Die Rückkehr

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Die Rückkehr
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Dulce Maria Cardoso

Die Rückkehr

aus dem Portugiesischen übersetzt

von Steven Uhly

Titel des portugiesischen Originals:

O Retorno

© Dulce Maria Cardoso, 2011.

By arrangement with Literarische Agentur Mertin,

Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main, Germany.

Funded by the DGLAB/Culture and the Camões, IP - Portugal


Erste Auflage

© 2021 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Steven Uhly

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:

Roland Stieger, TGG, St. Gallen

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

ISBN 978-3-905951-63-9

eISBN 978-3-905951-64-6

Für die Vertriebenen für Luis, meinen Grund

Aber im Mutterland gibt es Kirschen. Große und glänzende Kirschen, die Mädchen hängen sie sich als Schmuck an die Ohren. Hübsche Mädchen, wie es sie nur im Mutterland gibt. Die Mädchen von hier wissen nichts von Kirschen, sie glauben, dass sie wie Pitangas – Surinamkirschen – sind. Selbst wenn es so wäre, ich habe nie gesehen, dass sie sich Pitangas umhängen und einander zulachen wie die Mädchen im Mutterland auf den Fotografien.

Mutter besteht darauf, dass Vater vom Grillfleisch nimmt. Das Essen wird schlecht, sagt sie, diese Hitze verdirbt alles, ein paar Stunden nur und das Fleisch beginnt, grün zu werden. Wenn ich es in den Eisschrank stelle, wird es trocken wie eine Schuhsohle. Mutter spricht, als würden wir heute Abend nicht das Flugzeug ins Mutterland nehmen, als könnten wir morgen während der großen Pause in der Schule die Reste vom Grillfleisch auf Brot essen. Lass mich, Frau. Als Vater die Schüssel wegschiebt, wirft er den Brotkorb um. Mutter stellt ihn wieder hin und ordnet die Scheiben mit derselben Sorgfalt, mit der sie jeden Morgen ihre Tabletten zurechtlegt, bevor sie sie einnimmt. Vater war nicht so, bevor das alles begann. Das kommt von den Schüssen, die man aus dem Viertel weiter oben hört. Und von unseren vier Koffern im Wohnzimmer, die nur noch zugeklappt werden müssen.

Wir werden so feierlich still, dass das Surren des Ventilators ungewöhnlich laut klingt. Mutter nimmt die Fleischschüssel und bedient sich mit denselben zurückhaltenden Bewegungen, die sie sonst für Besucher reserviert hat. Als sie die Schüssel auf den Tisch zurückstellt, lässt sie ihre Hand eine Weile auf dem Tischtuch mit dem Dahlienmuster liegen. Jetzt gibt es niemanden mehr, der uns besuchen kommt, aber auch bevor das begann, waren die Besuche selten. Meine Schwester sagt, ich erinnere mich noch an den Tag, als dieser Hahn da, der Porzellanhahn, der auf der Marmorbank steht, auf den Boden fiel und sein Kamm abbrach. Wir halten uns an unbedeutenden Einzelheiten fest, weil wir bereits begonnen haben zu vergessen. Dabei sind wir noch nicht einmal aus dem Haus. Der Flieger geht kurz vor Mitternacht, aber wir müssen früher dort sein. Onkel Zé wird uns zum Flughafen bringen. Vater wird nachkommen. Nachdem er Piratin getötet und das Haus und die Lastwagen in Brand gesetzt hat. Ich glaube nicht, dass Vater Piratin töten wird. Auch nicht, dass er das Haus und die Lastwagen anzündet. Ich glaube, er sagt das, damit wir nicht denken, dass sie sich ins Fäustchen lachen. Sie – das sind die Pretos1. Allerdings hat Vater Benzinkanister gekauft, sie stehen im Anbau. Vielleicht ist es doch wahr, vielleicht gelingt es dem Vater, Piratin zu töten und alles zu verbrennen. Piratin könnte bei Onkel Zé bleiben, der nicht fortgeht, weil er den Pretos helfen will, eine Nation zu gründen. Vater lacht immer, wenn Onkel Zé von der großartigen Nation redet, die sich durch den Willen eines fünf Jahrhunderte lang unterdrückten Volkes erheben wird. Obwohl Onkel Zé versprochen hat, sich um Piratin zu kümmern, hat es nichts gebracht, Vater findet, das einzige, was Onkel Zé kann, ist, die Familie zu entehren. Vielleicht hat er recht.

Obwohl dies unser letzter Tag hier ist, scheint alles nicht so anders zu sein. Wir essen am Küchentisch, Mutters Essen schmeckt noch genau so fade, uns ist heiß, und die Feuchtigkeit des Cacimbo2 lässt uns schwitzen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir stiller sind. Früher sprachen wir über Vaters Arbeit, über die Schule, die Nachbarn, den Staubsauger, den Mutter in den Zeitschriften bewunderte, von der Klimaanlage, die Vater versprochen hatte, von dem Frisier-Eisen der Marke Babyliss, das die Locken meiner Schwester glätten sollte, von einem neuen Fahrrad für mich. Vater versprach immer alles für das nächste Jahr und hielt es fast nie. Wir wussten das, doch Vaters Versprechen machten uns glücklich, ich glaube, uns genügte die Vorstellung, die Zukunft würde besser sein. Bevor die Schüsse begannen, war die Zukunft immer besser. Jetzt ist es nicht mehr so, und deshalb wissen wir nicht, worüber wir noch reden sollen. Und haben keine Pläne. Vater geht nicht mehr arbeiten, es gibt keine Schule mehr, und die Nachbarn sind bereits fort. Es wird keine Klimaanlage geben, keinen Staubsauger, kein Babyliss-Frisier-Eisen, kein neues Fahrrad. Nicht einmal das Haus. Die meiste Zeit sagen wir nichts. Unsere Abreise ins Mutterland ist fast noch komplizierter als Mutters Krankheit. Auch von Mutters Krankheit sprechen wir nie. Wir sprechen höchstens vom Medikamentenbeutel, der auf der Küchenbank liegt. Wenn einer von uns gleich daneben irgendetwas zubereitet, sagen wir, Vorsicht mit den Medikamenten. So ist es auch mit den Schüssen. Wenn einer von uns sich ans Fenster begibt, Vorsicht mit den Schüssen. Doch anschließend verstummen wir. Mutters Krankheit und dieser Krieg, der uns ins Mutterland führt, sind ähnliche Angelegenheiten durch das Schweigen, das sie verursachen.

Vater hustet, als er eine weitere Zigarette anzündet. Seine Zähne sind gelb, und das Haus riecht sogar dann nach Tabak, wenn er nicht da ist. Ich habe ihn immer AC rauchen sehen. Als Gegé aus den Ferien im Mutterland kam, sagte er, dort gebe es keine AC. Wenn das wahr ist, weiß ich nicht, wie Vater es anstellen wird. Das ist bestimmt Vaters letzte Sorge im Moment, und ich weiß nicht einmal, warum ich darüber nachdenke, denn ich verliere Zeit mit Sachen, die überhaupt nicht wichtig sind, wo ich doch so viele wichtige Dinge habe, an die ich denken müsste. Aber über das, woran ich denke, zu bestimmen, gelingt mir nicht. Vielleicht ist mein Kopf nicht so viel anders als der schwache Kopf von Mutter, die sich ständig in Gesprächen verliert. Ab und zu bittet sie Vater, weniger zu rauchen, doch er nimmt sie nicht ernst, er weiß, dass sie ihre Bitte nach einiger Zeit vergisst, wie sie fast alles vergisst. Die Nachbarinnen ärgerten sich über Mutters Vergesslichkeit, wenn Dona Glória nicht so wäre, wie sie ist, müssten wir ihr gewisse Dinge übelnehmen. Doch Mutter ist, wie sie ist, und die Nachbarinnen konnten ihr nichts übelnehmen, obwohl es ihnen nicht am Willen dazu fehlte. Es war aber nicht nur die Vergesslichkeit. Die Nachbarinnen fanden auch, dass Mutter für mich und meine Schwester nicht gut sorgte, wenn sie sahen, wie wir in den Regenpfützen spielten oder dem TIFA3-Wagen hinterherliefen, arme Kinder, wachsen so verwahrlost auf. Die Pretos liefen hinter dem Wagen her, rissen die Münder auf, um den Nebel einzuatmen, der das Sumpffieber abtötete, aber die Weißen nicht, die Nachbarinnen wussten, dass dieser Rauch nicht gut war und verboten es ihren Kindern, wie sie ihnen auch verboten, im Regenwasser zu planschen, wegen des Fadenwurms. Dona Glória, die Pretos haben eine andere Konstitution und nichts in dieser Hölle kann ihnen etwas anhaben, wir müssen auf die Unsrigen aufpassen, mahnten die Nachbarinnen.

Dass Mutter so ist, daran ist dieses Land schuld. Für sie hat es immer zwei Länder gegeben: dieses hier, das sie krank gemacht hat, und das Mutterland, wo alles anders ist und wo auch Mutter anders war. Vater spricht nie vom Mutterland, Mutter hat zwei Länder, Vater nicht. Ein Mann gehört an den Ort, der ihm zu essen gibt, es sei denn, er hat ein undankbares Herz, so antwortete Vater, wenn man ihn fragte, ob er Heimweh nach dem Mutterland habe. Ein Mann muss seiner Arbeit folgen, wie der Karren den Ochsen. Und ein dankbares Herz haben. Vater hat nur bis zum zweiten Schuljahr gelernt, doch es gibt nichts, was er nicht über das Buch des Lebens weiß, das, wie Vater sagt, am meisten lehrt. Lee und Gegé hatten ihren Spaß, wenn Vater begann, vom Buch des Lebens zu reden, und ich musste mich anstrengen, um mich nicht zu schämen. Es liegt den Eltern wohl im Blut, Dinge zu tun und zu sagen, die ihren Kindern peinlich sind. Oder im Blut der Kinder, dass die Eltern ihnen peinlich werden.

Alle sind schon fortgegangen. Meine Freunde, die Nachbarn, die Lehrer, die Ladenbesitzer, der Mechaniker, der Friseur, der Pfarrer, alle. Auch wir dürften nicht mehr hier sein. Meine Schwester beschuldigt Vater, sich nicht darum zu scheren, was uns zustoßen könnte, und wenn es nach Mutters Willen gegangen wäre, hätten wir das Land schon vor langem verlassen, sogar noch vor Senhor Manuel. Ich glaube nicht, dass Vater sich nicht um uns schert, auch wenn ich nicht verstehe, warum wir noch nicht weggegangen sind, wo uns doch jederzeit etwas Schlimmes zustoßen kann. Die portugiesischen Soldaten kommen hier kaum noch vorbei, und die wenigen, die wir sehen, tragen langes Haar und ungepflegte Uniformen, die Hemdknöpfe offen und die Schnürsenkel der Stiefel lose. Sie schlittern mit den Jeeps durch die Kurven und trinken Cucas4, als wären sie im Urlaub. Für Vater sind die portugiesischen Soldaten gemeine Verräter, aber für Onkel Zé sind sie antifaschistische und antikolonialistische Helden. Wenn Mutter und meine Schwester nicht dabei sind, sagt Vater zu Onkel Zé, anstatt antifaschistisch und antikolonialistisch wäre es gut, wenn die portugiesischen Soldaten antinutten, antibier und antihanf wären, und schon beginnt eine weitere Diskussion zwischen den beiden.

 

Nach dem, was ihm passiert ist, weiß ich nicht, wieso Onkel Zé immer noch die portugiesischen Soldaten verteidigt. Womöglich sind die Ereignisse in Onkel Zés Kopf anders verlaufen, Köpfe ändern sich schnell, das passiert sogar, wenn sie nicht schwach sind wie der von Mutter. Noch heute Morgen hat dieser Tag in meinem Kopf aufgehört, dieser Tag zu sein. Mutter war dabei, Milchreis zu kochen und für einige Augenblicke verwandelte sich dieser Tag in die Sonntage von früher, in einen der Sonntage, als es noch keine Schüsse gab. Der Geruch von kochendem Reis, das Rollo in der Küche halb hochgezogen, kleine Sonnenflecken auf den grünen Kacheln, das Summen der Fliegen am feinen Netz im Fenster, Piratin, die mit dem Schwanz wedelt und darauf wartet, dass sie den Topfdeckel ablecken darf, alles wie an einem dieser Sonntagmorgen. Dass Piratin die Topfdeckel ableckt, hält meine Schwester für eine Schweinerei, bah, wie eklig. Sie zieht dieselben Grimassen, wenn ich die Hände voller Fahrradöl habe, aber die Matsche aus Avocado und Öl, die sie sich ins Haar schmiert, um ihre Locken zu glätten, stört sie nicht, eine ekelerregende grüne Schmiere, mit der sie aussieht wie ein Marsmensch. Ich weiß nicht, ob es mir jemals gelingen wird, Mädchen zu verstehen.

Mutter goss den Milchreis in die rosafarbenen Glastassen und wollte unsere Namen mit Zimt darauf schreiben, aber ihre Hand zitterte. Sie schob die Schuld auf die Tabletten und versuchte es erneut — den Zimt zwischen Daumen und Zeigefinger, die Bögen unserer Initialen schlecht gezogen, und auch darin gab es keinen Unterschied. Unsere Initialen waren nie gut gezeichnet am Sonntagmorgen, wenn wir vom Strand kamen und uns neben dem Tank mit dem Schlauch abduschten. Piratin plantschte im Wasser, das in die Blumenbeete floss, die Strandtücher hingen an der Stachelannone, die Mutter rief aus der Küche, Vorsicht mit meinen Blumenbeeten, das Salz tötet die Rosen. Mutter mag weder Sonne noch Salz. Sie mag Rosen. Auf ihren Blumenbeeten stehen Rosen in allen Farben, Mutter schneidet sie nie ab, ich könnte keine Rose schneiden, die Nachbarinnen hörten nicht auf das, was Mutter sagte, sondern schüttelten den Kopf, Dona Glória hat wirklich Manien, was soll schlecht daran sein, Blumen zu schneiden, sie sind so schön in der Vase. Dass nur das Salz die Rosen nicht tötet, bat Mutter, doch so gründlich wir auch alles abwuschen, am Ende gab es immer kleine Pünktchen, die in den Beeten glänzten. Ein paar Rosen gingen jedes Mal durch das Salz ein.

Mutter leckte sich den Zimt von den Fingern, als wäre er etwas Leckeres, und ging zum Koffer mit der Aussteuer, der im Nähzimmer stand, um eine Tischdecke zu holen. Der Morgen verlief genau wie jeder Sonntagmorgen. So genau, dass ich Lust bekam, in den Garten zu gehen und heimlich eine Zigarette zu rauchen. Bestimmt war auch dort alles wie früher und in den anderen Gärten grillten die Nachbarn und bestrichen währenddessen das Fleisch mit einem in Öl getunkten Kohlblatt und die Kinder der Nachbarn schaukelten auf den Reifen, die an Tauen von den Bäumen hingen und lutschten ihre großen selbst gemachten Eiskugeln. Aber Mutter kam mit dem Dahlientischtuch zurück und begann wieder zu weinen, ich werde meine Aussteuer nie wiedersehen, nie wieder werde ich dieses Tischtuch sehen. Und der Morgen wurde erneut zu unserem letzten Morgen hier, die Gärten blieben leer, in den Feuerstellen stand altes Regenwasser, die Reifen hingen bewegungslos von den Bäumen, als wären sie Augen, die in der Luft hingen und uns Fragen stellten. Unser letzter Morgen. So still trotz der Schüsse. Nicht einmal die Schüsse können das Schweigen unserer Abreise zunichtemachen, morgen werden wir nicht mehr hier sein. Auch wenn wir uns gern etwas vormachen und sagen, dass wir bald zurückkommen, wissen wir, wir werden hier niemals mehr sein. Angola ist vorbei. Unser Angola ist vorbei.

Piratin hebt den Kopf und legt ihn wieder auf meinen Fuß. Der schwarze Fleck an ihrem rechten Auge ist der einzige auf ihrem weißen, kurzen strubbeligen Fell. Piratin empfängt uns immer mit Sprüngen wie alle Hunde, sie hat Schlappohren, die aussehen, als hätte jemand sie mit Gewalt gefaltet. Vater legt das Feuerzeug auf die Dahlien des Tischtuchs, ein Ronson Varaflame, wir haben es im Juwelierladen von Senhor Maia gekauft, der bestimmt auch schon im Mutterland ist. Vater weiß, dass ich rauche, aber ich habe es noch nie in seiner Gegenwart getan, man muss den Respekt wahren, wenn du achtzehn Jahre alt wirst, sehen wir weiter. Das Rauchen gefällt mir gar nicht so gut, aber die Mädchen stehen auf Jungen, die rauchen. Die Mädchen stehen noch mehr auf Jungen mit Motorrädern, aber Vater wird mir nie eines geben, ich muss dir Vernunft in diesen Kopf stecken, sieh nur, das hat ein Motorrad aus meinem Bein gemacht. Die Narbe sieht hässlich aus, am Knochen ist die Haut ganz zerklüftet, doch das konnte mich nicht umstimmen, das erste, was ich mir kaufen werde, wenn ich Geld verdiene, ist ein Motorrad. Bestimmt stehen die Mädchen im Mutterland auch mehr auf Jungen mit Motorrädern, Mädchen sind überall ähnlich, zumindest in solchen Dingen.

Den Rest vom Fleisch gebe ich Piratin, sagt Mutter, als würde der Hund nicht jeden Tag unsere Reste fressen. Meine Schwester zieht das Gummiband, das ihren Pferdeschwanz zusammenhält, ab und streift es sich übers Handgelenk, wenigstens kann Piratin sich nicht beschweren, dass das Fleisch fade schmeckt, sagt sie, während sie ihr Haar mit geübten Bewegungen rafft und das Gummiband vom Handgelenk auf die offene Hand zieht, zweimal um das Haar gewunden, die kürzeren Locken entgehen ihr, blonde Locken dicht an der braunen Haut am Hals, eigentlich sehen sie schön aus, doch meine Schwester hasst sie, Afro-Haar, die Kinder im Viertel sagten ihr das, um sie zu ärgern, die Pretos haben kein blondes Haar, Mädchen nehmen alles ernst, als ob sie gerne beleidigt wären.

Maria de Lurdes, entschuldige dich bei deiner Mutter! Wenn Vater wütend wird, ist meine Schwester Maria de Lurdes, aber in der übrigen Zeit ist sie Milucha. Die Kleine hat wenigstens ein bisschen was gegessen, unsere Mutter verteidigt uns fast immer. Vater wird wütend, wie soll ich sie erziehen, wenn du immer zu ihnen hältst, er schlägt mit der Faust auf den Tisch, das Besteck klingelt auf den Tellern, kling kling, Mutter blinzelt, es könnte ein fröhliches Geräusch sein, wie bei einem Trinkspruch, die Partys im Mutterland haben bestimmt dieselben Geräusche, kling kling, Feste sind überall ähnlich, Mutter steht vom Tisch auf, kling kling, sie stolpert über ihre hohen Absätze, ihre dünnen Beine, die Tabletten nehmen ihr den Appetit, die Nachbarinnen sind nicht mehr da, um über Mutters Kleider zu lachen, kling kling, die Nachbarinnen in den richtigen Kleidern, die von der Schneiderin aus der Burda kopiert waren und die ihre dicken Oberschenkel und Knie frei ließen, jetzt essen wir den Milchreis, sagt Mutter und stellt die Tassen vor uns ab, kling kling, sie setzt sich wieder, ihre Lippen völlig verdeckt vom rosa Lippenstift, ihre Augen noch düsterer unter dem blauen Pulver, das sie sich auf die Lider schmiert, die Nachbarinnen kommentierten, wie sich Dona Glória nur wieder geschminkt hat, die Nachbarinnen mit ihren Gutmenschengesichtern und den Lackierungen, die sie sich im Salon von Dona Mercedes auftragen ließen und die ihre Stirnpartien so hoch machten, dass sie wie Außerirdische wirkten, die Nachbarinnen mit ihren giftigen Zungen, Dona Glória, Sie sind aus dem Alter raus, in dem man das Haar lang tragen kann, die Leute werden sich noch die Münder zerreißen, gewiss wollen Sie nicht wegen einer solchen Kleinigkeit ins Gerede kommen, kling kling. Vor mir steht die Tasse mit dem Milchreis, darauf ein schlecht gezeichnetes R aus Zimt, R für Rui, L für Lurdes, M für Mário und G für Glória. kling kling.

Vater zündet eine weitere Zigarette an, drückt sie aber sofort wieder im Aschenbecher aus, der das Logo von Cuca auf dem Boden trägt, er beklagt sich, nicht einmal die Zigaretten schmecken wie sonst. Dona Alzira hat ihm den Aschenbecher vermacht, ihr Mann war zwanzig Jahre lang Zusteller in der Bierbrauerei und bekam Aschenbecher geschenkt, obwohl er in seinem Leben nicht eine Zigarette geraucht hat, im Haus von Dona Alzira standen überall Aschenbecher für die Besucher, vielleicht haben Dona Alzira und ihr Mann sogar einen Koffer voller Aschenbecher ins Mutterland mitgenommen. Maria de Lurdes, wiederholt Vater wütend, meine Schwester weiß, dass sie sich bei Mutter entschuldigen muss, ich wette, ihr gehen Rachepläne durch den Kopf. Die Mädchen im Mutterland sind bestimmt auch rachsüchtig. Sie wären keine Mädchen, wenn sie es nicht wären.

Ich würde gern nach Brasilien oder nach Südafrika ziehen. Wenn wir nach Amerika zögen wie Senhor Luis, das wäre wunderbar. Das Leben in Amerika ist bestimmt gut. Der Flug nach Amerika würde noch länger dauern, ich habe Angst, dass mir im Flugzeug schlecht wird wie Gegé, als er in den Ferien ins Mutterland flog. Als wir klein waren, nahm Vater uns zum Flugzeuge-Schauen mit, wir saßen auf der Terrasse des Flughafens und tranken Limonade, näher sind wir dem Fliegen nie gekommen. Wir mochten sogar den Lärm der Flugzeuge. Auf dem Heimweg im Auto wollte meine Schwester spielen, dass wir im Flugzeug sitzen, man muss sich nur vorstellen, dass der Wagen durch die Luft fährt, niemand kann sich so gut dumme Spiele ausdenken wie Mädchen. Gegé hat im Flugzeug gekotzt, das ist so normal, dass es sogar extra Tüten dafür gibt, Gegé ist ein Lügner, aber ich glaube, da hat er die Wahrheit gesagt. Wenn mir schlecht wird, will ich Vater gar nicht anschauen, das wäre so peinlich, ein Mann kotzt nur, wenn er betrunken ist oder etwas Verdorbenes gegessen hat.

Die Sonne taucht unter den niedrigsten Ästen des Mangobaums auf und vertreibt die Schatten auf den Liegestühlen im Hof. Wir werden nie wieder unseren Mittagsschlaf auf den Liegestühlen halten, Vater wird sich nie wieder auf die Holzbank setzen, damit der Barbier ihm das Haar stutzt und ihn rasiert, ein weißer Barbier, nur ein Verrückter würde es zulassen, dass ihm ein Preto ein Messer an den Hals setzt. Mein Bart rechtfertigt noch keinen Barbier, in meinem Alter trug Vater schon den Bart, den er heute hat, wir wurden früher zu Männern, sagte der Barbier, es ist gerade so, als würde das Lernen sie langsamer machen. In der Stimme des Barbiers lag eine gewisse Verachtung, Lernen ist das beste Instrument, das wir ihnen geben können, sagte Vater wütend und beendete das Gespräch. Der Barbier ist schon fort, bestimmt ist er im Mutterland und erzählt den Zwergenwitz. Ein Betrunkener sieht, wie eine Gruppe von Zwergen aus einer Bar kommt, sieh nur, sieh nur, die Tischfußballer gehen heim, Vater musste bestimmt lachen, als der Barbier den Witz zum ersten Mal erzählte, und er erzählte ihn jedes Mal, wenn er zu uns kam, es gelang ihm, immer wieder über denselben Witz zu lachen, Passen Sie auf, dass Ihnen nicht die Hand ausrutscht und Sie mir die Kehle aufschlitzen, ermahnte Vater ihn. Der Barbier ist bestimmt im Mutterland, vielleicht sehen wir ihn dort wieder, Vater sagt, das Mutterland ist nicht groß, gut möglich, dass wir uns dort alle treffen, vielleicht sehe ich Paula wieder. Wenn ich es recht bedenke, will ich sie nicht wiedersehen, Paula ist nicht einmal so hübsch und überhaupt nicht lustig, das einzige, was sie für ihr Leben gern tut, ist, Schaufenster anzusehen, die vielen Stunden, die ich mit ihr vor dem Schaufenster von Sarita gestanden und Kleider angeschaut habe, sie sind so hübsch, nicht wahr, gefällt dir das blaue besser oder das grüne. Ich wusste es nicht, aber Paula, sag schon, sag schon. Das grüne. Und Paula, aber das blaue ist viel schöner, Jungs sind alle gleich, haben überhaupt keinen Geschmack. Ich muss die Mädchen aus dem Mutterland kennenlernen, wunderschöne Mädchen mit Kirschen an den Ohren und Tanzschuhen an den Füßen.

Mutter isst den Milchreis nicht, ihr fehlt Zitrone, während sie die gestickten Dahlien auf dem Tischtuch streichelt, sagt sie, Ich hätte nie gedacht, dass es eines Tages niemanden in diesem Viertel mehr gibt, den ich um eine Zitrone bitten kann. Ich glaube, der Milchreis hat zu lange gekocht, doch ich sage nichts und schlucke ihn hinunter wie Medizin. Mutter beginnt das Gespräch, das sie sonst mit den Besuchern führte, dies ist eine der Tischdecken aus meiner Aussteuer. Vielleicht ist es die angemessenste Unterhaltung, denn wir wirken selbst wie Besucher. Aber wir sitzen am Küchentisch, und in die Küche kamen die Besucher nie. Als ich hierherkam, um bei eurem Vater zu sein, brachte ich den gelben Koffer mit, er war voll mit meiner Aussteuer, alles hatte ich selbst gemacht, ich hatte es so eilig, hierher zu kommen, tagsüber arbeitete ich auf dem Feld und abends stickte ich, so eilig hatte ich es, dass ich kaum schlafen konnte, ich konnte nicht glauben, dass ich ein Haus mit Wasserhähnen haben würde, unmöglich! Weil ich es so eilig hatte, musste ich diese Dahlie dreimal wieder auftrennen, hier sieht man noch immer den zerstochenen Stoff, ein Haus mit Wasserhähnen bedeutete, dass ich nie wieder Wasser von der Quelle würde schleppen müssen, wie habe ich diese blauen Krüge gehasst, einen auf dem Kopf und einen in jeder Hand, vom Haus zur Quelle und von der Quelle zum Haus, der Weg nahm kein Ende mit so viel Gewicht, im Dorf gab es kein einziges Haus mit Wasserhähnen, ein Haus mit Wasserhähnen, aus denen Wasser käme, wann immer man wollte, das war nur weit weg von diesem Elend möglich, an einem so entfernten Ort, dass nicht einmal die Kälte dorthin gelangte, ich glaubte gar nicht, dass es hier keine Kälte gab, zwei gefütterte Decken stopfte ich in den Koffer mit der Aussteuer, an diesem Punkt lachte Mutter immer, aber heute nicht. Der Koffer mit der gelben Kunststoffschicht und den schwarzen Rhomben, in dem die Aussteuer herkam, steht neben der Nähmaschine und bleibt hier. Heute gelingt es Mutter nicht, darüber zu lachen, dass sie gefütterte Decken in diese Hitze mitbrachte. Von der Aussteuer wird Mutter nur die Leinendecke mitnehmen. Es ist nicht ihre Lieblingsdecke, doch es ist diejenige, die im Notfall das meiste Geld einbringt.

 

Ich selbst kann weder die Sammlung der Großen Abenteuer von Kit Carson, noch die von Captain America mitnehmen, aber die Poster von Brigitte Bardot und von Riquita mit dem Autogramm nehme ich mit. Ich habe beide sorgfältig zusammengerollt, damit sie dort gut ankommen. Als ich candengue5 war, küsste ich das Poster von Brigit Bardot, ich suchte ihren Mund und schloss die Augen, heiße Küsse waren das, erzählt habe ich das nie jemandem, es gibt Dinge, die selbst Freunde nicht wissen dürfen. Gegé hat gesagt, dass alle Mädchen im Mutterland Hosen und Stiefel bis zu den Knien tragen wie Riquita, Riquita tu és bonita, Riquita já és rainha e Angola te acredita6. Das Autogramm bekam ich von Riquita nach dem Festzug auf der Marginal7, leicht war das nicht, es war so voll, dass ich es beinahe nicht geschafft hätte, bis zu ihr vorzudringen. Riquita ist bestimmt auch schon fortgegangen.

Meine Schwester kann sich nicht entscheiden, ob sie die beiden Sonderausgaben der Fotonovelas – Die Kameliendame und Romeo und Julia -, oder die Schallplatten von Percy Sledge und Sylvie Vartan mitnehmen soll. Ich müsste eigentlich La Décadanse mitnehmen, es gibt keine bessere Musik zum Tanzen als La Décadanse, das ist wie Hexerei, wenn La Décadanse spielt, können wir die Mädchen an uns drücken und am BH-Verschluss herumfummeln. Lee sagt, Mädchen seien leicht herumzukriegen, vorausgesetzt man legt die richtige Platte auf, und dass sie noch viel verrückter als wir danach sind, uns ihre Brüste zu zeigen, wenn es nicht so wäre, würden sie nicht so enge Shirts tragen und sich nicht so hochrecken. Ich vermisse es, mit Paula zu La Décadanse zu tanzen, mit Lee und Gegé auf dem Fahrrad in die anderen Viertel zu fahren, um Mädchen zu gucken, die Filme, die im Miramar laufen, beim Ganas auf der Terrasse mit Ferngläsern anzuschauen. Gegé sagt, im Mutterland gebe es keine Freiluftkinos, ich verstehe überhaupt nicht, wie es sein kann, dass im Mutterland alles besser ist als hier, wenn es dort keine Freiluftkinos gibt.

Vater nimmt das Fleischmesser und beginnt, mit der Spitze eine der Dahlien aufzuritzen, die Mutter gestickt hat. Ganz langsam, als gäbe es eine richtige Art und Weise, Dahlien aufzuritzen, und als hätte Vater sie genauso gut gelernt wie Mutter es gelernt hat, sie zu sticken. Sie streckt noch die Hand aus, um ihn daran zu hindern, doch mehr tut sie nicht. Nichts bleibt hier übrig, sagt Vater und schiebt die Messerspitze Richtung Mitte der Dahlie, wo die Mutter beim Sticken Dunkelbraun benutzt hat, nicht einmal den Staub an den Schuhen lasse ich hier, die verdienen nichts. Die – das sind die Pretos. Alle. Diejenigen, die wir nicht kennen und die keinen Namen haben, und diejenigen, die wir kennen und die Namen aus dem Mutterland haben, die sie nicht korrekt aussprechen können, Málátia, Ádárbeto, man muss schon sehr matumbo8 sein, um nicht einmal den eigenen Namen richtig sagen zu können.

Vater nennt sie wegen jeder Kleinigkeit matumbos, aber im Scherz. Er lagert die Benzinkanister im Anbau und hat geschworen, das Letzte, was er in diesem Land tut, wird sein, alles zu verbrennen, was er besitzt, aber ich glaube das nicht. Wir sollten alle gemeinsam zum Flughafen fahren. Wir sollten sofort fahren, nicht einmal auf Onkel Zé sollten wir warten. Vater sollte nicht hierbleiben und alles verbrennen, das ist viel zu gefährlich, die Güter der Kolonisten, die fortgehen, gehören automatisch der zukünftigen angolanischen Nation, kein Kolonist darf seinen Besitz zerstören, wenn sie Vater dabei erwischen, wie er das Haus und die Lastwagen in Brand steckt, töten sie ihn, dann töten sie uns, dann vierteilen sie uns mit Machetenhieben und werfen unsere Stücke in einen Graben, oder sie spießen uns auf Pfählen am Straßenrand auf, letzte Woche erst stand plötzlich der Kopf eines Weißen auf einen Pfahl gespießt an der Straße nach Catete9. Hier bleibt nichts zurück, sagt Vater und beginnt, die nächste Dahlie aufzuschlitzen.

Mutter schaut nach draußen, ihre Augen sind unruhig unter dem blauen Lidschatten, es macht ihr wohl nichts aus, dass Vater die Tischdecke zerschneidet, sie wird sie ohnehin nicht mitnehmen, sie ist wohl eher besorgt, weil Onkel Zé sich verspätet, es ist immer schwierig gewesen, zu erraten, was in ihrem Kopf vorgeht. Und seitdem das alles hier begonnen hat, ist es auch schwierig, zu erraten, was in Vaters Kopf vorgeht, im Kopf meiner Schwester. In meinem Kopf. Als wären wir alle Mutter ähnlich geworden. Vater trennt die Dahlien auf, und Piratin wälzt sich auf dem Rücken, sie träumt wohl, denn sie bewegt die Pfoten sehr schnell, als befände sie sich in einer Welt, die auf dem Kopf steht, und würde den Kindern in ihren Seifenkisten hinterherrennen. Es gibt keine Kinder in Seifenkisten mehr. Wir schweigen weiter, doch wir bleiben am Tisch sitzen. Das Messer, das lang und scharf ist, schiebt sich klein und harmlos in Vaters riesiger, wütender Hand voran. Vater ist fast zwei Meter groß und wiegt mehr als hundert Kilo, wo immer er sich aufhält, erscheint alles kleiner, die Sitzfläche seines Stuhls beult sich nach unten aus, wer wird sich dort hinsetzen, wer wird unsere Plätze einnehmen, wie lange wird es dauern, bis sie dieses Haus besetzen, aus welcher Richtung werden sie kommen, werden sie durch den Hauseingang oder durch die Garage herein-kommen, wie lange wird es dauern, bis sie den Trick mit dem Stoß herausfinden, damit der Ventilator aufhört zu quietschen, der Ventilator bleibt auch hier, im Mutterland benötigen wir keinen. Dort ist jetzt Sommer, doch Mutter sagt, es sei nicht lange heiß, und im Herbst werde es bereits kalt.

Mutter muss es wissen. Es war Herbst, als sie mit der Vera Cruz herkam, mit Schleifen in den Zopfspitzen – wie auf dem Porträt, das im Wohnzimmer an der Wand hängt. Mutter wird niemals mehr zum Porträt schauen und erzählen, wie es damals war, es regnete an dem Tag, als ich meine Heimat verließ, meine Eltern brachten mich in einem gemieteten Auto zum Bahnhof. Hier fährt man nicht mit dem Zug, das heißt, die Pretos fahren per Anhalter mit und klammern sich an die Türen der Waggons, aber das ist nicht Zugfahren. Ich sah meine Eltern zum letzten Mal am 30. November 1958, die Bahnhofsuhr zeigte sieben Uhr zehn an, meine Eltern verabschiedeten sich von mir ohne Umarmung, das tat man damals nicht, für die Reise gaben sie mir einen Beutel mit Schafskäse, Brot und geschälten Maronen mit, Gott hab sie selig. Wenn Vater nicht alles verbrennt – was wird dann aus dem Porträt ohne Mutter mit ihren Geschichten über den Tag, an dem sie aus dem Mutterland herkam, über die neun Tage mit dem Schiff, über die Ankunft, es war so windig, dass der Staub herumwirbelte, als würde der Teufel blasen, roter Staub, noch nie hatte ich etwas Derartiges gesehen.