Vom Hohen und Tiefen und dem Taumel dazwischen

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Vom Hohen und Tiefen und dem Taumel dazwischen
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E. K. Busch

Vom Hohen und Tiefen und dem Taumel dazwischen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

6. Februar - Vom Blick durch Glas

20. Februar - Von einer Blume in der Wüste

7. April - Von der Ödnis

17. April - Von Fragen und Antworten

21. April - Vom blinden Narren

24. April - Vom Hohen und Tiefen

28. April - Von der Stille

16.Oktober - Von gefallenen Papageien

13. Januar - Von den Naturgesetzen

25. Januar - Vom Taumel dazwischen

Impressum neobooks

6. Februar - Vom Blick durch Glas

«Hast du's dir überlegt?», fragte Elena und klopfe mit ihren Fingerknöcheln gegen die geöffnete Zimmertür.

Antonia saß an ihrem Schreibtisch und war vergraben in einem Chaos von Papieren. Kurz zögerte sie, dann legte sie ihren Stift beiseite und drehte sich um zu ihrer Mitbewohnerin.

Elena hob bereits ungeduldig die roten Augenbrauen. «Ein bisschen frische Luft würde dir sicherlich nicht schaden». Sie schlüpfte in ihre Pumps.

Toni schien noch immer in Gedanken und machte einige eilige Notizen, ehe sie sich gänzlich erhob. Ihr Blick haftete fest an einem der zahlreichen Zettel. Erst einen ganzen Augenblick später schnürte sie ihre abgewetzten Winterstiefel und schlüpfte in ihren grauen Mantel.

Man befand sich bereits im Treppenhaus, als Elena einräumte: «Vielleicht können wir auf dem Weg noch kurz bei Frida vorbeischauen. Ich muss ihr noch ihren Ordner zurückgeben. Es dauert auch nicht lang. Versprochen. In zehn Minuten sitzen wir gemütlich in irgendeinem Café.» Die Absätze ihrer Schuhe erzeugten ein rhythmischen Klicken und Poltern auf jeder der Treppenstufen. Es war, als tanzte sie auf einem knarzenden Instrument.

Toni nickte, ihre Aufmerksamkeit galt allerdings den Geräuschen des alten Hauses. Sie mochte seinen Klang. Das Knarren der Treppe, ebenso wie das Rauschen der Rohre, die wie krumme Eingeweide in den Wänden verliefen und etwas gelbliches Wasser in die ramponierten Waschbecken spien. Sie mochte es, wie das Gemäuer erzitterte, wenn ein LKW das Haus passierte, und wie der Wind im Herbst um seine Ecken pfiff. Ihr Zimmer lag ebenso wie Elenas und die Zimmer der beiden übrigen Mitbewohnerinnen im dritten und obersten Stock. Dort war dieses Pfeifen des Nachts besonders gut zu hören, ebenso wie das Scharren der Straßentauben, die es sich in den Dachrinnen bequem machten. Auch wenn Elena den ungebetenen Gästen den Kampf angesagt hatte und hin und wieder wild lärmend mit der Handfläche gegen die Fensterscheiben schlug, dass diese zu bersten drohten.

Auf der Straße ging ein kalter Wind und die beiden Mädchen sortierten ihre Mäntel. Toni holte ihre Mütze aus der ausgebeulten Manteltasche und zog sie sich tief über die Ohren. Die dunklen Locken verschwanden unter der filzigen Wolle.

«Ich hasse den Winter. Er ist einfach grauenhaft», erklärte Elena und stopfte ihren Kaschmirschal eilig in den Ausschnitt ihres Mantels aus hellem Tweed. Derartige Übertreibungen waren ganz ihre Art. Sie trug diese mit einem sphinxenhaften Lächeln vor, das nicht verriet, ob sie es ernst meinte oder nicht. Vielleicht konnte sie sich diesbezüglich selbst nicht ganz entscheiden.

Elena schwankte und tänzelte über das Kopfsteinpflaster in ihren hohen Schuhen. Die roten Haare flatterten. Dagegen kam sich Toni recht ungelenk vor. Tatsächlich war sie einen guten Kopf größer als Elena, ihr Schritt energisch und ein wenig steif. Der lange Mantel unterstützte noch diesen Eindruck. Er besaß einen kastenförmigen Schnitt, der sicherlich einmal sehr modisch gewesen war, jedoch auch etwas maskulin daherkam. Ihre Mutter hatte ihn kürzlich ausrangiert. Vor allem aber besaß Elena diese zarten Züge wie aus Elfenbein und war von einer mädchenhaften Gestalt, die sie durchaus in Szene zu setzen wusste in ihren flatternden Röcken und Blusen. An Toni dagegen war nichts Zartes oder Mädchenhaftes zu finden. Zwar war sie schlank und großgewachsen, doch fand sich ihr Körper in einem seltsamen Ungleichgewicht. Denn während sie einen hageren Oberkörper besaß mit muskulösen Armen und kantigen Schultern, folgte unterhalb ihres Bauchnabels der ausgeformte Körper einer Frau mit einem prallen Hintern und strammen Schenkeln. Sie kam nicht an gegen diese Fleischlichkeit, die ihr in ihrer üppigen Schwere zuwider war. Ihr Bauchnabel bildete, wie Toni fand, wenn sie ihren nackten Körper im Spiegel betrachtete, die Demarkationslinie zwischen dem, was ihr gefiel, und dem, was ihr nicht gefiel. Weil es weich war, warm und weibisch.

«Ich glaube, die Pause tut mir ganz gut», erklärte Toni nach einer Weile und blickte in den grauen Himmel hinauf. «Ein bisschen frische Luft und ein paar andere Gedanken.»

«Die Pause?», hakte Elena ungläubig nach. «Soll das etwa heißen, dass du dich nachher nochmal an den Schreibtisch setzen willst? Am Freitagabend?» Sie schüttelte den Kopf auf Tonis beschämtes Schweigen, setzte dann in gespielter Beleidigung hinzu: «Wenn du deinen Abend lieber mit deinen Formeln verbringen magst, dann bitte! Lisa und ich können auch ohne dich ins Kino gehen.»

Toni hob entschuldigend die Arme, so als hätte sie in dieser Angelegenheit keine große Wahl. Ohnehin war sie keine Freundin von Komödien, noch weniger von romantischen Komödien. Ihr Verhältnis zu Lisa war zudem nicht sonderlich eng. Zwar wohnte sie mit Lisa genau wie mit Pauline und Elena schon seit etwa drei Jahren zusammen, aber das allein sorgte anscheinend nicht in jedem Fall für ein inniges Verhältnis. Der kameradschaftliche Umgangston konnte nicht über eine gewisse Distanz hinwegtäuschen. Oder anders ausgedrückt: Man hatte sich nicht das Geringste zu sagen. Lisa, die laut und lustig war, gesellig und herzlich, mochte diesen Umstand geschickt überspielen können, aber Toni fürchtete stets, eines dieser beklemmenden Schweigen zu provozieren in ihrer steifen und unbeteiligten Art.

«Ich jedenfalls werde das ganze Wochenende keinen Finger krumm machen für die Uni. Glaub' ja nicht, dass mir dein Fleiß da ein schlechtes Gewissen macht. Ich bin eine Meisterin der Verdrängung.» Damit drückte Elena bereits den Klingelknopf, der zu Fridas WG gehörte und gelegentlich nach einem undurchsichtigen Muster streikte.

An diesem späten Nachmittag war das schrille Läuten jedoch bis auf die dunkle Gasse hinunter zu hören. Kurz darauf meldete sich eine rauschende Männerstimme.

Toni folgte ihrer Mitbewohnerin die Treppe hinauf. Sie war mit Elena schon einige Male bei Frida gewesen. Immerhin waren diese seit ihrem ersten Semester «beste Freundinnen». Sie bezeugten dies immer wieder in Worten, dem Erzählen lustiger Anekdoten und dem Austausch kleiner Geschenke. Es war ein Verhalten wie es Toni nur von kichernden Dritt- oder Viertklässlerinnen erwartet hätte. Raphael, Fridas neuen Mitbewohner, hatte Toni bislang nicht kennengelernt. Er war erst vor ein paar Wochen eingezogen und entpuppte sich als mittelgroß und ausgesprochen feingliedrig. Er hatte zarte Züge, die sich zu einem schiefen Lächeln bogen, als er Elena mit einer Umarmung und ein paar Küsschen begrüßte.

«Das ist Toni», stellte Elena ihre Begleiterin vor und man reichte sich die Hand.

«Raphael», erwiderte Fridas Mitbewohner mit einem rauen Bass, der nicht recht zu seinen schlanken Händen und den schmalen Schultern passen wollte. Es war die Stimme eines reifen Mannes. Etwas verschlafen fuhr er sich mit den Fingern durch das helle Haar. Es machte den Eindruck, als wäre es eine alte Gewohnheit.

«Wir wollen gleich noch einen Kaffee trinken gehen», erklärte Elena und nickte beiläufig in Tonis Richtung. Damit zog sie ungelenk das Skript aus ihrer viel zu kleinen Handtasche. «Es wäre schön, wenn du diese Unterlagen Frida geben könntest. Sie ist nicht da im Moment, oder?»

Raphael nahm zögerlich den verlotterten Aktenordner entgegen, auf der eine große Karikatur von Sigmund Freud klebte. Der Psychoanalytiker paffte zufrieden an einem dicken Zeppelin. Einen Moment herrschte ein etwas verlegenes Schweigen.

«Ihr könnt auch gerne hereinkommen und hier bei uns euren Kaffee trinken», bot Raphael schließlich an. Es schien ein Vorschlag der Höflichkeit. Trotzdem nahm Elena das Angebot an, noch ehe Toni etwas hatte einwenden können. Ihr blieb daher nichts anderes übrig, als ein Lächeln aufzusetzen und ihrer Mitbewohnerin in die muffige Wohnung zu folgen.

Frida schien tatsächlich nicht da zu sein. Toni zog ihre Schuhe aus und blickte hinüber auf die geschlossene Zimmertür an der ein Poster von Roy Lichtenstein (eine weinende Pop-Art-Blondine) mit etlichen Klebestreifen befestigt war. Raphael trottete schon einmal in die Gemeinschaftsküche, um Wasser aufzusetzen. Er war barfuß und hatte staubige Sohlen. Elena folgte ihm eilig den Flur hinab und klopfte im Vorbeigehen flüchtig an Fridas Tür. Sonderlich beherzt ging sie dabei jedoch nicht zu Werk und Toni beschlich das dumpfe Gefühl, dass es Elena ganz gelegen kam, einmal ungestört mit Fridas neuem Zimmernachbar zu sein. Immerhin hatte sie Toni gegenüber schon einige Male angedeutet, dass sie Raphael recht interessant fand. Und trotz aller Freundschaft war es nun einmal Fridas Art, sich bei jeder Gelegenheit freimütig und ein wenig vorlaut in den Vordergrund zu drängen. Es stellte sich nur die Frage, was Toni selbst dann in der Wohnung verloren hatte an diesem späten Freitagnachmittag. Sie würde ja doch nur stören. Einen Moment blieb sie also allein im Flur zurück und überlegte, unter welchem Vorwand sie sich möglichst rasch und unauffällig würde davon stehlen können. Ohnehin wartete daheim eine Gleichung auf ihre Lösung. Dann jedoch verwarf sie den Gedanken. Was hätte sie schon sagen sollen?

 

Es war ungewohnt ruhig in der WG. Offenbar war auch der dritte Mitbewohner nicht zu Hause.

Tonis Blick fiel auf einige Spinnweben an der Zimmerdecke. Vermutlich hatte schon seit Jahrzehnten niemand mehr eine Leiter zur Hand genommen, um dort oben zu putzen. Andererseits war die WG auch anderweitig nicht gerade im besten Zustand. Es handelte sich um eine düstere Altbauwohnung mit fleckig-bunten Wänden und wuchtigen alten Türen, von denen der Lack abblätterte. Auch die große Shisha und eine gruselige Porzellanfigur mit Räucherstäbchen im Rücken konnte den verlotterten Eindruck nicht in ein alternativ mystisches Ambiente verkehren.

«Mit dem Kaffee ist es so eine Sache», erklärte Raphael, als Toni die Küche betrat. «Wir haben hier lediglich eine dieser ominösen Espressokannen, die man direkt auf den Herd stellt.» Er hob die Schultern ohne die Hände dabei aus den Taschen zu nehmen. «Ich selbst bescheide mich mit billigem Instantpulver. Aber ich nehme nicht an, dass das euren Geschmack trifft.»

Elena schüttelte den Kopf, öffnete dann bereits einen der Oberschränke. Offensichtlich kannte sie sich aus in der fremden Küche. Sie musste sich ziemlich strecken, um die Kanne hinunter zu holen. Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht. «Für dich einen Tee, oder?», fragte sie dann Toni, die zögerlich nickte und sich an den schmutzigen Tisch setzte.

Mit wachsendem Misstrauen beobachtete Toni, wie ihre Freundin die folgenden Minuten mit Wasserkocher, Espressopulver und Teebeutel hantierte. Raphael dagegen hatte sich lässig auf einen der Klappstühle fallen lassen. Toni war sich nicht sicher, ob er sehr müde war oder generell eine derartig schlaffe Körperhaltung besaß. Jedenfalls saß er ungehörig breitbeinig und es war ein Wunder, dass er nicht gänzlich unter den Tisch rutschte. Das Skript lag vor ihm und er zog es nun mit einem einzigen Wischen zu sich heran.

«Studierst du auch Psychologie? Mit Frida und Elena zusammen?», fragte er und blätterte achtlos den Aktenordner durch. Er schien nicht wirklich an einer Antwort interessiert und Toni überlegte, was wohl geschähe, wenn sie einfach nicht antworten würde auf seine Frage oder gar eine unehrliche Antwort gäbe. Natürlich hätte sie sich das niemals getraut. Aber der Gedanke beschäftigte sie. Sie fragte sich auch, ob Elena sie dann verraten oder ob sie wohl mitgespielt hätte.

«Toni studiert Physik», erklärte Elena in das Schweigen hinein, noch ehe Toni sich zu einer Erwiderung hatte überwinden können. So wie sie es sagte, klang es irgendwie falsch. Dennoch nickte Toni zögerlich.

«Also hast du's eher mit den Fakten und Formeln?», kommentierte Raphael nun in beiläufigem Ton und schenkte ihr ein fahles Lächeln.

Etwas an seiner lässigen Körperhaltung erweckte Tonis Missbehagen. Sie wusste auch nicht, was sie erwidern sollte auf seine Frage hin. Deshalb hob sie gleichmütig die Schultern. Elena füllte währenddessen die beiden Kaffeetassen.

«Milch? Zucker?»

Toni fand, dass ihre Freundin ein wenig zu dick auftrug in ihrer Rolle als Serviermädchen, nahm jedoch dankend ihre Tasse entgegen.

«Raphael studiert VWL und Philosophie», erklärte Elena, als sie sich zu ihnen beiden an den Tisch setzte.

Raphael nickte und sie setzte hinzu: «Erst hat er in Berlin studiert, dann in London und jetzt ist er für den Master hierher nach Heidelberg gekommen.» Sie schien sich nicht ganz sicher, worauf Raphael ein weiteres Mal bestätigend nickte und sich durch das Haar fuhr.

«Momentan leide ich ein wenig unter einem Kleinstadt-Koller», bemerkte er und rang sich ein Lächeln ab.

Elena nickte und verdrehte vielsagend die Augen. «Nach ein paar Wochen kennt man die Stadt in- und auswendig und sieht überall die selben Gesichter. Das kann schon wirklich nervig sein.»

Einen Moment herrschte ein unangenehmes Schweigen und Toni nahm betreten einen Schluck ihres heißen Tees. Sie verbrannte sich die Zunge dabei.

«Du hast Glück gehabt mit der Wohnung», wechselte ihre Mitbewohnerin dann das Thema und fügte hinzu: «Es ist nicht selbstverständlich, hier in der Altstadt eine halbwegs anständige WG zu finden. Es gibt da die schauerlichsten Geschichten.» Schon stimmte sie eine ihrer wilden Anekdoten an. Es war die Erzählung vom unheimlichen Fremden, der eines schönen Morgens im eignen Zimmer stand, wenn man erwachte. Da schlug man müde die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht, wurde angestarrt von blutunterlaufenen Augen. Der One-Night-Stand einer Mitbewohnerin, der des Nachts die Orientierung verloren hatte.

Elena besaß einiges erzählerisches Geschick. Im Komischen, wie im Tragischen. Dann imitierte sie gekonnt fremde Stimmen und Dialekte, spielte mit Worten und Gesten und sprühte vor Witz und Charme. Sie verstand es, im rechten Moment eine dramatische Pause einzulegen oder wild zu übertreiben und ihrem Zuhörer ein listiges Augenzwinkern zu schenken. Es war durchaus bewundernswert. An diesem Nachmittag jedoch stand Toni nicht der Sinn nach derlei Unterhaltung. Sie entschuldigte sich daher beiläufig und entschwand mit ihrer Teetasse hinaus auf den Balkon. Man musterte sie einen Moment irritiert, verlor dann jedoch rasch das Interesse.

Die heiße Tasse in den Händen blickte Toni in den grauen Himmel hinauf. Der Graupel fiel wie winzige Styroporkügelchen, die sich in ihren wirren Haaren und ihrem Wollpullover verfingen.

Es schneite selten in Heidelberg, seltener jedenfalls als im Alpenvorland, wo Toni aufgewachsen war. Sie vermisste den Schnee manchmal ein wenig, der sie an heitere Kindertage erinnerte. An ihren Bruder Robert und ihren gemeinsamen Schlitten, seine ungestüme Begeisterung für das Skifahren, wenn sie beide schweigend nebeneinander im Bügellift gehangen hatten und er unüblich brüderlich den Arm um sie gelegt hatte. Als könne ihr nichts zustoßen, solange er nur bei ihr wäre.

Der spärliche Schneefall jedenfalls hatte sie hier hinaus in die Kälte gelockt. Wer konnte schon sagen, ob es noch einmal schneien würde diesen Winter?

Hier draußen fühlte sie sich gut. Hier gab es nur sie und die Dinge. Und die Dinge waren einfach nur, verlangten keine Worte. Das Paradies.

Vom Balkon aus hatte man eine unspektakuläre Sicht in den verbauten Hinterhof des Häuserblocks. Einen Moment lang galt Tonis Interesse einem Papageienschwarm, der sich laut und zänkisch auf dem einzigen Baum im Hof niederließ.

Es waren giftgrüne Halsbandsittiche, wie sie zu Hunderten in der Stadt lebten. Das erste Mal hatte Toni ihre Präsenz bemerkt, als sie mit Benjamin einen besonders stumpfsinnigen physikalischen Versuch hatte durchführen müssen und die meiste Zeit gelangweilt aus dem Fenster gestarrt hatte. Direkt vor ihrer Nase hatte sich eines der Tiere mit einer großen, silbernen Distel angelegt. Für Tonis besorgten Blick und ihre Aufregung hatte Benjamin lediglich ein Achselzucken übrig gehabt. Nein, man müsse sich nicht sorgen um diese Tiere, hatte er erklärt und seine Arme gelangweilt hinter seinem Kopf verschränkt. Die Vögel wären zwar tatsächlich einmal aus einem Käfig entflohen, mittlerweile aber zu einer waren Plage geworden. Er hatte vielsagend die buschigen Augenbrauen gehoben und sich dann wieder gelangweilt dem einzigen Spiel zugewandt, das auf dem PC im Versuchsraum installiert war.

Trotzdem hatte Toni seit diesem Nachmittag etwas übrig für die aufsässigen Tiere. Mit ihren gekrümmten Schnäbeln schienen sie stets zu einem Lächeln aufgelegt und selbst in der Kälte dieses grauen Februartages vermochten sie es, ein wenig tropische Stimmung zu verbreiten.

Als sich die Vögel einige Minuten später kreischend davon machten, schien es ihr, als fände sich auch ein großer schwarzer darunter. Eine Krähe?

Sie starrte dem Schwarm einen Moment ungläubig hinterher, da waren die Vögel jedoch schon zu klein geworden, als dass man ihre Farbe noch eindeutig hätte bestimmen können. In weiter Ferne ließen sie sich auf einigen drahtigen Antennen nieder.

Hin und wieder kam es vor, dass Toni seltsame Dinge sah. Dinge, die gar nicht existierten. Dinge, die eine falsche Gestalt besaßen. Dinge, die sich bewegten, obwohl sie es doch nicht taten. Es waren Kleinigkeiten nur. Lächerliche Kleinigkeiten. Vermutlich hätte sie sich mittlerweile daran gewöhnen müssen. Tatsächlich jedoch beunruhigte es sie immer wieder aufs Neue, wenn sich eine ihrer Beobachtungen bei einem zweiten Blick als Täuschung entpuppte. Und noch beunruhigender war es, wenn ihr die Chance auf Wahrheit völlig entglitt und sie keine Trennung mehr vornehmen konnte zwischen Einbildung und Realität. So wie die Vögel nun zu weit entfernt waren, um ihr Rätsel zu lösen, und Toni daher bis in alle Ewigkeit im Ungewissen bliebe.

Sie sagte sich, dass sie sich von ihrer Einbildungskraft nicht dürfte zum Narren halten lassen. Sie hatte eine allzu lebhafte Fantasie. Es gab keine schwarzen Halsbandsittiche.

Nachdem Toni nun wieder allein im Hof war, blickte sie sich ein wenig gelangweilt auf dem Balkon um. Abgesehen von einigen leeren Bierkästen und einem zusammengeklappten Wäscheständer gab es jedoch nicht viel zu entdecken. Dabei war der Balkon recht geräumig und hätte sicherlich auch Platz geboten für einen kleinen Tisch und zwei Stühle im französischen Bistro-Stil.

Toni schlang ihre Arme um ihren Oberkörper. Jetzt wurde es ihr doch etwas kalt hier draußen in ihrem roten Pullover und der Jeans, ohne Mantel und Schal. Vor allem drang die Kälte nun durch ihre dicken Socken. Ärgerlich bewegte sie ihre Zehen. Da sie trotzdem wenig Lust verspürte, wieder hineinzugehen, tapste sie frierend von einem Fuß auf den anderen und verzog sich dann in ein Eck auf der anderen Seite des Balkons. Dort bot ein Mauervorsprung ein wenig Deckung vor dem Wind. Sie rieb ihre kalten Fußsohlen abwechselnd mit ihren Händen. Sie musste an Scott und seine Polarexpedition denken. Wie man die Männer Jahre später erfroren in ihren Zelten vorgefunden hatte, in den Logbüchern den dramatischen Bericht ihrer letzten Tage. Wenn sie nun hier draußen auf dem Balkon erfroren wäre, man hätte nie erfahren, was sie hier eigentlich gesucht hatte. Hier gab es keinen Südpol. Hier gab es überhaupt gar nichts. Im Grunde war das ja gerade das Schöne daran.

Toni ließ von ihren schmerzenden Fußsohlen ab. Sie würde wieder hineingehen müssen. Es war zu kalt hier draußen. Was sollte das denn überhaupt? Suchte sie das Nichts? Das war ein Widerspruch in sich.

Sie lächelte verächtlich in sich hinein, als ihr Blick durch ein Fenster in das Innere des Hauses fiel. Sie sah in Fridas Zimmer, auch wenn sie aufgrund der ungewohnten Perspektive einen Moment brauchte, das zu erkennen. Doch da hing das große Poster von James Dean an der Wand und dort stand Fridas pompöser Schminktisch mit der Lichterkette, die um den Spiegel gewickelt war wie ein Blumenkranz.

Die Kette verströmte ein warmes Licht in dem ansonsten dämmrigen Zimmer und warf chaotische Schatten an die Wände. Als befände man sich in einem Kaleidoskop. Der ungewohnte Blickwinkel und das wirre Schattenspiel ließen den Raum sonderbar schief und verzerrt erscheinen. Toni blickte sich kritisch um. Sie mochte es nicht, wenn sie sich von derlei Dingen verunsichern ließ. Wenn sie ein mulmiges Gefühl befiel nur einer diffusen Ahnung wegen, dass etwas nicht stimmte. Sie war kein kleines Kind mehr.

Vielleicht war Frida doch zuhause, oder aber sie hatte vergessen, das Licht zu löschen. Die dunklen Vorhänge waren halbherzig zugezogen, so dass Toni kaum einen Schritt zur Seite machen musste, um vollen Einblick in den kleinen Raum zu erhalten. Sie erschrak, als sie in ein bleiches Gesicht blickte, kaum eine Armlänge von sich. Es musste zuvor hinter dem Vorhang verborgen gewesen sein. Die Züge schienen ihr seltsam starr und einen ganzen Moment war ihr, als handele es sich um eine Plastik aus Stein oder Gips. Dann jedoch bemerkte sie das Zwinkern der Augenlider und den feuchten Glanz der Augäpfel in ihren Höhlen.

 

Es war das Gesicht einen Mannes. Alterslos und ohne Farbe, das mit den Schatten zu verschmelzen schien. Hohe Wangen, eine kräftige, gerade Nase. Die Gesichtszüge kalt und unnachgiebig. Tonis Blick glitt die eckigen Schultern hinab und fiel auf einen nackten Brustkorb, der sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Es war nichts Verletzliches an dieser Nacktheit. Sie schien ihr roh und brutal. Die Muskeln warfen harte Schatten.

Ihr Blick folgte nun den sehnigen Armen. Bleiche Hände, welche die Taille eines Mädchens fest umschlossen hielten. Das musste Frida sein. Ihr hübsches Gesicht der Wand zugewandt. Doch Toni erkannte das strohblonde Haar, das fein und hell glänzte im Licht. Ein magerer, nackter Körper mit schmaler Hüfte und knochigen Schulterblättern. Mit den eckigen Wirbeln wie der Panzer eines Sauriers. Dennoch wehrlos an die Wand gestellt.

Einen ganzen Moment starrte Toni unverwandt auf diese beiden nackten Körper im Schatten. Es war eine unwirkliche Szene. Tonlos. Sie erschauerte. Da war eine dumpfe Gewalt in diesem Bild, die ihr unerträglich war. Dennoch vermochte sie es nicht, sich abzuwenden. Sie sah stumm, wie er das Mädchen packte und es auf dem Schreibtisch niederdrückte. Ein wehrloser bleicher Körper. Sie sah, wie er sich ihrer dumpf bediente. Wie sie zuckte, sich aufbäumte ohne Zweck. Ihr Rücken zu einer harten Linie wurde, die dann jäh brach. Eine stumme Auslöschung. Und dann blickte Toni wieder in dieses Gesicht in der Dunkelheit, betrachtete diese starren Züge, die ohne Ausdruck waren, ohne Gefühl. Eine entsetzliche Leere. Unerwartet traf sie der Blick seiner Augen. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Einen Moment noch schien Toni außerstande, sich diesem Blick zu entziehen, dann wich sie eilig zurück hinter den Vorhang.