-Tabak“ an. Aber Einstein schüttelte den Kopf. „Ich darf nur noch am Mundstück nuckeln wie ein Säugling“, erklärte er mit sanfter, zarter Stimme. „Seit dem Kreislaufkollaps von Anno 28, bei dem ich beinahe abnippelte, überwacht mein Weib peinlich die Einhaltung eines gewissen ärztlichen Gebots. Dankenswert, nicht wahr? Nun werde ich sicher noch die Anerkennung meiner fraulicherseits geschätzten Leistungen als Öffner diverser Konservenbüchsen erleben, denn bisher habe ich mich leider nur als Physiker halbwegs durchgesetzt.“

Der Astronom lachte und sah wohlgefällig zu, wie die Sekretärin den Tee servierte. Vom Nachbartisch holte er einen Stapel charakteristischer Spiralnebelfotos herüber. Da sagte der Besucher unvermittelt: „Der gekrümmte Raum?“

Ein Weilchen schwieg er, weshalb sich der Sternkenner angesprochen fühlte und eine vorsichtige Mitteilung versuchte. „Wir haben uns sehr bemüht, den von der Allgemeinen Relativitätstheorie postulierten kurvenartigen Flug des Lichts im Weltall zu erweisen. Doch es ist ungeheuer schwierig, in den bis jetzt überschaubaren himmlischen Bereichen sphärische und euklidische Geometrie zu unterscheiden. Trotz der Genialität Ihrer Vorstellung von den in Gravitationsfeldern gebeugten Lichtstrahlen, die nach einer Rundreise von fünfzig Milliarden Erdjahren zum Ausgangspunkt zurückkehren sollen, scheinen unsere jüngsten Beobachtungen auf eine andere Struktur hinzudeuten. Könnten wir nur erkennen, was in den fernsten Fernen liegt!“

Einstein antwortete nicht, sondern rührte nachdenklich mit dem Löffel in der Teetasse. – Der Astronom wagte keine Störung der ehrfurchtgebietenden Meditation des Gastes, der die hohe Stirn runzelte und mit großen, rehbraunen Augen auf das dampfende Getränk starrte. Seltsam, wie sein bauschiger, silbersträhniger Haarkranz das unausgeprägte Hinterhaupt kaschierte. Plötzlich verkündete der Gelehrte mit verschmitztem Gesichtsausdruck: „Wunderbar, wie die Reibung am Tassenrand den Wirbel bremst und die Teekrümel akkurat in die Mitte des Heißwasserspiegels strudelt!“

Während der Himmelsforscher überlegte, ob es sich um eine bewusste Clownerie des berühmten Mannes handelte, fuhr jener unheimlich assoziierend fort: „Wie soll ich wissen, was sich hinter der Lichtbarriere verbirgt? Wahrscheinlich weder Zeit noch Raum, obwohl Raum-Zeit ins Nichts hineinwächst. Aber natürlich verstünde ich gern mehr davon. Euphemistisch gesprochen, möchte ich die Gedanken des ‚Ur-Alten‘ kennen, Seine metaphysische Mathematik, Wesen und Größe des Universums und die Architektur des Alls. Sehen Sie!“ (Er knautschte die seitlichen Sakkotaschen im Rücken zusammen und demonstrierte:) „Vielleicht gleicht die Milchstraße unserem Rückgrat und das Sterngewölbe den Rippen.“

„Ein lustiges Bild“, bestätigte der Astronom. „Aber da sich die Sterne weder quasistatisch verhalten noch heben und senken wie der Brustkorb, fände ich es anschaulicher, an einen Luftballon zu erinnern. Wenn es im utopischen Experiment gelänge, eine transparente Hülle allmählich bis zu acht Kilometer Durchmesser aufzublasen und darin in je fünfzehn Meter Abstand Tennisbälle herumfliegen zu lassen, ergäbe das ebenfalls ein Modell vom Kosmos und den Vielmillionen außergalaktischen Nebeln.“

Einstein schlug sich vergnügt auf die Schenkel. Mit einem Male griff er nach dem „Virginia“-Kästchen, stopfte den Tschibukkopf und zündete den Tabak an. „Oh, mein Weib!“, seufzte er. Dann lehnte er sich behaglich schmauchend in den Sessel zurück und stellte eine Reihe jungenhafter „Warum?“-Fragen. Schließlich: „Wie schnell fliegen eigentlich die Bälle in Ihrer Riesenseifenblase?“

„Sehr unterschiedlich, verehrter Herr Professor. Je weiter sich die Weltinseln vom Zentrum des Urknalls entfernen, desto größer ist ihre heute berechenbare Geschwindigkeit. Wenn Sie einen Blick auf diese Fotoplatten werfen wollen? Beispielsweise dürfte ein bestimmter Großer-Bären-Nebel in 500 Millionen Lichtjahren Entfernung mit einem Tempo von 15 000 km/ sec. entfliehen, die Zwillings-Galaxis auf Distanz von 700 Millionen Lichtjahren mit Tempo 24 000 km/sec. und der Bootes-Haufen sogar mit 40 000 km/sec., wobei wir im Spektrum Strahlung einfangen, die ungefähr eine Milliarde Lichtjahre unterwegs war.“

„Fantastisch!“, rief der Besucher. „Sie jonglieren ja mit Zahlen, als ob Sie in Gottes Logbuch geschmökert hätten! Erlauben Sie mir jedoch die Ketzerei, dass mir Ihre Dezimalstellen und Nullen ein bisschen so vorkommen, als spielten wir deutsche Inflation oder Mückenzählen in der Sommernacht.“

Der Astronom erwiderte: „Gewiss sind Daten aus Sternenlicht nicht immer eindeutig. Aber möchten Sie sich nicht selbst ein Bild davon machen?“

Um 19 Uhr Pacific Standard Time betraten die beiden Forscher die Kuppelhalle des Observatoriums. Inmitten eines parabelförmigen Stahlgerüsts befand sich an einer pfeilermächtigen Rahmenmontierung der Gittertubus des Teleskops mit dem singulären Zweieinhalb-Meter-Rundspiegel. Der Hausherr hievte den Gast in den Drehsessel vorm Okular und erläuterte am Instrument die Methoden der Beobachtung, Spektrografie und Deutung von Absorptionslinien. Mittels Räderwerk richtete er das Fernrohr auf gut erkennbare kosmische Objekte: Andromeda-Nebel, Galaxien im Pegasus und in den Fischen… „Ja, ja“, sagte Einstein. „Ich schwelge in Lichtjahren und kann mir Weiteres denken. Wissen Sie, auch wenn Ihre Proportionskonstante viel zu hoch oder viel zu niedrig sein sollte, fasziniert es mich, von Welten zu hören, die etwa ein Siebentel der Lichtgeschwindigkeit erreichen. Falls Ihnen ein noch tieferer Vorstoß in die vierte Dimension und den siderischen Raum gelänge, müssten die Nebel dann nicht irgendwann und irgendwo so schnell fliegen wie das Licht selbst? Freilich erhielten wir von dort keine Signale mehr. Und nun stellen Sie sich vor, wie Sonnensysteme gleich Feuerwerkskörpern vom Pariser Arc de Triomphe nach allen Seiten auseinanderflitzen, sich beschleunigen und am Ende in die Unendlichkeit schweben.“