Buch lesen: «Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation»

Schriftart:

Für die Mütter

Gertrud und Beate

Werner Vogd

Dunja Batarilo

Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation

2022

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Themenreihe »Reden reicht nicht!?«

hrsg. von Michael Bohne, Gunther Schmidt und Bernhard Trenkle

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © ryabis – stock.adobe.com

Redaktion: Anja Bachert

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0420-9 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8377-8 (ePUB)

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

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Inhalt

Teil I: Einführung

1.1 Wege zu Vipassana

1.2 Buddha war kein Buddhist – der Weg in den Westen

Kurzer historischer Überblick

Vipassana für Laien – ein Ergebnis der Befreiung aus der Kolonialherrschaft?

Interkultureller Austausch – Vipassana goes West

1.3 Meditation wirkt. Das Allheilmittel des 21. Jahrhunderts?

Meditation – ist das nicht MBSR? Ein Missverständnis

Von Äpfeln und Birnen. Meditation ist nicht gleich Meditation

»Gut fürs Gehirn«. Positive Effekte von Meditation

Teil II: Auf dem Pfad

2.1 Die Suche nach der Überwindung des Leids

Die Suche nach Befreiung – Auswege und Sackgassen

Sehen, was ist

Alles fließt – von anicca und anattā

2.2 Leben, Leiden, Loslassen

Blut, Schweiß und Tränen

Forscher in der inneren Serengeti – das Zusammenspiel von Geist und Körper erkunden

Sturm in der Stille – die Aggregatzustände von dukkha

2.3 Psychosomatischer Frühjahrsputz – saṅkhāras auflösen

Ich beobachte, also bin ich. Heilung durch Vipassana

Loslassen, was belastet

Mit sich selbst durch dick und dünn

Von Langeweile und Lustlosigkeit

Erkenne dich selbst

2.4 Einmal Paradies und zurück. Von bhaṅga und den dunklen Nächten der Seele

Bhaṅga als Lackmustest

Am Ende der Nacht das Morgengrauen

Freund und Feind

Der verkörperte Geist

Adiṭṭhāna – Meditieren im Dampfdrucktopf

2.5 Werde der Weg. Die Lehre von der Bedingten Entstehung

Mitten rein ins Leben

2.6 Der Mittlere Weg im Alltag. Von kleinen Schritten und Stolpersteinen

Hürden auf dem Weg

Geduld statt Schuld

Anstrengungslose Anstrengung

Zentrierung in einer beschleunigten Welt

Teil III: Nach Hause kommen

3.1 Erleuchtung in Wanne-Eickel. Nibbāna ist für alle da

Endstation Sehnsucht

Ich kenne dich, Māra

Alles fließt

In den Strom eintreten

Ich weiß, dass ich nichts weiß – und das ist gut so

Von Lehre und Leere

3.2 Die Rückkehr. Mit Mitgefühl und Liebe der Welt begegnen

Liebe will ins Leben

Last but not least: mettā

Die Liebe ist ein Kind der Freiheit

Von Mitgefühl und Burn-out

Risiken und Nebenwirkungen: Glück

Vergebung, Versöhnung, Verantwortung

Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

Die Alchemie des Leids

Vipassana als Institution – eine Ökonomie der Gnade

3.3 Leben in Gemeinschaft und Unvollkommenheit – Warum wir keine andere Wahl haben

Nachwort von Werner Vogd

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor und die Autorin

Teil I: Einführung
1.1Wege zu Vipassana

Sie sitzen da wie Salatköpfe auf einem Feld: in ordentlichen Reihen, alle im gleichen Abstand voneinander, reglos und schweigend. Die Gesichter nach vorne gewandt, die meisten von ihnen im Schneidersitz. Männer und Frauen aller Altersgruppen meditieren in einem schmucklosen Raum, durch eine unsichtbare Linie nach Geschlechtern getrennt. Ein tiefer Friede liegt über der Szene. Was hinter den geschlossenen Augen, was in den fast bewegungslosen Körpern vor sich geht, bleibt dem Beobachter verborgen. Sie atmen und fühlen – nur deshalb sind sie hier.

Von außen sichtbar: ein in Schweigen gehülltes Gebäude hinter einem Schutzwall von Schildern, die »Bitte Ruhe« und »Edle Stille« verlangen. In einem abgegrenzten Areal um das Haus sind vereinzelt einige wenige Menschen zu sehen, die ihre Runden drehen. Langsam und bedächtig gehend, wie in Zeitlupe, schweigend, in sich versunken. Eine Frau lächelt, einer anderen rollen Tränen über die Wangen, ein junger Mann lehnt sich an einen Baum, der nächste badet das Gesicht in staubflockendurchtanzten Sonnenstrahlen, die durch Buchenblätter fallen. Zur vollen Stunde ertönt ein Gong, der Außenbereich füllt sich. Auch im Inneren des Hauses bewegen sich die Menschen verlangsamt wie unter Wasser, niemand spricht, jeder ist mit sich allein, unter all den anderen.

Was anmutet wie Szenen aus einem Shaolin-Film, ist ein ganz normaler Tag auf einem Kurs in der Vipassana-Tradition. Diese sogenannten Retreats sind in der Szene auch als »Bootcamps« bekannt. Ein solcher Kurs verlangt von den Teilnehmern ein grundlegend anderes Commitment als ein Achtsamkeitskurs, den man zweimal die Woche besucht, oder als Meditationsübungen am Smartphone. Wer hierherkommt, will es wirklich wissen.

Ein Vipassana-Retreat ist eine Art Kloster auf Zeit. Vor Beginn verpflichten sich alle Meditierenden in spe, sich für die Dauer des Kurses an bestimmte Regeln zu halten: nicht zu stehlen, nicht zu lügen, keine Drogen zu nehmen und keine sexuellen Handlungen zu vollziehen. Es sind Verhaltensrichtlinien, wie sie auch viele konfessionelle und spirituelle Gemeinschaften kennen. Die Kommunikation wird eingestellt, auch die nonverbale; Zeichensprache und Gestikulieren sind nicht erwünscht. Die Organisatoren des Kurses schützen diese Stille nach außen hin: Telefone werden ausgestöpselt, Türklingeln abgestellt. Die Teilnehmer ihrerseits verzichten auf jeden Kontakt zur Außenwelt und geben alles ab, was ihre Konzentration stören könnte: Laptops, Bücher, Schreibzeug, ihr Mobiltelefon. Es ist eine kompromisslose Absichtserklärung: Man ist gekommen, um zu meditieren – nichts anderes. Die sogenannte Edle Stille soll dabei helfen, einen inneren Raum zu betreten, in dem es möglich ist zu lauschen. Zeit dazu ist reichlich: zehn Tage lang, zehn bis zwölf Stunden am Tag.


Tagesablauf eines Vipassana-Kurses nach S. N. Goenka
4:00-4:30 Uhr Gong – Aufstehen
4:30-6:30 Uhr Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer
6:30-8:00 Uhr Frühstückspause
8:00-9:00 Uhr Gruppenmeditation in der Halle
9:00-11:00 Uhr Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer
11:00-12:00 Uhr Mittagessen
12:00-13:00 Uhr Ruhepause
13:00-14:30 Uhr Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer
14:30-15:30 Uhr Gruppenmeditation in der Halle
15:30-17:00 Uhr Meditation in der Halle oder auf dem Zimmer
17:00-18:00 Uhr Teepause
18:00-19:00 Uhr Gruppenmeditation in der Halle
19:00-20:00 Uhr Diskurs des Lehrers in der Halle
20:00-21:00 Uhr Gruppenmeditation in der Halle
21:00-21:30 Uhr Fragestunde in der Halle
21:30 Uhr Nachtruhe, Licht aus

Das Kurssetting bildet eine Art Raumschiff, auf dem die Teilnehmer als schweigende Besatzung anheuern. Die Reise, die sie antreten, führt sie nicht ins Weltall, aber in einen ähnlich unbekannten Raum – das eigene Bewusstsein.

Ein Missverständnis, dem viele aufsitzen, die das erste Mal hierherkommen: dass zehn Tage Meditation Entspannung bedeuten. Runterkommen, Ruhe. Meditieren im Sinne von Vipassana heißt jedoch: »Sehen, was ist«. Beobachten. Mit Wellness und Sich-fallen-Lassen hat das nichts zu tun; das aktive Kultivieren der Aufmerksamkeit und Beobachten des eigenen Bewusstseins erfordert hohe Konzentration und unablässige Anstrengung. Ein Vipassana-Kurs ist eine herausfordernde und oft auch konfrontative Lernerfahrung auf vielen Ebenen und daher definitiv keine Wellnesswoche. Nicht umsonst sind auf jedem Kurs einige wenige Menschen dabei, die vorzeitig abbrechen.

Wer tut sich so etwas an und warum? Vipassana-Kurse haben weltweit jedes Jahr mehr Zulauf. Allein im deutschen Sprachraum werden derzeit jährlich über 50 einführende Zehntageskurse angeboten, mit jeweils 70–120 Teilnehmern. Bis zu 7000 Menschen pro Jahr lassen sich hierzulande auf diese Erfahrung ein, sie finden allein über Mundpropaganda zum Kursort. Viele sind Wiederholungstäter, und noch mehr warten sehnsüchtig darauf, einmal teilnehmen zu dürfen. Viele, viele Menschen, die ihren ersten Zehntageskurs absolviert haben, kommen aus dem Retreat und ziehen das Resümee: »Das war das Beste, was ich je gemacht habe.«

Wer sind diese Menschen, was zieht sie in die Kurszentren? Die einen sind von Neugier getrieben, andere wünschen sich mehr Tiefe im Leben. Die einen suchen Ruhe oder Sinn, wieder andere Heilung. Die israelische Soziologin Michal Pagis, die für ihre Doktorarbeit über Jahre hinweg als teilnehmende Beobachterin Kurse besucht hat, kommt zu dem Schluss, dass gut zwei Drittel aller Kursteilnehmer Auswege aus einer Lebenskrise suchen. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Eindruck, den wir im Rahmen unserer Studie »Buddhismus im Westen« gewonnen haben: Viele Teilnehmer berichten von existenziellen Krisen, die der Auslöser waren, sich zum ersten Kurs anzumelden. Trennungen und Trauerfälle, chronische Krankheiten, Erschöpfung – die Liste der Motive ist lang und so vielfältig wie die Menschen, die den Weg zu Vipassana finden. Alle haben sie eines gemeinsam: den Wunsch nach Veränderung.

Viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, sagen über sich selbst, dass sie »auf der Suche« waren – und dass sie in der Vipassana-Meditation etwas gefunden haben. Es ist eine Suche, die oftmals über unmittelbare Symptome oder Leiden hinausgeht. Es ist eine Suchbewegung nach Antworten auf die Fragen, die das Leben selbst an den Menschen stellt. Erfahrungen von Geburt, Krankheit, Altern und Tod werfen Fragen nach der Bedeutung des eigenen Lebens auf, die früher zuverlässig von Religionsgemeinschaften beantwortet wurden. Je weniger man sich diesen traditionellen Zusammenhängen zugehörig fühlt, desto mehr ist man auf sich selbst gestellt in dem Versuch, diese Fragen für sich zu beantworten, das eigene Leben zu bewältigen und ihm Sinn zu geben. Stephen Batchelor, Schriftgelehrter und ehemaliger buddhistischer Mönch schottischer Abstammung, hält dieses »unbedingte Anliegen« sich existenziell zu verorten für eine anthropologische Konstante, die er so zusammenfasst:

»Ich bin begierig danach zu hören, was diese alten Stimmen zu sagen haben, das meine gegenwärtige Verfassung als menschliches Tier auf diesem durch das Weltall rasenden Ball aus Fels und Wasser erhellen könnte.«1

Die Mehrzahl der Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, stammt aus dem deutschen Sprachraum. Viele erzählen davon, in einem kirchlich, oft protestantisch geprägten Elternhaus aufgewachsen zu sein. Davon, dass es einen tragenden Glauben gab, der sie in der Kinderzeit umgab und der später von einem positivistischen Weltbild schwer erschüttert wurde. Einige haben sich bewusst von der Kirche abgewandt, andere konnten einfach nichts mehr damit anfangen.

Wieder andere sehen Vipassana als eine Praxis, die ihren Glauben ergänzt. Petra, seit mehr als zwanzig Jahren Vipassana-Lehrerin, spricht für viele andere, wenn sie sagt: »Ich denke, ich habe immer nach dem Sinn des Lebens gesucht.« Rosa, eine langjährige Meditierende, erzählt von der Verzweiflung, die sie als Schülerin im Biologie-Leistungskurs erfasste: »Wie jetzt, was? – Das sollen alles nur Atome sein, die zusammenhängen?« Der erste Vipassana-Kurs, den sie besuchte, war für sie »eine unglaubliche Antwort«.

Wer einen Zehntageskurs besucht, wird schnell feststellen: Die Halle, in der gemeinsam meditiert wird, ist ein nüchterner Raum. Kein Räucherwerk, keine Bilder, keine Mantras. Die fast klinisch anmutende Klarheit entspricht dem wissenschaftlichen Gestus, mit dem in die Technik eingeführt wird. Schon bald wird deutlich: Es geht in diesem Rahmen nicht darum, irgendwem irgendetwas zu glauben, sondern darum, sich selbst auf die Suche zu machen, dem eigenen Geist auf die Schliche zu kommen. Das scheint gerade für akademisch geprägte, intellektuell ausgerichtete Menschen attraktiv zu sein, die sich von allem, was nach Esoterik riecht, abgestoßen fühlen. Der amerikanische Psychiater und Meditationslehrer Paul R. Fleischman erinnert sich an seine eigene Ambivalenz in Bezug auf seinen bevorstehenden ersten Kurs: »Ich wollte Frieden und Harmonie, aber nicht um den Preis von Kompetenz oder einem lebendigen und selbstverantwortlichen Leben.« Wie viele andere hielt er Meditation für Nabelschau und für eine Praxis, die sich von der Welt abwendet, und hatte entsprechende Vorbehalte: »Ich wollte etwas über Meditation erfahren, aber ich wollte kein Nichtsnutz werden.«2

Solche Ängste sind unbegründet. Niemand, mit dem wir gesprochen haben, hat sich im Laufe der eigenen Meditationspraxis von der Welt abgewandt. – Im Gegenteil: Vipassana-Meditation scheint Menschen vielmehr dazu zu befähigen, ein volleres, intensiveres Leben zu führen, sich gleichsam in die Mitte des eigenen Lebens zu stellen. Mit Egozentrik hat das, wie wir noch sehen werden, nichts zu tun.

Dass diese Technik ursprünglich als Schlüssel zur Erleuchtung gedacht war, spielt für die meisten Meditierenden heute eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist Vipassana für viele Praktizierende ein Mittel, mit den Anforderungen ihres Alltags besser klarzukommen. Für einige wenige, die sich dem Weg bewusst voll und ganz verschreiben, spielt das Thema Erleuchtung wirklich eine Rolle – und durch die Hintertür vielleicht auch für alle. Dieses komplexe Spannungsfeld zwischen Weltlichkeit und Transzendenz, zwischen Körper und Geist, zwischen Zielstrebigkeit und Präsenz wollen wir im Laufe dieses Buches näher erkunden und untersuchen, was die Besonderheit von Vipassana ausmacht.

Was immer es ist, das so viele Menschen zu Vipassana bringt, – es scheint so zu sein, wie eine Kursteilnehmerin auf dem Weg nach Hause sagte: »Da passiert etwas zutiefst Heilsames.«

1.2Buddha war kein Buddhist – der Weg in den Westen

Bis zur Jahrtausendwende hatte Meditation den Ruf, esoterisch zu sein, der Begriff roch nach Mottenkugeln und Mystizismus. Das ist endgültig vorbei. Meditation hat sich zu einem »sichtbaren und wachsenden Phänomen der Mittelschichten in postindustriellen Gesellschaften« gemausert, so die Soziologin Michal Pagis.3 Allein in den Vereinigten Staaten meditieren etwa 30 Millionen Menschen. In Deutschland ist es schwer, an entsprechende Zahlen zu kommen. Laut einer Schätzung der Deutschen Buddhistischen Union bezeichneten sich im Jahr 2008 rund 300 000 Deutsche als Buddhisten; etliche Tausende mehr dürften heutzutage meditieren, ohne sich dieser Glaubensgemeinschaft zugehörig zu fühlen. Fragen um das Konvertieren von einer Religion oder Weltanschauung zu einer anderen spielen dabei keine Rolle. Diese Menschen praktizieren – nicht nur, aber auch – Vipassana.

Die »Zehntageskurse nach S. N. Goenka«, auf die wir uns in diesem Buch beziehen, werden derzeit in 108 Ländern der Welt angeboten, 225 entsprechende Meditationszentren gibt es momentan weltweit – Tendenz steigend. Die Menschen, die Vipassana meditieren oder sich dafür einsetzen, dass diese Kurse für die Teilnehmer kostenlos stattfinden können, bezeichnen sich selbst nicht als Buddhisten. Das ist umso erstaunlicher, weil Vipassana ursprünglich eine Praxis war, zu der über viele Jahrhunderte hinweg ausschließlich eingeweihte Mönche Zugang hatten. Meditationszentren, in denen Laien die Technik erlernen können, sind historisch ein sehr junges Phänomen. Die Methode hat sich von einer in Asien betriebenen Geheimwissenschaft zu einem globalisierten, über alle sozialen Schichten hinweg verfügbaren Angebot entwickelt, und das innerhalb weniger Jahrzehnte.4