Buch lesen: «Das Lied der Eibe»
„Es gibt drei Bereiche der Welt,
die jeder für sich unendlich sind:
das weite All, der tiefe Ozean –
und dein Inneres, mein Kind.“
(„Bumm, bumm, bumm“, 2015)
1. Auflage April 2016
2. Auflage November 2016
3. Auflage Juni 2017
Copyright © 2015, 2017 by Edition Roter Drache.
Edition Roter Drache – Holger Kliemannel, Haufeld 1,
07407 Remda-Teichel
edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org
Buchgestaltung: Edition Roter Drache
Titelbild- und Umschlaggestestaltung: Milan Retzlaff,
Lektorat: Sarah Bräunlich
Gesamtherstellung: Jelgavas tipografia, Lettland.
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.
ISBN 978-3-964260-10-9
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Vorwort des Herzens
Vorwort des Verstandes
Kapitel I | Mythen, Götter, Menschenwege |
Kapitel II | Vom Werden, Erkennen und Handeln |
Kapitel III | Aus dem Vergessen |
Kapitel IV | Gedanken zur Gegenwart |
Kapitel V | Die erste Acht: Freyrs Schöpfung |
Kapitel VI | Das liebe Vieh |
Kapitel VII | Mutter Materie |
Kapitel VIII | Riesen-Rumms |
Kapitel IX | Göttliches Gefüge |
Kapitel X | Der Faktor Zeit |
Kapitel XI | Kunst, Können, Leidenschaft |
Kapitel XII | Kleine und große Gaben |
Kapitel XIII | Wonnen der Vollendung |
Kapitel XIV | Die zweite Acht: Hels Geheimnis |
Kapitel XV | Was noch kommt |
Kapitel XVI | Das Nornenmodell |
Kapitel XVII | Allein die Stille |
Kapitel XVIII | Verheißung |
Kapitel XIX | Vom Dunkel ans Licht |
Kapitel XX | Aus dem Kessel |
Kapitel XXI | Hier und jetzt |
Kapitel XXII | Sonnenhochzeit |
Kapitel XXIII | Magie – das unverdaute Erbe |
Kapitel XXIV | Die dritte Acht: Tyrs Beispiel |
Kapitel XXV | Das Ziel und sein Weg |
Kapitel XXVI | Pferdekräfte – Menschenwerke |
Kapitel XXVII | Lebensgrundlagen |
Kapitel XXVIII | Endlich daheim |
Kapitel XXIX | Der ewige Wandel |
Kapitel XXX | Wenn die Welt kopfsteht |
Kapitel XXXI | Feuer für den Stamm |
Kapitel XXXII | Runenraunen |
Kapitel XXXIII | Scheibenwelten – Ratestäbe – Zauberträger |
Kapitel XXXIV | Verästelungen |
Kapitel XXXV | Das Ältere Futhark: Tabellarischer Überblick |
Der Autor
Emotionale Einleitung
VORWORT DES HERZENS
Es heißt, dass die Achse der Welt ein Baum sei, ja sogar, dass alle denkbaren Welten an diesem einen Baum hingen. So groß soll er sein, dass niemand sieht, wohin seine Krone ragt, geschweige denn, wo er wurzelt: zu tief das eine, zu hoch das andere… jedenfalls für unsere Sinne, Überlegungen und Berechnungen. Die Altvorderen nannten ihn „Winteresche“, weil er immer grünt, doch nur wenige wissen heute, was damit wirklich gemeint war: die ewige Eibe – die, an der jene neun Welten hängen, von denen die alten Mythen des Nordens erzählen. Und wer weiß, wie viele Welten, Kosmen, Universen oder Kontinua es noch sind!
Erzählt wird, neben vielen anderen Geschichten, dass ein eifriges Eichhörnchen den Stamm dieser Weltachse hinauf- und hinunterrenne, um Postdienste zu verrichten. Post von wo nach wo, wessen Post wohin? Ein Wind entfachender Adler wohne in den Wipfeln des Baumes, heißt es, und ein übel gelaunter Drache nage an dessen Wurzeln – und die beiden könnten einander nicht leiden und führten daher so etwas wie einen Flame War (wie wir heute sagen würden): Den vermittle das Eichhörnchen. Lasst euch ein Geheimnis verraten! Das Hin- und Hertragen von Schmähworten zwischen Feder- und Schuppenvieh ist nicht der einzige Job unseres flinken Eibenläufers. Jedes Mal, wenn das Eichhörnchen hinauf- oder hinunterflitzt, kommt es an allen Welten vorbei, die an der großen Eibe hängen. Und da kriegt es so mancherlei mit! Bereits seit vielen hundertundneunquadrilliarden Nächten oder noch mehr Jahren und Jahrzigtausenden schon! Niemand sonst hat eine solche Kenntnis der Zusammenhänge außer vielleicht Frigg oder Odin, aber das sind Große, von denen ich an anderer Stelle erzähle. Lasst uns die Spuren des kleinen Postbötchens untersuchen…
Einem (unbestätigten) Gerücht zufolge war es sogar das Eichhörnchen selbst, dem unterwegs vor lauter Eile die einen oder anderen Notizen aus der Tasche gerutscht sind. Denn nicht einmal ein Eichhörnchen kann sich so viel merken, dass es sich – bei einem solchen Auftrag – nicht wenigstens ab und zu auch Notizen machen müsste. Und diese Notizen waren es dann, die ein Schamanengott fand, der sich an einem Ast unseres wunderbaren Weltenbaums aufgehängt hatte! Zu Selbstfindungszwecken! Was geborene Mannsbilder halt manchmal so tun, um ein Wissen zu erlangen, das sie als Nichtmenstruierende vermissen! Halb verhungert und verdurstet, verwundet, fiebrig und von Sinnen hielt er, der große Sucher, den manche als Odin kennen, die in Holz geritzten Merkzeichen für… ja, für Runen. Vielleicht waren es ja welche. Jedenfalls sind es – spätestens mit des großen Suchers Eingebung, Ideenreichtum und Hilfe – Runen geworden!
Von ihnen sei die Rede hier. 24 an der Zahl, erzählen sie, aufgeteilt in drei Achterreihen, die Geschichte der Welt – und noch mehr. Wie damit umzugehen ist, woran was hängt und was wie miteinander verbunden ist – und was wir tun sollen oder besser: können, wenn mal wieder alles schiefläuft. Manche Leute glauben, die Runen verraten die Zukunft – dafür müsste es aber erstmal eine solche geben… Darüber lachen die Nornen, die Schicksalskräfte selbst! Auch davon will ich erzählen: wie und warum wir uns eine Zukunft ersparen können – und damit viel besser fahren als mit dem Glauben an eine solche! Fest ist das Netz, das die drei Weberinnen fügen – aber nichts so festgelegt, dass du nicht daran ziehen und dich daran entlanghangeln könntest – oder wo hindurchschlüpfen, wo das geeignete Loch ist, der Weg zum nächsten Knoten… Kein Mensch, nicht einmal Seherinnen oder weise Frauen sind in der Lage, dieses Netz in seiner Gesamtheit zu sehen – aber seine Struktur können wir erahnen, seine Biegungen und Windungen erspüren und manches von seinem Verlauf: den nächstliegenden Faden auf unserem persönlichen Lebensweg. Die Entscheidungen, die wir treffen (einschließlich derer, die wir vermeiden oder denen wir ausweichen – wir treffen damit trotzdem welche), sind immer die unseren. Unsere eigenen. Diese Freiheit nimmt uns niemand ab, kein Mensch, kein Tier und kein Gott. Die müssen wir aushalten. Aber genau dabei auch können sie helfen: die Runen. Sie weisen Wege. Lassen uns erkennen, welche Wahl wir haben: Die ist meist vielfältiger, größer und reichhaltiger, als wir meinen. Gewusst wie!
Davon handelt dieses Buch. Ich, Eibensang, schrieb es für Lesekundige, die lernen wollen, wie sich Herz und Verstand verbünden lassen und wie Verwandlungen funktionieren: zum Beispiel die vom Pechpilz zum Glücksvogel (das war eine, die ich durchmachen durfte und die mir gelang) oder das wundervolle Kunststück der Wiedergeburt, und zwar noch in diesem Leben (…was mir ebenfalls glückte). Mit Wiederholung! Egal, woher du kommst, was dich trug, trog und trägt; egal auch und erst recht, wie dein Körper beschaffen sein mag oder seine Neigungen und die deiner Seele. Die Gottheiten, die uns leiten, halten sich nicht auf mit unseren Schranken und Grenzen – im Gegenteil fordern sie uns auf und ermutigen uns, diese zu erweitern. Dafür vergaben sie Gaben: jedem Geschöpf mindestens eine von Geburt an – weitere wären erlernbar. Auch davon soll noch die Rede sein. Meine ist die: Ich kann nur Worte machen. Zauberworte an dein Herz. Der Zauber, wenn du es öffnest, ist der deine. Aber die Belohnung ist unsere, gehört uns zusammen: wo immer wir einander helfen, erahnen – und erkennen.
Bragishof, im Frostmond (Januar) 2015
Rationale Einleitung
VORWORT DES VERSTANDES
Dieses Buch ist ein Versuch, die Welt zu erklären anhand eines alten germanischen Zeichensystems, über dessen Herkunft, Sinn und Geschichte schon viel Widersprüchliches und manch Zweifelhaftes geschrieben wurde – und bis heute jede Menge Mist kursiert. Um etwas Brauchbareres zu bieten, mache ich meine Quellen kenntlich und alles, was ich daraus ableite, so nachvollziehbar wie möglich. Dies ist keine Untersuchung darüber, was historische „Germanen“ mit Runen anstellten, sondern was sich anhand dessen, was wir wissen, heute daraus machen lässt. Inspiriert von den alten Zeichen und in jahrzehntelanger Praxis entwickelt und erprobt, stellt dieses Buch ein Wertesystem vor, ein gegenwartsbezogenes Lebensmodell: zum Nachfühlen, Mitdenken, Ausprobieren – und zur Diskussion.
Ich kenne zwei Arten von Runenbüchern. Die einen haben wissenschaftlichen Anspruch, die anderen enthalten esoterische Interpretationen. Die einen scheren sich kaum um Deutungen, die anderen selten um Fakten. Die einen sind so trocken, dass es staubt, die anderen oft so schwammig und sumpfig, dass es zumindest streckenweise in Beliebigkeit ausartet. Wissenschaftliche Werke über Runen beschränken sich auf Angaben, die (nach jeweiligem Forschungsstand) archäologisch nachweisbar sind. Hin und wieder muss ich mich darauf beziehen, da strukturell nachvollziehbare Methodik, die jegliche Wissenschaft auszeichnen sollte, zum Skelett auch meines Wertgefüges gehört. Ich selbst bin kein Wissenschaftler, nur gelernter Träumer – der allerdings mit offenem Auge durch die Welt tanzt.
Damit gehört dieses Sachbuch zu den esoterischen dieser Art. Ich schrieb es, weil keines der mir bekannten eine Rezeption ermöglicht, die ich auch unerfahrenen Neugierigen bedenkenlos empfehlen kann. (Selbst die besseren und anspruchsvolleren Runenschmöker empfehlen zum Beispiel fast ausnahmslos „Runen-Yoga“, das Nachstellen von Runenformen mit dem eigenen Körper, ohne die rassistische Intention und ausschließlich militaristischen Quellen solcher Übungen auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu erklären. So machen sie sich gerade für Neulinge unüberprüfbar und werden zu Denkfallen-Trägern – und für spirituelle Sinnsuche und Lebensbewältigung sogar zu heimlichen Giftquellen. Warum ist so etwas Gift? Weil das Tun seiner Quelle Energie zuführt und aus ihr überträgt, und das Runenstellen hat nun mal nur eine einzige: die Intention, rassistischen Ansichten mittels obskuren Turnereien einen okkulten Anstrich zu verleihen.) Als ich 1984 zum ersten Mal auf Runen stieß – in einem denkbar miserablen Eso-Machwerk, das mir ein Kumpel unversehens in die Hand gedrückt hatte –, war ich noch bekennender Atheist. So sehr mich die Runen auf Anhieb faszinierten, so vehement stieß mich das menschen- und insbesondere frauenfeindliche Gegeifer ab, das als „Erklärung“ aus dem ariosophischen Ideologiekonstrukt quoll wie Eiter aus schwärenden Wunden. Igitt, jawoll. Was Ariosophie bedeutet und wie diese esoterische „Rassenlehre“ bis heute in fast jedem esoterischen Sehnsuchtswinkel (insbesondere magischer Runenkundlerei) zumindest in Spurenelementen vor sich hingiftelt, erfuhr ich erst viel später. Fortgeschrittene erkennen solche Fallen oft nur schwer – für Unkundige ist es fast unmöglich.
Was ich ebenfalls erst in allmählicher, jahrelanger Sichtung erfasste, war die tatsächliche Quellenlage, die sich als verstreuter Scherbenhaufen quer durch die Geschichte erstreckt. Ich sammelte die brauchbaren Stücke, reinigte sie und baute ein Haus daraus. Als Mörtel nahm ich meine Anschauungen. Einige Steine, die noch fehlten, meißelte ich selbst. Das Ergebnis mag darum nicht „germanisch“ genannt werden können – in dem Sinne, dass Angehörige derjenigen Sprachkulturen, die wir heute „germanisch“ nennen, je so gelebt hätten. Ich bin allerdings der Meinung, dass es dazu passt. Nicht nur, weil ich selbst Ásatrú bin und deswegen all mein Tun und Lassen als „germanisch“ bezeichne. Ich empfehle es auch jenen, die auf derlei Bezeichnungen weniger Wert legen – und unabhängig davon, welche Götter sie im Herzen tragen oder ob.
Bragishof, im Blütenmond (Juli) 2014
Bildstein auf Gotland, Schweden
KAPITEL I
Herkunft der Runen, germanische Kultur und deren teilweise problematische Rezeption von außen, vom Umgang mit spirituellen Aspekten und vom Wert der Menschenrechte
MYTHEN, GÖTTER, MENSCHENWEGE
Ein großer Teil dessen, was ich aus den 24 Sinnzeichen des ältesten germanischen Runensystems herauslese, mag wissenschaftlich nicht belegbar sein. Gesichert ist dies: Nur etwas mehr als ein Fünftel aller historischen Runeninschriften lässt sich dem Älteren Futhark zuordnen – dass es sich dabei überhaupt um ein System handelt, ist gerade mal durch eine Handvoll Funde belegt. Nur diese wenigen zeigen ein jeweils komplettes Älteres Futhark: mal mit der Rune Othala, mal mit Dagaz am Ende. Die ansonsten feste Reihenfolge der Zeichen muss (unter Runenkundigen) verbindlich gewesen sein, denn an ihr orientiert sich eine bestimmte Art von Runenverschlüsselung aus derselben Ära, die sich nur über die entsprechende Kenntnis entziffern lässt.
Ideenstiftend für die Runen waren höchstwahrscheinlich italische, etruskische sowie phönizische Alphabete. Unbekannt ist, wie sie aus dem mediterranen in den skandinavischen Raum gelangten. Wahrscheinlich waren Reisende aus dem Norden einfach davon begeistert, dass die Leute im Süden miteinander sprechen konnten, ohne dabei selbst anwesend sein zu müssen – Zauber der Schrift! Die Reihenfolge der nordischen Adaption wurde eine eigenständige, nur die Benennung erfolgte wie beim Alphabet, dem ABC, nach der Anlautfolge der jeweiligen Eingangszeichen. Bei Runensystemen: F-U-TH-A-R-K (Fehu, Uruz, Thurisaz, Ansuz, Raidho und Kenaz). Deswegen heißen typische Runensysteme „Futhark“.
Obwohl es sich nicht belegen lässt, ist es wahrscheinlich, dass Runen zunächst in Holz geritzt wurden: So erklärt sich die Abwesenheit waagrechter Striche. Gegen die Maserung geritzt, werden senkrechte und schräge am besten sichtbar: Ausschließlich aus solchen besteht das Ältere Futhark. Die ältesten Funde zeigen allerdings nur wenige Zeichen, die obendrein sehr krakelig ausgeführt sind – so sehr, dass bei manchen noch strittig ist, ob es sich dabei überhaupt schon um Runen handelt, also um Zeichen eines bereits bestehenden Älteren Futhark, oder nur um ungelenke Einkerbungen, deren mögliche Bedeutung dann noch viel unklarer wäre.
Das Ältere Futhark war vom zweiten bis zum achten Jh. in Gebrauch – das ist die Zeit, aus der es entsprechende Funde belegen. Die gemeingermanischen Namen seiner 24 Zeichen sind uns aus erst viel später entstandenen Liedtexten bekannt, von denen sich nur Abschriften aus bereits mittelalterlicher Zeit erhielten, die schon lang keine heidnische mehr war. Dennoch ergibt sich auch bei kritischer Lesart ein erstaunlich harmonisches, in sich sehr stimmiges Bild. Dieses musste allerdings erst von weltanschaulich beeinflussten Interpretationen deutscher Runenforschung bereinigt werden, die ihre nationalromantischen Wurzeln nicht verleugnen kann (und damit meine ich noch keineswegs die Auswüchse gezielten Missbrauchs durch die Nazis, deren Vordenker wie heutige Nachbeter. Davon sei später die Rede).
Umso interessanter jedoch, was uns gerade das Ältere Futhark eröffnet. Ob es tatsächlich ein raffinierter Algorithmus war, der alle wichtigen Parameter für ein harmonisches Miteinander überschaubarer Sozialgemeinschaften enthält, sei dahingestellt. Das muss keineswegs so gewesen sein – aber es lässt sich so anwenden. In dieser Hinsicht erscheint es mir nahezu einzigartig. (Aber dies mag meiner Begeisterung darüber geschuldet sein. Ich bin da sicher befangen – und erhebe weder Anspruch auf Deutungshoheit noch auf die Verallgemeinerung meiner Ansichten. Im Gegenteil: Zu Diskurs will ich anregen.)
Historisch lässt sich von ca. 200 vor bis ca. 1100 nach Christus von germanischen Kulturen sprechen: von der ersten römischen Erwähnung germanischer Stämme – der Skiren und Bataver – über die folgenden Jh.e der Völkerwanderung und ihrer Wirren bis zur endgültigen Assimilierung letzter germanischer Stammesgemeinschaften in Königreiche, die inzwischen wesentliche Teile des römischen Rechtssystems übernommen hatten. (Der Einfluss christlicher Strömungen auf germanische Kulturen hatte bereits im frühen 4. Jh. begonnen und sich von da an zunehmend ausgebreitet: dies meist wesentlich friedlicher als in neuheidnischen Kreisen unserer Tage gern beargwöhnt und vermutet wird. Die meisten germanischen Stämme aus der Völkerwanderungszeit sind uns überhaupt nur als christlich überliefert – wenn auch vorwiegend der arianischen Glaubensrichtung angehörig, die erst später dem katholischen Alleingeltungsanspruch unterlag und verschwand.)
Was es über germanische Kulturen zu lesen gibt, stammt nicht aus diesen selber. Sie gelten als schriftlos. Der Gebrauch von Runen war Eingeweihten vorbehalten, so genannten Erilar (Runenkundigen). Wer nicht zu diesen zählte, konnte die Zeichen höchstwahrscheinlich nicht entziffern, geschweige denn selber setzen. Neben dem Älteren Futhark und dem – deutlich später entwickelten – Jüngeren entstanden im Lauf der Zeit noch etliche weitere Runensysteme: das Friesische Futhark, das Angelsächsische Futhark und andere. Die Bedeutung einer allgemein verbreiteten Schreibschrift erlangten sie nie. Die Überlieferung innerhalb der Stämme war und blieb mündlich. Die frühesten (erhaltenen) Runen wurden auf Alltagsgegenständen wie Kämmen oder Schemeln angebracht – und bezeichnen meist nur den Gegenstand selbst. Andere, ähnlich knapp gehaltene Zeichenfolgen aus der Ära des Älteren Futhark ergeben überhaupt keinen nachvollziehbaren Sinn, was nahelegt, dass diese frühen Inschriften magisch intendiert gewesen sein mögen. Sie fanden sich auf Knochen, Waffen, Rüstungsteilen und Haushaltsgegenständen, später auch auf Münzen und Medaillen (so genannten Brakteaten) wieder.
Erst die Wikinger hinterließen uns aus den 300 Jahren ihrer europaweiten Seefahrten, Handels- und Eroberungszüge (vom 8. bis zum 11. Jh.) etliche tausend Gedenksteine (verteilt über weite Teile Europas, die meisten jedoch im skandinavischen Raum). Deren Botschaften beschränken sich auf das Festhalten von Einzelereignissen wie Schiffsunglücke oder Jagderfolge – in wenigen dürren Sätzen, die kaum Rückschlüsse auf Zusammenhänge zulassen. Oft besteht mehr als ein Drittel des Textes aus dem „Impressum“: der Mitteilung, welche namhafte Fachkraft die jeweiligen Runen eigenhändig auf dem Stein anbrachte und wer die Arbeit in Auftrag gab (nicht selten waren das Frauen). Ein paar späte, wortreicher geratene Ausnahmen feiern den Beitritt des jeweiligen Stammes zum Christentum…
Die Wikinger benutzten ein auf 16 Zeichen reduziertes Runensystem, das sogenannte Jüngere Futhark. Es ist mit über 6.000 historischen Funden das mit Abstand verbreitetste gewesen. Warum das Ältere (von dem nur ca. 350 Funde künden) so plötzlich verschwand, ist ebenso unbekannt wie der Grund für die erst hundert Jahre spätere Entstehung des Jüngeren und dessen Reduktion auf nur noch 16 Zeichen. (Ich traf mal einen britischen Kenner dieses Systems, der mir – soweit nachvollziehbar – seine Vermutung nahebrachte, die Wikinger hätten halt diejenigen älteren Runen weggelassen, für die sie – als Seefahrer – keine Verwendung mehr hatten. Was zu meiner Auffassung von Runen als hauptsächliche Sinnzeichen passt, denen eine komplexere Bedeutung innewohnt als einem bloßen Buchstabensystem – aber das ist natürlich nicht belegbar.)
Lassen wir die wenig beredten Runeninschriften allesamt – sowie die wenigen lateinischen Buchstaben aus germanischer Hand (wie z.B. die rätselhafte Ein-Wort-Kritzelei „Harigasti III Il.“ auf dem „Helm von Negau“ als älteste germanische Inschrift überhaupt) – beiseite: Alle uns erhalten gebliebenen schriftlichen Aufzeichnungen, die von germanischen Kulturen künden, stammen von Außenstehenden – die größtenteils nicht einmal Zeitzeugen waren.
Die Edda, die reichhaltigste Niederschrift nordischer Götter- und Heldensagen, entstand im 13. Jh. auf Island – das um diese Zeit schon 300 Jahre lang christlich war. Der Verfasser Snorri Sturluson bediente sich der alten Geschichten nach Gutdünken – wir wissen nicht, was er weggelassen, abgewandelt, zusammengefasst, gekürzt oder dazuerfunden hat. Sicher ist, dass er nicht vorhatte, heidnische Überlieferungen möglichst authentisch zu erhalten. Ihm ging es darum, die Kunst der Skaldik zu vermitteln, die damals angesagte Form höfischer Dichtung. Dafür nahm er alte Erzählungen über halb vergessene Götter (denen längst niemand mehr ernstlich huldigte) als Textmaterial und schmiedete daraus die uns erhaltenen altnordischen Verse. Entsprechend hochmittelalterlich geprägt ist das darin gespiegelte Gesellschaftsbild, wenn auch heidnische Vorstellungen früherer Zeiten mit eingeflossen sein dürften. Historisch zuverlässig bringt da aber niemand mehr die Milch aus der Melange. Viele – heute als „typisch germanisch“ geltende – Phänomene sind nur bei Snorri erwähnt oder auf seine Schriften zurückzuführen – und sonst nirgends belegbar. Dazu gehört zum Beispiel die Einteilung der Götter in „Asen“ und „Vanen“ oder die Beschreibung des Weltenbaums Yggdrasil mit seinen „neun Welten“. Ebenfalls finden sich etliche in der Edda erwähnte Gottheiten – wie zum Beispiel Heimdall – so gut wie nur dort. Die Inschrift einer englischen Spindel aus dem achten Jahrhundert nennt zwar (unter anderem) möglicherweise auch Heimdalls Namen, die Deutung bleibt jedoch spekulativ. Mit Sicherheit lässt sich daher nicht sagen, ob dieser Gott je wirklich von Angehörigen germanischer Kulturen verehrt wurde – auch wenn gerade die offensichtlichen Lücken in den literarischen Quellen dies wahrscheinlich machen (weil sie auf ältere Teile des Mythos schließen lassen, die verloren sind), beweisbar ist es bislang nicht. Etliche andere – von der Archäologie eindeutig als germanisch recherchierte – Gottheiten wiederum finden bei Snorri keine Erwähnung. Entsprechend unbekannt blieben Göttinnen wie Tamfana oder Baduhenna. Auch die uns überlieferten Sagas, ebenfalls altnordische Nacherzählungen, wurden erst in christlicher Zeit aufgeschrieben.
Der römische Gelehrte Tacitus, der im ersten Jh. lebte und dessen Ethnografie „Germania“ zu den wenigen aus der Antike verbliebenen Aufzeichnungen über germanische Kultur gehört, hat die nördlichen Landstriche, deren Bewohner er beschrieb, selbst nie betreten. Er zeichnete das Bild der „edlen Wilden“: Unverkennbar wollte er seinem Publikum – der von ihm als „dekadent“ empfundenen römischen Stadtbevölkerung – eine Moralpredigt halten. Was von seinen Schilderungen auf (ohnedies nur abgelauschten) Tatsachen beruhte und was mehr oder minder frei erfunden war, bleibt offen.
Für uns ist und bleibt ganz wichtig, jeden Text, der etwas über germanische Kulturen zu erzählen hat, kritisch zu überprüfen: Wo kommt das her, wer hat das verfasst, woher haben die, die das verfasst haben, ihre Kenntnisse (sind die Quellen glaubwürdig oder im Zweifelsfall nachprüfbar?) – und wovon will der Text uns überzeugen und warum. Das klingt nicht nur mühsam, das kann wirklich in Arbeit ausarten. Aber wer nicht irgendeinem falschen Mythos oder richtig platten Lügen aufsitzen will, kommt nur so der Wahrheit näher. Der ideologische Missbrauch hinterließ nicht etwa Spuren, er hält den ganzen Themenkomplex nach wie vor in Acht und Bann. Die Befreiung davon kann nur schritt- und stückweise erfolgen, manchmal nur im Tempo und mit der Vorsicht archäologischer Pinselstriche. Denn es sind ja nicht immer nur bewusst gesetzte Ideologeme, womit die Deutungen durchdrungen sind, sondern auch unreflektierte und subtiler vermittelte bürgerliche Vorurteile (woher die wiederum stammen und was sie befördert und aufrechterhält, wäre ein Extrathema, das den Rahmen des vorliegenden Buches sprengt).
Bei dieser Gelegenheit sei auf das Beispiel einer berühmten Moorleiche hingewiesen. Seit den 50er Jahren des 20. Jh. geisterte der Fund als „Mädchen von Windeby“ durch die Presse und wurde allgemein als „hingerichtete Ehebrecherin“ gedeutet: aufgrund ihrer in „obszöner Geste“ geballten Faust. Diese erwies sich jedoch zwischenzeitlich als Irrtum: Der Daumen war nie zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt gewesen. Das hatte nur auf dem ersten Foto so ausgesehen – und das war halt wieder und wieder so abgedruckt worden. Ein halbes Jh. hindurch bezweifelte kein Mensch die „eindeutige“ Botschaft. Aber es kommt noch besser: Das (aus welchen Gründen auch immer im Moor versenkt gewesene) Mädchen ist, wie sich inzwischen herausstellte, in Wahrheit ein Junge. Soviel zu bürgerlich-moralischen Interpretationen germanischer Kultur…!
Wer waren „die Germanen“ nun überhaupt? Die Bezeichnung selbst ist ein propagandistischer Kunstgriff – eine Art antiker Werbeslogan. Sein Schöpfer: Gaius Julius Caesar. Der römische Feldherr hatte Mitte des letzten vorchristlichen Jh.s (ca. 58 bis 50 v. Chr.) zahlreiche gallische Stämme unterworfen. Um das für die Fortführung seiner Feldzüge erforderliche Geld vom römischen Senat bewilligt zu bekommen, war eine überzeugende Erfolgsmeldung nötig. Was hätte besser gewirkt, als „ganz Gallien erobert“ melden zu können? Dafür legte Caesar den Rhein als Grenze fest – und bezeichnete alle jenseits des Ostufers lebenden Stämme kurzerhand als „Germanen“.
Den meisten der so Benannten dürfte der Sammelbegriff unvertraut geblieben sein (wie uns dessen Herkunft: Die lange kolportierte Annahme, wenigstens ein Stamm sich so nennender „Speer-Mannen“ habe für die, dann verallgemeinerte, Namensgebung „Germanen“ Pate gestanden, erwies sich als nicht haltbar). In den rheinöstlichen Wäldern und Sümpfen siedelten Stammesgemeinschaften oder zogen nomadisch herum. Germanische Stämme jener Zeit waren in erster Linie Personengefolgschaften. Sie mögen bestimmte Gebiete für sich beansprucht haben, definierten sich aber nicht über Territorialgrenzen, sondern über personelle Zugehörigkeiten. Die richteten sich nach Verwandtschaft – aber nicht nur. Die Abstammungsmythen bezogen sich auch auf Götter und wer sich den einen nicht mehr zugehörig fühlen mochte, wechselte nicht selten die Gemeinschaft samt (spiritueller) Herkunft: um fortan von den dort bevorzugten Gottheiten mit „abzustammen“. Die massenhafte Aufnahme von Personen ganz anderer und unterschiedlichster Herkunft ist speziell für einen europaweiten Wanderzug von Goten belegt (im so genannten „gotischen Rückstromhorizont“: als binnen kaum einer Generation die Kopfzahl des betreffendes Zuges von hundert bis maximal einhundertfünfzig Leuten auf über dreitausend anschwoll, die sich fortan alle als Goten bezeichneten und die handwerklichen und künstlerischen Merkmale der betreffenden Kultur übernahmen und weiterentwickelten; was wiederum von den daheimgebliebenen Gotenstämmen noch in derselben Generation detailgetreu kopiert wurde).
Insgesamt gilt: Vor allem von den Bildern angeblichen „Germanentums“, die nationalsozialistische Propaganda bis heute in den Köpfen hinterließ, dürfen wir uns getrost und gründlich verabschieden. Stämme verbündeten sich, gingen zuweilen ineinander über oder trennten sich wieder. Sie behaupteten, Abstammungsgemeinschaften zu sein, was sie nachweislich nicht waren und sich nur über spirituelle Auffassungen erklären lässt (auch wenn wir von denen en détail wenig wissen). Ein über jeweilige Stammeszugehörigkeiten hinausgehendes Bindungsgefühl gab es nicht: Die Stämme bekriegten und befehdeten sich untereinander häufig und unüberschaubar. Es gab keine „vereinigten Stämme von Germanien“, kein „germanisches Volk“ – und keinerlei entsprechendes Bewusstsein. In jedem erdenklichen Sinn gilt: Mit Stammeskulturen ist kein Staat zu machen. Die frühmittelalterlichen Reichsbildungen lassen sich nicht mehr als germanische Kulturen bezeichnen. Sie beerbten – mit der Übernahme einer zentralistisch organisierten Religion und, wesentlicher, dem damit staatstragend verknüpften römischen Rechtssystem – das römische Imperium: seine maroden Reste, aus denen sich das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ entwickeln sollte. Die letzten beiden Worte des Begriffs sind irreführend: Die erste „deutsche Nation“ in neuzeitlichem Sinn entstand – lange nach Frankreich, England, Spanien und anderen europäischen Nationalstaaten – erst 1871 mit dem Zusammenschluss der Großherzogtümer Hessen und Baden und der Königreiche Württemberg und Bayern zum „Deutschen Bund“. Die antike Herkunft suggerierende Gleichsetzung neuzeitlicher Franzosen mit antiken „Kelten“ entstammt – ebenso wie deutsche Ansprüche auf „Germanen“ – ausschließlich nationalstaatlicher Propaganda und hat mit den bis dahin schon lange untergegangenen vor- und frühchristlichen Kulturen von Kelten und Germanen nichts zu tun. Im Gegenteil verstellt sie bis heute das Bild auf diese. Nationalromantische Dünkel ziehen sich auch erkennbar durch die deutsche Runenforschung, die in mancher Hinsicht erst dadurch ihren Anfang nahm. Das diskreditiert nicht neuere Forschungen und nötige Korrekturen – es ist nur wichtig zu wissen. Kritisches Lesen absolut jeder Quelle samt ihrer Überprüfung ist grundsätzlich angebracht.
Meine eigene Beschäftigung mit den Runen und ihrer Kultur brachte mir die dahinterstehenden Gottheiten näher, als ich sie zunächst haben wollte… und mündete nach Jahren dann doch in meinen persönlichen Bund mit ihnen. Seitdem kam es zu einer dynamischen Wechselwirkung zwischen dem, was ich aus literarischen und archäologischen Quellen ziehen konnte, und dem, was ich als ideologische Missdeutung oder gar Missbrauch aussortieren musste. Am schwierigsten sind natürlich die persönlichen Anteile zu schildern: jene Auffassungen, die meinen eigenen – höchst subjektiven – Erfahrungen entwuchsen. Diese kann ich hier unmöglich aussparen – und möchte daher betonen, dass sie so wenig verallgemeinerbar sind wie eine eigene Handschrift, ein persönlicher Stil oder eben ein Glaubensgebäude. Was immer ich aus Letzterem vorstelle, dient ausschließlich als Beispiel – und will anregen, das eigene spirituelle Weltbild damit zu erweitern oder zu ergänzen oder, im Bedarfsfall, sich überhaupt ein eigenes zu schaffen.