Buch lesen: «Der afrikanische Janus»
Duri Rungger
Der afrikanische Janus
Duri Rungger
Der afrikanische Janus
Kriminalroman
orte Verlag
Handlung und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Allfällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären zwar erwünscht, doch rein zufällig. Die erwähnten Statuen und Masken stehen in Museen oder Privatsammlungen und gehörten weder einem Herrn HK noch dem ebenso fiktiven Industriellen Gerster.
Herzlichen Dank an Lisi, Sibe, Charlotte und Heiner für kritische Kommentare zum Manuskript, Yvonne Steiner für das konstruktive Lektorat sowie dem Musée Barbier-Müller Genève, dem Grassi Museum für Völkerkunde Leipzig – Staatliche Kultursammlungen Dresden und dem Rietberg Museum Zürich für die Erlaubnis, ihre Kunstwerke hier abzubilden.
Der Autor
© 2015 orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Janine Durot
Satz: orte Verlag, Schwellbrunn
Gesetzt in Times New Roman
ISBN: 978-3-85830-185-7
ISBN eBook: 978-3-85830-190-1
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
Bagorda Paura, Angstmacher Maske
A.A. Willi, alias il Natè,
Domat-Ems, Schweiz
Museum Rietberg, Zürich
Der Angstmacher
«Porca miseria …», schimpfte Bondolfi halblaut vor sich hin. Er blieb stehen und schnappte mühsam nach Atem. Der Weg von Davos-Glaris über den Höheggen zum Wiesener Viadukt stieg zwar nur sanft aber stetig an und verlief durch dichten Fichtenwald. Doch selbst im Schatten war es unerträglich heiss. Der rechte Hang des Landwassertals war frontal der Morgensonne ausgesetzt, und kein Lüftchen brachte Erleichterung.
Der gemütliche und dank seiner Vorliebe für fette Speisen übergewichtige Puschlaver vermied normalerweise jegliche körperliche Ertüchtigung und war entsprechend ausser Form geraten. Heute war er gezwungen, eine Ausnahme zu machen, weil er als Klassenlehrer der Maturaklasse 1986 seine Schüler auf den Herbstausflug begleiten musste. Auch dieses Jahr hatte er keinen jüngeren Kollegen gefunden, der ihm diesen Strafmarsch abgenommen hätte. Nächstes Jahr würde er sich krank melden. Er sah beim besten Willen nicht ein, wieso ein alter Stubenhocker und Vielfrass wie er diese jungen Bergziegen begleiten sollte. Wenn es jemanden zu retten galt so höchstens ihn …
Er hatte den Chemielehrer Sattler eingeladen, auf den Ausflug mitzukommen. Dieser war derart unbeliebt, dass das Rektorat darauf verzichtet hatte, ihn als Klassenlehrer einzusetzen. Bondolfi gab sich Mühe, eine einigermassen gute Beziehung mit diesem stacheligen Sonderling zu unterhalten, der ihm trotz allem leid tat. Zudem hatte er gewusst, dass er auf dieser Wanderung weit hinten nachhinken würde, und gehofft, mit Sattler plaudern und so die Anstrengung leichter bewältigen zu können. Doch heute hatte sein Kollege wieder einmal einen aussergewöhnlich schlechten Tag erwischt. Schon am Bahnhof in Chur war er griesgrämig angekommen, hatte in der Eisenbahn kein Wort geredet und nur nervös an seinem Rucksack herumgefingert, in welchem er wohl eine gehörige Notration Alkohol mit sich führte. Da er nicht wagte, vor den Schülern zu früher Morgenstunde davon zu naschen, war seine Laune immer schlechter geworden.
Inzwischen hatte Sattler ihn eingeholt und blieb keuchend stehen. Kleingewachsen und knochig wie er war, hätte er mit seinem Leichtgewicht die Steigung mühelos bewältigen können, doch sein übertriebener Alkoholkonsum hatte beträchtlichen Schaden angerichtet, und zudem litt er heute unter Kopfschmerzen, die er sich wohl mit dem üblen Fusel vom Vorabend eingehandelt hatte. Er knurrte Bondolfian: «Wie weit müssen wir noch diesen verdammten Berg hochsteigen, bis wir endlich einkehren und etwas trinken können?»
«Ich bin nicht sicher. Die Schüler haben die Route ausgewählt, und ich habe zu Hause nur kurz in die Karte geschaut. Ich schätze, wir haben etwa die Hälfte des Aufstiegs hinter uns. Oben geht es dann schön flach über offeneres Gelände mit hübscher Aussicht und danach bis Wiesen nur noch bergab.» Er wagte es nicht zu erwähnen, dass der Abstieg eher steil sei, fühlte sich aber verpflichtet auf den zweiten Teil der Frage zu antworten. «Ob es da oben ein Bergrestaurant gibt, weiss ich leider auch nicht.»
Sattler hatte die Einladung seines Kollegen nur angenommen, weil er sicher war, der bequeme Paolo habe eine leichte Route ausgesucht. Entsprechend frustriert raunzte er diesen an: «Was für eine schwachsinnige Idee, die Schüler alles selbst entscheiden zu lassen! Nächstens lässt du dir von ihnen auch noch ihre Noten diktieren.»
Bondolfi machte eine wegwerfende Handbewegung und liess Sattler stehen. Langsam hatte er genug von seinem lieben Kollegen Satyr, wie die Schüler ihn abschätzig nannten, und bereute, ihn überhaupt eingeladen zu haben. Er beschleunigte seinen Schritt, soweit er dazu fähig war. Sie waren schon viel zu weit hinter ihren Schutzbefohlenen zurückgeblieben, und der sauertöpfische Begleiter durfte seine Galle gern noch ein wenig ausschwitzen.
Die Klasse war inzwischen schon oben ankommen, wo der Wald mit steilen Bachrunsen und sanften Alpwiesen abwechselte. Kleine, blaue und braune Schmetterlinge gaukelten um die Herbstzeitlosen, Thymian, Feldenzian und Silberdisteln, mit denen die Wiesen übersät waren. Der Blick ins Tal und auf die gegenüber aufragenden Berge des Stulsergrats war beeindruckend. Am tiefblauen Himmel zog ein Adler seine Kreise, doch die Mädchen und Burschen nahmen die prächtige Umgebung kaum wahr. Sie schwatzten laut durcheinander, spotteten über die neue, unsportlich beleibte Freundin des Turnlehrers und den blamablen Korb, den sich Felix bei der umschwärmten Barbara eingefangen hatte. Das wichtigste Thema war die Serie von Flugunfällen, die sich in knapp zwei Monaten in Indien, den USA und zuletzt in Japan ereignet und zusammen fast tausend Opfer gefordert hatten. Die Entführung des Kreuzfahrtschiffs Achille Lauro durch Palästinenser unter der Führung von Abu Abbas gab Anlass zu einer heftigen Diskussion über die heikle Frage, ob ein vertriebenes und verfolgtes Volk nicht vielleicht doch das Recht hatte, die Weltöffentlichkeit auf sein wohlweislich totgeschwiegenes Problem aufmerksam zu machen. Die Matura wurde mit keinem Wort erwähnt. Sie fand ja auch erst am Ende des Schuljahres im nächsten Sommer statt. Da blieb noch genügend Zeit, sich Sorgen zu machen.
Gion folgte seiner Klasse in sicherem Abstand. Er hasste es, den ganzen Tag mit Kollegen zusammen zu verbringen, die keine waren und denen er im Schulalltag so weit wie möglich aus dem Weg ging. Es war nicht, dass sie ihn hänselten. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, sie ignorierten oder, was fast noch schlimmer zu ertragen war, bemitleideten ihn. Vielleicht waren sie auch ganz nett, und es war sein Fehler, dass er mit niemandem Kontakt aufnehmen konnte. Er war einfach unfähig, länger als nötig mit andern Leuten zusammen zu sein, geschweige denn, ungehemmt mit ihnen zu reden.
Er schaute sich um. Zu weit durfte er nicht zurückbleiben, sonst wurde er von den begleitenden Lehrern eingeholt. Bondolfi mochte er zwar gut, aber dass dieser ausgerechnet den fleischgewordenen Albtraum von Sattler eingeladen hatte mitzukommen …
Satyr suchte sich in jeder Klasse einen Sündenbock aus, den er demütigen konnte. Natürlich war in seiner Klasse die Wahl auf Gion gefallen, obwohl seine Leistungen gut waren. Sattler hatte ein untrügliches Gefühl für Leute, die unfähig waren, sich zu wehren, und nützte das schamlos aus, sie vor der ganzen Klasse blosszustellen, und ihnen nebenbei auch noch ungerechte Noten aufzubrummen.
Als Gion vor ein paar Tagen erfahren hatte, dass sein Peiniger auf den Ausflug mitkomme, suchte er verzweifelt nach einer Ausrede, um nicht daran teilnehmen zu müssen. Seinen Stiefvater konnte er nicht bitten, eine Entschuldigung zu schreiben. Der Tyrann gönnte ihm alles Üble von Herzen. Aus purer Bosheit hatte er ihn als Fussball Junior und gleich auch für Fecht- und Jiu-Jitsu-Kurse eingeschrieben. Glücklicherweise hatten ihn sowohl der Fecht- als auch der Fussballklub nach ein paar Wochen als hoffnungslosen Fall ausgemustert. Zu Hause hatte er dies bis jetzt verheimlichen können, sonst wäre wieder weiss Gott was passiert. Beim Kampfsport hingegen gefiel es ihm ausgezeichnet, und er gehörte zu den Besten. Das nützte ihm zwar wenig, denn er würde es niemals fertigbringen, von seinen Fähigkeiten Gebrauch zu machen.
Auf einer kleinen Anhöhe sah sich Gion nach den Lehrern um. Sie waren noch nirgends zu sehen. Erleichtert setzte er sich auf einen Stein, öffnete den Rucksack und holte das Bruchstück eines wahrscheinlich durch Steinschlag zerschmetterten Stammes heraus, das er unterwegs aufgelesen hatte. Er studierte eingehend die Form und Maserung des schon leicht ausgewaschenen Holzes und drehte es nach allen Seiten. Plötzlich sah er eine verborgene, höhnische Fratze vor sich. Ein leeres Astloch formte ein rundes, nach unten hängendes Maul. Die Runzeln auf der Stirn waren durch verwitterte Jahrringe vorgegeben.
Das Gesicht sah schon jetzt der Bagorda Paura des Emser Künstlers Willi ähnlich, welche ihm seine Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Il Natè, wie er genannt wurde, schnitzte seit Jahrzehnten monströse Holzmasken für die «Angstmacher», die am Schmutzigen Donnerstag durchs Dorf zogen, in ihren prall mit Stroh ausgestopften Gewändern am Boden herumrollten, tolle Sprünge vollführten und mit Schweinsblasen auf die Zuschauer, am liebsten natürlich auf hübsche Mädchen, einschlugen oder sie mit Russ beschmierten. Die meisten seiner Werke waren inzwischen in Museen gelandet und nur noch schwer zu finden. Gions Mutter war ursprünglich von Ems und kannte den Förster des Dorfes, der ein Bewunderer Natès war und wusste, wer im Dorf noch eine seiner Masken besass. Er hatte Gion und seine Mama zu einem Bauern begleitet, der bereit war seine Bagorda Paura zu verkaufen. Bei diesem Besuch hatte der Förster ihnen erzählt, dass Natè sein Holz jeweils selbst im Wald holte. Einmal hatte er gesehen, wie der Schnitzer sein Ohr an einen Stamm hielt und lange daran horchte. Gefragt, was er hier tue, antwortete der Sonderling, er höre in den Baum hinein, um zu sehen, was für ein Gesicht sich darin verberge. Der Förster hatte ihn dann allein gelassen und geflissentlich die Axtschläge überhört, mit denen das Original den Baum unerlaubterweise umlegte.
Zuerst hatte Gion die Geschichte mit dem verborgenen Gesicht als Spinnerei eines verschrobenen Künstlers abgetan. Doch als er, angeregt von der geschenkten Maske anfing, selbst zu schnitzen, fand er bald einmal heraus, dass in manchen Stämmen wirklich ein verborgenes Gesicht steckte. In dem Holzstück, das er in der Hand hielt, war es nicht zu übersehen. Er nahm einen roten Fettstift und begann, die groben Züge der Fratze aufs Holz zu skizzieren. Endlich konnte er sich entspannen.
Sattlers Laune besserte sich kaum, als er endlich die Schüler sah, die auf dem Schmelzboden warteten. Ihr Picknick hatten sie bereits verschlungen und gleich begonnen, ihre Sachen wieder einzupacken, sobald die Lehrer in Sicht kamen. Satyr setzte sich erschöpft ein paar Meter von einer Schülerin entfernt auf den Boden, starrte sie mit stechendem Blick an und knurrte: «Warum wartet ihr ausgerechnet hier?»
«Nun, wir haben angenommen, Sie brauchen vielleicht eine kleine Pause», antwortete Ursina etwas spitz.
«Hm, schon … es ist ja auch verdammt heiss, aber bis zum nächsten Bergrestaurant hätten wir es noch geschafft.»
«Bergrestaurant? Hier oben gibt es bestimmt keines. Wenn Sie Glück haben, gibt es eine Beiz in Wiesen, sonst eben am Bahnhof in Filisur.»
Sattler schien, in der Antwort der Schülerin klinge ein hämischer Unterton mit. Wie hiess die schon? Ursina … das würde er sich merken.
Er kaute lustlos an einem belegten Brot herum, doch sein Mund war ausgetrocknet, und er konnte das Zeugs kaum hinunterdrücken. Mit Todesverachtung spülte er Bissen um Bissen mit lauwarmem Wasser aus Bondolfis reichlichem Vorrat hinunter, doch nun brauchte er endlich etwas Anständiges! Im Zug hatte er nicht gewagt vor den Schülern an seiner vorsorglich mit Cognac gefüllten Feldflasche zu nippen, und an diesem höllischen Sonnenhang war es selbst für ihn zu schwül gewesen, um diesen starken Stoff zu schlucken.
Jetzt musste er dringend die lästigen Zuschauer loswerden und knurrte die lagernde Gruppe an: «Genug ausgeruht, macht euch auf den Weg. Wir kommen gleich nach.»
«Wartet bitte vorne am Höheggen», fügte Bondolfi einschränkend bei.
Kaum waren die ersten Schüler hinter einer kleinen Kuppe verschwunden, holte Sattler die Flasche aus seinem Rucksack und schüttete sich den halben Inhalt in die Kehle. Da hörte er eine helle Stimme: «Heute stellt Satyr sicher einen Weltrekord über zehntausend Meter auf – bis zur Beiz in Filisur!»
Der Gefoppte kniff die Augen zusammen und starrte der lachenden Meute nach, die sich beeilte, in Deckung zu gehen. Gion hatte sich abseits auf eine kleine Felskuppe gesetzt und weiter an der Fratze herumskizziert. Er wollte sie eben im Rucksack versorgen und sich schleunigst aus dem Staub machen, als Sattler ihn entdeckte.
«Gion, zu mir!» Der Junge erstarrte und zog den Kopf ein, machte aber keine Anstalten, der Einladung Folge zu leisten. Sattler rannte zu ihm und packte ihn unsanft am Arm.
Bondolfi hob beschwichtigend die Hände: «Beruhige dich, Kurt, die Bemerkung ist doch nicht so schlimm – und ich glaube auch nicht, dass sie von Gion kam.»
«Dieser Bettnässer ist der einzige, der noch keinen rechten Stimmbruch hat.»
«Ich glaube es war ein Mädchen – für mich hat es jedenfalls so getönt.»
«Auch wenn du der Klassenlehrer bist, misch dich nicht ein! Ich bringe dieses Grossmaul schon nicht um.»
Bondolfi wusste nicht, was er hätte unternehmen können, ohne die ohnehin zerbrechliche Freundschaft mit dem im nüchternen Zustand sehr erregbaren Sattler zu gefährden – die paar Schlucke vorhin waren wohl noch nicht bis ins Gehirn vorgedrungen. Er schüttelte den Kopf und ging. Kaum war der lästige Zeuge ausser Sichtweite, nahm der erboste Satyr den Jungen beim Ohr und riss es heftig nach oben. «Damit haben Sie Ihr Schicksal besiegelt. Ich sorge dafür, dass Sie von der Schule fliegen.»
Gion schluckte leer. Ursina hatte die spöttische Bemerkung gemacht, und er wollte sie nicht verpetzen. Sie war ein zierliches Mädchen, schwarzhaarig mit graugrünen Augen, die einzige, die ihm manchmal zulächelte – und er davon Herzklopfen bekam. Die Drohung mit dem Rausschmiss dröhnte in seinem Kopf nach. Er stellte sich vor, wie sein Stiefvater darauf reagieren würde – wohl mit Prügeln und tagelangem Einsperren wie früher, als er noch klein war. Er musste sich irgendwie verteidigen und würgte an einer Antwort herum: «Ich habe kein Wort gesagt …»
«Sie jämmerlicher Feigling haben nicht einmal den Mut, zu Ihren kindischen Bemerkungen zu stehen!» Sattler zog das Ohr derart nach oben, dass Gion sich auf die Zehenspitzen stellen musste. Dabei fiel ihm das Holzstück, das er noch unter dem Arm trug, zu Boden und kollerte die steile Geröllhalde hinunter.
Gion fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er wollte sich wehren, war aber wie gelähmt und brachte es nicht fertig, sich auch nur zu rühren. Vor Scham über seine Feigheit stiegen ihm Tränen hoch. Plötzlich hörte er eine Stimme, die Sattler anschrie: «Du verdammtes Ekel, ich habe keine Angst vor dir.» Mit seinem festgehaltenen Ohr konnte Gion sich nicht nach seinem Retter umsehen. Dann lockerte sich der Griff Sattlers, und ihm wurde schwarz vor den Augen. Er kam erst wieder zu sich, als er wie ein Schlafwandler den schmalen Weg entlangtappte, um die Klasse einzuholen.
Weit brauchte er nicht zu gehen. Bondolfi sass in einer Wegbiegung auf einem Stein und hatte auf ihn gewartet. «Komm, setz dich zu mir. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich dich im Stich gelassen habe. Ist es gnädig abgelaufen?» Bondolfi war der einzige, der die Schüler bis zur Matura duzte, und keiner hatte sich je beklagt. Dazu war der gemütliche Biolehrer zu beliebt.
Gion brauchte ein Weilchen, bis er zögernd antwortete: «Er hat mich am Ohr gerissen und gedroht, mich von der Schule zu schmeissen. Dann ist ein Fremder dazugekommen und hat ihn abgelenkt. Ich habe die Gelegenheit benutzt und bin abgehauen.»
«Na ja, dann wird er wohl bald hier auftauchen. Gehen wir zur Klasse. Sie wartet vorn am Höheggen. Du setzt dich dann besser ein wenig hinter die andern, wo Sattler nicht gleich über dich stolpert, wenn er ankommt, sonst glaubt er noch, du hättest ihm absichtlich ein Bein gestellt …»
Die Mädchen und Burschen warteten auf dem Aussichtspunkt, wo der Abstieg nach Wiesen begann. Ausnahmsweise waren sie still und musterten neugierig Gion, der mit eingezogenem Kopf zwischen ihnen hindurchschlich. Es war seinen Kollegen anzusehen, dass sie gerne erfahren hätten, wie seine Auseinandersetzung mit Sattler abgelaufen war, doch keiner fragte. Sie wussten alle, dass er sowieso nicht antworten würde. Nur Ursina, die ihn ängstlich anstarrte, deutete er mit einer beruhigenden Geste der Hand an, dass er sie nicht verraten hatte. Ihr dankbares Lächeln entschädigte ihn für die erlittene Erniedrigung.
Sattler kam nicht. Bondolfi wurde unruhig und bat drei Burschen, zum letzten Rastplatz zurückzueilen und nach ihm zu sehen. Er merkte nicht einmal, dass er in der Aufregung den Vermissten Satyr nannte. Nach einer knappen halben Stunde kamen die drei atemlos angerannt, und Marcel keuchte: «Sattler ist tot! Er liegt im Geröll unter der kleinen Kuppe, auf der wir unser Picknick gegessen haben – und neben ihm liegt ein Stück Holz mit einer darauf aufgemalten, grässlichen Fratze!»
Bondolfi schickte die Klasse zum Bahnhof von Wiesen, um die Polizei zu verständigen. Er selbst kehrte mit Gion zur Unfallstelle zurück, wo er ihn ausser Sichtweite am Wegrand warten liess. Sattler lag mit eingeschlagener Schläfe etwa fünf Meter unterhalb des Wegs im Geröll. Bondolfi rieb sich verzweifelt die Nase. Nichts sprach gegen einen Unfall, wenn nur die blöde Geschichte mit dem Fremden, der sich eingemischt haben sollte, nicht gewesen wäre …
Er zündete sich eine Zigarette an und brütete vor sich hin. Die roh skizzierte Fratze auf dem Stück Holz neben Sattlers Kopf brachte ihn aus der Fassung. Sie schien seinem Kollegen aus dem Gesicht geschnitten. Das musste das Stück Holz sein, das Gion noch in der Hand hielt, als Sattler ihn anging. Hatte der verängstigte Bursche es tatsächlich fertiggebracht, seinen Peiniger umzubringen und dieses höhnische Zeichen zu hinterlassen? Bondolfi kratzte sich ausgiebig am Kopf. Dann fasste er einen Entschluss. Es war wohl besser, wenn die Polizei diese Botschaft, wenn es überhaupt eine war, nicht zu sehen bekam. Er hob das Holzstück auf und warf es in weitem Bogen den Abhang hinunter. Dann ging er zum wartenden Gion zurück, setzte sich neben ihn und sagte eindringlich: «Merke dir gut, was ich sage: Sattler hat dich zu sich gerufen, weil er glaubte, du hättest ihn verspottet.»
Bondolfi hob den Zeigfinger um die Wichtigkeit der nächsten Aussage zu unterstreichen: «Ich bin bei euch geblieben. Sattler war zu erregt, als dass ich euch hätte allein lassen können. Trotzdem hat er dich gehörig angeschrien. Du hast ihm versichert, die freche Bemerkung, die ihn derart aufbrachte, nicht gemacht zu haben. Ich habe dich unterstützt und behauptet, es sei eine Mädchenstimme gewesen. Er wurde über meinen Verrat noch wütender, hat dich aber laufen lassen. Danach hat er mich angebrüllt, ich solle gefälligst verschwinden, er wolle allein sein.»
Die Geschichte schien glaubhaft. Bondolfi nickte befriedigt und fuhr leichthin fort: «Wahrscheinlich hat er danach einen tüchtigen Schluck Cognac genommen, ist prompt gestolpert und hat sich an einem Stein die Schläfe eingeschlagen.» Er liess seine Botschaft einsickern, bevor er eindringlich beifügte: «Ein Fremder ist nie vorbeigekommen, verstanden?»
Gion sah seinen Lehrer mit grossen Augen an. Es war ein wunderbares Gefühl jemanden zu haben, der ihm helfen wollte. Ausser seiner Mutter hatte das noch nie jemand versucht – bis vorhin der Fremde, der ihn von Sattler befreit hatte. Doch diesmal brauchte er keine Hilfe. Er war sicher, eine Stimme gehört zu haben, die Satyr anbrüllte. Schüchtern brachte er seinen Einwand vor: «Ich bin Ihnen sehr dankbar, nur – ich habe Sattler nichts getan.»
«Das glaube ich dir, doch was hält wohl die Polizei von deiner Geschichte? Ein zorniger und als unbeherrscht bekannter Lehrer ruft vor der ganzen Klasse einen Schüler zu sich, um ihn für eine freche Bemerkung zu massregeln. Der feige Klassenlehrer lässt die beiden allein. Später kommt der Schüler allein nach und behauptet, ein Fremder habe sich in den Streit eingemischt – beschreiben kann er ihn aber nicht, und von uns andern hat ihn keiner gesehen. Später findet man den Lehrer mit eingeschlagenem Schädel unter einem Felsen, und der fremde Schutzengel ist spurlos verschwunden. Das glauben sie dir niemals!» Bondolfi schaute Gion prüfend an, dann fügte er verschwörerisch bei: «Meine Version ist viel überzeugender und angenehmer – für uns beide.»
Gion war beim blossen Erwähnen der Polizei der Angstschweiss ausgebrochen. Ein Verhör würde er, ob schuldig oder unschuldig, niemals durchstehen. Trotz seiner Panik stieg ihm plötzlich der Gedanke hoch, der fremde Helfer könnte Bondolfi gewesen sein. Gesehen hatte er den Fremden nicht, aber die Stimme, die er gehört hatte, war hell und klar. Bondolfis Stimme dagegen war rau und tief. Gion nickte. «Verstanden … aber nochmals, ich habe Sattler nicht umgebracht!»
Bondolfi hatte richtig überlegt. Nachdem er seine Geschichte vorgebracht hatte, fand es die Polizei nicht einmal nötig, Gion separat zu vernehmen. Die Leiche Sattlers wurde in den Helikopter geladen. Zwei Polizisten blieben zurück und begleiteten Bondolfi und Gion bis Wiesen. Dort befragten sie die Klasse gemeinsam. Zum ersten Mal hatte Gion das beglückende Gefühl, dass seine Kollegen zu ihm standen. Eifrig und einstimmig beteuerten sie, Sattler sei schlecht zu Fuss und wahrscheinlich wie immer angetrunken gewesen. Deshalb sei er wohl gestolpert und vom Weg gestürzt. Die Fratze auf dem Holzstück wurde mit keinem Wort erwähnt.
Als der Pathologe reichlich Alkohol im Magen der Leiche fand, wurde der tragische Tod des ehrenwerten Herrn Professor Kurt Sattler als Unfall eingestuft und der Fall diskret geschlossen.