Atheistischer Glaube

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2. Rationale Geburt

Konturen eines autonomen Menschen

[Zur Frage der Selbstfindung des Ich]

Das Telefon klingelte heute ständig. Zuletzt eine offenbar ältere Frau, die fragte: Herr Pastor, machen Sie auch Hausbesuche? – Sehr gerne mache ich Hausbesuche, sagte ich, sagen Sie mir, wann es Ihnen passt.Möglichst bald, drängte sie, morgen Abend, 20 Uhr?

Manchmal sind die kurzfristig angefragten die sichersten Termine. Ich hatte wirklich Zeit. Sie wohnte in der Steinstraße, schräg gegenüber von meiner Pastorenwohnung, also mitten in der Hamburger City, der hohe Turm der Hauptkirche St. Jacobi direkt über uns. Pünktlich klingelte ich an ihrer Haustür.

Ich sehe Sie doch immer an Ihrem Schreibtisch sitzen, sagte sie.Jetzt sind Sie da. Wie alt schätzen Sie mich?Nun, Sie sind noch richtig vital, erwiderte ich, aber doch wohl schon an die achtzig.84, sagte sie, 84! Wo ist bloß die Zeit geblieben?

Sie kam schnell zur Sache. – Herr Pastor, Ich hab schon viel von Ihnen gehört, Sie denken anders als die anderen. Würden Sie mir eine Frage beantworten? Nur eine Frage! Das hörte sich gleich sehr gewichtig an, also antwortete ich eher zurückhaltend: – Ich werde es gerne versuchen.

Nicht versuchen, sagte sie. Sie sollen mir sagen, was Sie ganz persönlich dazu meinen. Wollen Sie das tun? Sie erschien mir sympathisch. Sie war noch im Alter ein Mensch mit sehr wachen, freundlich blickenden Augen. Es gibt ältere Damen, die sich ihren jugendlichen Charme mit derart weichem, gewinnendem Blick voll erhalten haben. Ich versuchte mich dagegen weiterhin bedeckt zu halten: – Wenn ich das kann und Sie das wirklich wollen? Fragen Sie mich.

Glauben Sie persönlich an ein Leben nach dem Tod?

Damit hatte ich so direkt nicht gerechnet. Tausend Gedanken schossen mir mit dieser Frage durch den Kopf, alle vorsichtigen Antworten, die ich in Predigten, Seminaren und in persönlichen Gesprächen bisher gegeben hatte, um niemanden in seinen ureigenen Hoffnungen zu verletzen.

– Sie zögern, sagte sie, Sie zögern zu lange. Ich will nicht Ihre theologischen Erklärungen. Ich will Ihre persönliche Antwort.

– Nein, sagte ich, ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod.

– Dann glauben Sie auch nicht an ein Weltgericht, das Gott über die Menschen hält am Ende der Welt und an die Hölle?

– Nein, sagte ich, ich glaube auch nicht an ein derartiges Weltgericht und nicht an die Hölle.

Damit war dies Thema zu Ende. Wir saßen noch fast zwei Stunden zusammen, ohne noch einmal darauf zurückzukommen. Keine Nachfrage. Kein Kommentar.

Zwei Tage später erhielt ich einen Anruf von einer Frau. Sie sei die Tochter von der alten Dame, die ich vorgestern Abend besucht hätte. Was ich mit ihrer Mutter gemacht hätte?

Mich durchfuhr ein Schreck. Genau das hatte ich befürchtet. Ich hätte doch nicht so eindeutig antworten sollen. Ich zögerte das Gespräch hinaus und sagte ziemlich gedehnt: – Ja, Ihre Frau Mutter.

– Meine Mutter hat mich gestern Morgen angerufen und mich gebeten, dringend bei ihr vorbeizukommen. – Aha, sagte ich sehr zurückhaltend. – Also bin ich gleich nachmittags zu meiner Mutter. Es standen eine Flasche Rotwein auf dem Tisch und zwei Gläser. Sie sagte: – Mach bitte die Flasche auf, ich möchte mit Dir anstoßen. – Was ist denn los, Mutti, fragte ich. Meine Mutter trinkt eigentlich nie Wein, schon gar nicht um diese Zeit. Sie stieß mit mir an und sagte ganz ruhig: – Pastor Schulz war gestern Abend hier. Er hat mir gesagt, es gibt kein Leben nach dem Tod. Es gibt auch kein Weltgericht und keine Hölle. Jetzt kann ich ruhig sterben. Das wollte ich Dir sagen.

Fast zur gleichen Zeit ist meine Schwiegermutter gestorben. Sie war 92 Jahre. Sie war eine bescheidene fromme Frau. Solange ich sie kannte, stand sie morgens mit den Hühnern auf, um sie zu füttern, bei Sonne und bei Regen. Danach machte sie das Frühstück für ihren Mann, bevor der auf der anderen Straßenseite zur Schule ging, ein durch Schülergenerationen hindurch verehrter alter Schulmeister einer Zwergschule in Nordrhein-Westfalen. Wenn wir auf Urlaubsbesuch morgens zum Frühstück kamen, dann war natürlich auch für uns schon immer alles fertig – den ganzen Tag durch. Abends bei der Tagesschau schlief sie regelmäßig ein, schreckte kurz vor Ende der Sendung auf und sagte: Nun lasst uns man zu Bett gehen. Alle lachten freundlich und wünschten ihr eine gute Nacht. So war ihr Leben.

Zunehmend in den letzten Jahren vor ihrem Tod geriet sie immer stärker in Angst vor ihrem Sterben. Sie war fest überzeugt, mit dem Tod würde sie ihrem Herrgott gegenübertreten, und der würde sie wegen ihrer Sünden mit der Hölle bestrafen. Deshalb hatte sie Angst, Angst vor dem Sterben, Angst vor dem Tod.

Ich habe mit ihr darüber wiederholt gesprochen, ich war für sie immer Pastor. Ich sagte ihr, dass sie doch ein frommes Leben geführt habe und gar nichts passiert sei, wovor sie Angst haben müsse. Sie habe in ihrem Leben immer alles ehrlich und aus Nächstenliebe getan, für uns und all die anderen Menschen auch. – Ja, Junge, aber unsere Erbsünde. Wir sind doch alle Sünder.Ihre Erbsünde quälte sie. Natürlich wusste sie, dass Jesus Christus für die Sünden der Menschen gestorben war, auch für ihre. Tausendmal hatte sie das besungen in den Kirchenliedern, die sie von klein auf alle auswendig kannte. In hunderten von Predigten hatte sie es Sonntag für Sonntag immer wieder vom Pastor gehört. Doch ihre Todesangst war ihr nicht zu nehmen.

Jemand sagte mir mal, meine Schwiegermutter sei wohl depressiv gewesen. Depressiv? Ich kannte meine Schwiegermutter sehr genau. Sie war nicht depressiv. Sie war ihr Leben lang eine tatkräftige Frau, die ihren Wirkungskreis immer sicher im Griff hatte, ohne sich dabei Schwächen zu leisten. An ihren Händen konnte man sie erkennen. Es waren Dürers betende Hände, gezeichnet von den täglichen Pflichten des Lebens.

Dabei war sie ganz normal fromm. Sie war ein Produkt jahrzehntelangen Kirchgangs von klein auf. Wenn die Art und Weise, wie sie fromm war, bedeutet, depressiv zu sein, dann müsste man allerdings eine endlose Zahl von Frommen für depressiv erklären, für irgendwie psychisch defekt, in religiösen Ängsten geistig krank gemacht.

Sie war vielmehr eingepfercht in ein kleines dogmatisch-religiöses Denkquadrat wie in einem Stall ohne Ausweg, dem pawlowschen Hund vergleichbar, der selbst bei höchstem Leidensdruck die verbotene Grenze nicht zu überschreiten wagt. So stand sie gebannt innerhalb ihrer Glaubensgrenzen, ohne sich daraus befreien zu können.

Schon gar nicht mehr zum Ende zu, als ihre Kräfte immer mehr nachließen. Da sich die Vorfreude nicht einstellte, mit ihrem Tod nun doch endlich aus diesem Jammertal bei ihrem himmlischen Vater zu sein, wie sie es als gute Christin immer gehofft und gebetet hatte, verdunkelte sich ihr langes Sterben in düstere Angst. Mit dieser Angst vor ihrem richtenden und strafenden Herrgott ist sie ganz schwer eingeschlafen – für immer.

[1] Grenzüberschreitung nach vorn

Grenzen zu überschreiten, das ist ein spannungsgeladener Vorgang vor allem dann, wenn man eine Grenze mit der Absicht überschreitet, das Gewohnte für immer hinter sich zu lassen und der Zukunft zugewandt Neues zu wagen und zu erobern.

Auf dieser Seite der Grenzen bleibt dann das Vertraute zurück, viel Unerfülltes, was uns zum Gehen bewogen hat, also Enttäuschungen, Verengungen, ein vielfältiger Leidensdruck, unter dem wir für uns selbst keine Zukunft mehr sehen.

Auf der anderen Seite der Grenze erscheint uns alles fremd und doch auch gefährlich. Denn was erwartet uns da wirklich? Werden wir die Chancen erkennen und nutzen können, die Anforderungen schaffen? Wird es dort wirklich die Freiräume geben, uns selbst zu finden und zu verwirklichen?

Bleiben wir zunächst noch gemeinsam einen Augenblick auf dieser Seite. Versuchen Sie, die folgende Aufgabe zu lösen. Es ist kein Intelligenztest. Es dient nur einem kleinen Aha-Erlebnis.


Magisches Quadrat

Verbinden Sie diese neun Punkte mit vier Linien so, dass alle Punkte berührt werden. Die vier Linien müssen dabei in sich verbunden sein.


Lösung:

Die gestellte Aufgabe ist nur zu lösen, indem Sie den geschlossenen Raum des Quadrates mit den Linienführungen überschreiten.

Gewöhnlich bewegen wir uns beim Einzeichnen der Linien nur innerhalb des festgelegten Quadrats. Wir ziehen die Linien von Punkt zu Punkt, als hätte das Quadrat magische Anziehung. Innerhalb dieser Begrenzung gibt es keine Lösung.

Der entscheidende Schritt liegt in der bewussten Überschreitung der Begrenzung. Nur wenn der Bannkreis des markierten Raumes durchbrochen wird, gibt es eine Lösung. Zwar ist nicht jede Überschreitung eine richtige Lösung. Aber die richtige Lösung ist eine Überschreitung.

Unser Beispiel zeigt:

– Nicht die Tatsache, dass es Grenzen und Begrenzungen gibt, ist das Problem, denn Begrenzungen gibt es notgedrungen immer und überall.

– Die Tatsache, dass die Begrenzungen nicht überschritten werden, das ist das Problem. Die Grenzen müssen überschritten werden, erst dadurch öffnet sich der Weg für Lösungen. Es gehört zu den ermutigenden Einsichten, dass vorfindliche Grenzen nicht das Letzte sein müssen. Think big. Es muss grundsätzlich ein Bewusstsein entstehen, dass Lösungen größer sind als der Rahmen des vorgegebenen geistigen Karrees.

 

In dieser kleinen Veranschaulichung steckt eine tiefe Symbolik auch für unser Nachdenken über unsere Veränderung. Denn auch in unseren Lebenspraktiken bewegen wir uns immer wieder nur innerhalb fester Grenzpunkte, die wir nicht zu überschreiten wagen. Erziehung, Kultur, Religion stecken uns in vielem einen ganz engen Rahmen ab. Innerhalb dieses Lebensrahmens sind wir alle Wege gelaufen, von rechts nach links, von links nach rechts, vorwärts, rückwärts – ohne wirklich bei uns selber angekommen zu sein. Haben wir wirklich einen klaren Standpunkt, von dem her wir überzeugt leben und sterben können? Haben wir den Sinn unseres Lebens selbst definiert und leben danach?

Natürlich gibt es viele Lebensquadrate, die überschritten werden müssten, um so frei zu werden. Ein zentrales, höchst aktives Lebensquadrat ist unsere religiöse Einstellung, die Frage nach Gott. Wollten wir da eine wirkliche Klärung, dann müssten wir uns selbst befragen, warum wir immer noch in den alten Begrenzungen stehen. Grenzüberschreitung stellt nicht die Frage, warum wir bleiben, sie stellt die Frage, warum wir nicht gehen, nicht den Mut haben, uns zu lösen. Eine solche ehrliche Selbstkontrolle auf Gott hin beginnt mit drei gezielten Fragen:

– Welche Bedeutung haben für mein religiöses Bewusstsein all die säkularen Erkenntnisse, die die naturwissenschaftliche Vernunft über die Welt, das Leben und den Menschen gemacht haben? Dazu Teil [2]: Der kulturgeschichtliche Zweifel an Gott.

– Welche Bedeutung haben für mein religiöses Bewusstsein die entsetzlichen Ereignisse in der Welt, die Naturkatastrophen, die Kriege, die Verelendung der Menschen durch Hunger und Ungerechtigkeit? Dazu Teil [3]: Der tagesaktuelle Zweifel an Gott.

– Welche Bedeutung hat für mein religiöses Bewusstsein das Schweigen Gottes, wenn ich bete, das Verlassensein von Gott in meiner Not, das Vergehen meines Glücks fernab von Gottes Liebe? Dazu Teil [4]: Der ganz persönliche Zweifel an Gott.

[2] Der kulturgeschichtliche Zweifel an Gott

Der scharfsinnige Friedrich Nietzsche hat – wie Friedrich Hegel und andere große Denker – in dem alten Philosophen Sokrates aus Athen den Begründer unserer abendländischen Rationalität erkannt25. Sokrates hätte vor 2400 Jahren mit seinem Vernunftdenken die geistigen Voraussetzungen für die säkulare Rationalität geschaffen und damit in letzter Konsequenz für die modernen Naturwissenschaften. Hegel26 hielt deshalb Sokrates für den bedeutendsten Menschen des Abendlandes, bedeutender als Jesus Christus, fügte Bertrand Russell27 hinzu.

Zunächst also hat Nietzsche den Sokrates auch höchst positiv gesehen. Er geriet dann aber zunehmend in Auseinandersetzung mit ihm und wurde dabei zu seinem radikalsten Gegner. Sokrates mit seinem rationalen Erkenntnisdrang wird schließlich für Nietzsche der Verursacher des Verlustes urmenschlicher Werte, der Geist der Zerstörung, der Inbegriff des Untergangs. Nietzsche vollzieht mit Sokrates eine Kehrtwende um 180 Grad28.

Warum? Nietzsche hat sich im Wesentlichen mit den alt-griechischen Mythen befasst29, mit der Götterwelt des Olymp also, in der Zeus als Göttervater über eine Vielzahl von Göttern, Halbgöttern, Dämonen und Heroen herrschte. Diese Götter bildeten die religiös-mythische Bewusstseinswelt der antiken Zeit vor Sokrates. In diesen alten Vorstellungen haben sich damals die Menschen – naiv – beheimatet gefühlt. So Nietzsche. Denn Zeus und all die anderen Götter waren menschenähnliche Götter, und gerade deshalb fühlten sich ihnen die Menschen nahe. Sie baten sie um Hilfe oder hatten Angst vor ihnen, so wie man Mitmenschen um Hilfe bittet oder Angst vor ihnen hat. Sie glaubten den Göttern, weil sie letztlich so waren wie sie selber. Menschlich. So oder so waren sie mit ihnen vertraut.

Noch mehr: Mit den vielen Göttern vermochten die Menschen damals Ursachen und Wirkungen der Welt in menschlichen Erfahrungsmustern zu begründen und zu verstehen. Warum ist die Welt entstanden? Weil Gott Zeus das so gemacht hat. Sie erklärten sich alles, was existierte oder geschah, ganz einfach mit handelnden Göttern als Ursache – kritiklos, unreflektiert, direkt. Die Wirklichkeit war ihnen nicht abstrakt und fern, sie war ihnen mit den Göttern einfach und unmittelbar. Ihr anthropomorphes Gottesbild bedingte ihr anthropozentrisches Weltbild.

Sokrates, so nun Nietzsche, hat diese mythische Erklärungs- und Verstehensweise mit seinem Verstand zerstört. Mit seiner rationalen Kritik hat Sokrates dagegen ganz neue Erkenntnisse ermöglicht, andersartige Zusammenhänge und Begründungen aufgedeckt und so mit seinem aufklärerischen Geist die religiösen Grundlagen gesprengt. Aber hat Sokrates die Menschen damit glücklicher gemacht? Kommen die Menschen aufgeklärt mit sich selbst besser zurecht? Brauchen die Menschen nicht das Religiös-Mythische zur existentiellen Bewältigung ihres Lebens? Ist Sokrates’ rationale Aufklärung nicht ein Fehlweg der Menschheit?

In einem Punkt geben wir Nietzsche mit seiner Kritik an Sokrates recht: Das rationale Fragen nach sich selbst und darüber hinaus nach den realen Grundlagen der Welt bewirkt zwangsläufig Entsicherung, Loslösung, Verlust. Im Zweifel der blanken Vernunft steckt ungeheure Sprengkraft, die vor allem die Vertrautheit und menschliche Nähe mit den Göttern und damit letztlich die Selbstsicherheit mythischen Vertrauens zerstört.

Diese Umbrüche ähneln dem Verlorenheitsgefühl eines Kindes, das bislang fest an den Klapperstorch glaubte, an den Osterhasen oder Weihnachtsmann und plötzlich die Wahrheit erfährt, dass es das alles gar nicht gibt. Dem Kind zerbricht damit nicht nur sein Wissensstand. Dem Kind zerbricht damit seine Ur-Naivität, sein Ur-Glaube, sein Ur-Vertrauen. Diese elementare Erfahrung, dass es das alles so gar nicht gibt, worauf man sich geradezu vorbehaltlos eingelassen hat, diese Erfahrung bedeutet unumkehrbar den Einstieg in ein kritisches Bewusstwerden und damit eben zwangsnotwendig Entsicherung, Loslösung, Verlust. Nie wieder wird das Kind so rückhaltlos vertrauen können wie in seiner Ur-Phase. Es kann dahin nicht wieder zurück.

Dennoch ist gerade das Erwachsenwerden die Grenzüberschreitung der europäischen Geistesgeschichte: Mit Sokrates tritt der Mensch aus der Geborgenheit mythischen Verstehens in die kritische Offenheit, ja, in den ständigen rationalen Zweifel. Es ist der Ausstieg aus dem Mythos in das reale Denken, aus der Religion in die Wissenschaft, der Umbruch vom Glauben zum Wissen. Der Mensch überschreitet seinen subjektiven Horizont: Rationale Vergewisserung kontra mythische Gewissheit.

Mit dieser Grenzüberschreitung wurde ein Denkprozess eingeleitet, der den Menschen in der abendländischen Geistesgeschichte immer weiter vorangetrieben hat. In ihm hat er ständig neue Erkenntnisschocks der Realität erlitten, die ihn letztlich an den Rand totaler Sinnlosigkeit und in ein Bewusstsein des Nichts getrieben haben.

Die Schocks der nackten Tatsachen haben den Menschen bis in unsere Gegenwart hinein vor allem in einem zentralen Glaubenspunkt erschüttert, nämlich in seiner uralten mythisch-religiösen Überzeugung, allein um ihn, den Menschen, drehe sich alles Handeln und alle Fürsorge Gottes, und damit die Sehnsucht, er, der Mensch, würde in der unmittelbaren Nähe zu Gott für ewig gerettet und sicher sein. Genau so definiert später die christliche Religion den Menschen als die Krone der Schöpfung Gottes.

Eben dagegen sind Erkenntnisse auf den denkenden Menschen eingestürzt, die ihm diesen Glauben Zug um Zug genommen haben. Die rationale Wissenschaft hat diese uralte anthropozentrische Selbstsicherheit des Menschen Schritt für Schritt abgebaut, ja, schließlich völlig zerstört. Ich mache das an drei zentralen Forschungsbereichen deutlich:

1. Die Erde ist nicht mehr der Mittelpunkt des Universums. Gegen die alten Vorstellungen hat Nikolaus Kopernikus um 152230 ein neues Weltbild errechnet, in dem die Sonne nicht mehr wie bisher um die Erde, sondern die Erde um die Sonne kreist. Damit verlor die Erde mit einem Schlag ihre gottverheißene zentrale Stellung im All. Als dann noch von Galileo Galilei 1610 durch die Entdeckung der Jupiter-Monde bewiesen wurde, dass sich der Kosmos grenzenlos in den Weltraum öffnet, brachen seitdem für den denkenden Menschen alle religiös-mythischen Beheimatungsgefühle zusammen.

Nach den neuesten Erkenntnissen über das Universum enthält alleine unsere Milchstraßen-Galaxie 200 Milliarden Sonnensysteme. Darüber hinaus sind 150 – 200 Milliarden Galaxien zu vermuten mit jeweils bis zu 200 Milliarden Sonnensystemen – in einem Weltraum, der in Kilometern so groß ist, wie sich das Licht mit einer Geschwindigkeit von 300.000 Kilometern pro Sekunde in 13,7 Milliarden Jahren ausbreitet. Der Schock dieser von der rationalen Vernunft erkannten kosmischen Tatsachen zerstört die von Nietzsche beschworene Geborgenheit des Menschen im Mythisch-Religiösen nicht nur damals, sondern bei nüchterner Betrachtung genau so auch heute.

2. Der Mensch ist nicht mehr die Krone der Schöpfung Gottes. Mit Charles Darwin wurde 1859 öffentlich31, dass auch der Mensch in der Evolutionskette der Natur entstanden ist. Der Mensch steht also keineswegs außerhalb der Naturentwicklung und damit ihr gegenüber, sondern mittendrin. Er ist angelegt in den allerersten präbiotischen Molekularbildungen des Lebens vor vier Milliarden Jahren. Er hat von der Urzelle aus alle Entwicklungsschritte des Lebenden durchlaufen bis hinein in die hochstufige Primaten-Ebene vor 80 Millionen Jahren. Er ist inmitten vieler Abzweigungslinien als homo sapiens aus Parallelgattungen herausgewachsen und hat sich schließlich vor 60.000 Jahren als Spitzengattung auch gegen den Neandertaler durchgesetzt. Zum Kulturmenschen, uns heute ähnlich, hat er sich überhaupt erst seit nicht einmal 10.000 Jahren entwickelt.

So erklärt sich auch als jüngster Erkenntnisschock, dass der Geist des Menschen nicht der Geist Gottes ist, sondern Produkt des evolutionären Gehirns: Mit dem Menschen als Produkt der materiellen Evolution ist auch das Gehirn im Menschen evolutionär fortentwickelt worden bis zu seiner heutigen Hochkapazität. Technisch ist das Gehirn des Menschen einem höchstentwickelten Computersystem vergleichbar mit einem Neuronennetz mit über 100 Milliarden Neuronen. Sein Produkt ist das, was der Mensch denkt. Daraus entstand und entsteht alles Gedachte: der menschliche Geist und seine Kopfwelt, unsere Menschen-Kultur.

3. Unser menschliches Leben ist auch nicht der eingehauchte Odem Gottes, denn nicht einmal mit seinem Lebensodem ist der Mensch exklusiv. Extraterrestrisch sind andere Lebens- und Geisteswelten zu vermuten, intelligente Wesen im All, die in ihrer Entwicklung auf niederer Stufe hinter uns stehen oder gar mit ihrer Gehirn­evolution einen schon längst viel höheren Entwicklungsstand erreicht haben. Genetisch ist das vielgestaltig denkbar, intergalaktisch ist die rechnerische Wahrscheinlichkeit übergroß: Intelligentes Leben ist vielerorts im All möglich.

Der wissenschaftliche Stand der rationalen Vernunft zerstört nicht nur Nietzsches Mythosdenken generell, sondern auch jeden mythisch-religiösen Alleinstellungsanspruch des Menschen, seine mythisch-religiöse Gottesebenbildlichkeit und exklusive Schöpfung. Vom Denkprinzip her bedingt die Aufhebung des anthropomorphen Gottes- und Weltbildes die Nivellierung des anthropozentrischen Selbstverständnisses des Menschen.

Im Kontra zum Mythisch-Religiösen kommt Gott im neuen naturwissenschaftlichen Weltbild nicht vor, an keiner Stelle. Folglich fehlt den religiösen Menschen (oft auch den Naturwissenschaftlern als Mensch) in den rationalen Wissenschaften genau das, was ihnen die Religion in ihren subjektiven Spekulationen als das Urmenschliche suggeriert und versprochen hat und immer noch verspricht: der exklusive Gottesbezug!

 

Die Versprechen, die die Religion den Menschen seit Jahrhunderten als höchstes Gut vermittelt hat, dass nämlich der Mensch in den Göttern oder in Gott sicher ist, werden durch die rationalen säkularen Erkenntnisse nicht mehr bedient. Was die Religion mit ihren Mythen und Dogmen als absolut sicher vorgegeben hat, wird von der rationalen Wissenschaft nicht eingelöst. Es ist wie bei der Bank. Der Mensch steht mit einem unterschriebenen Scheck am Bankschalter und bekommt vom Bankbeamten erklärt, dass der Scheck nicht gedeckt ist. Der Scheck, den die Religion den Menschen ausgestellt hat, wird von der rationalen Vernunft der Wissenschaften nicht ausgezahlt.

Die Frage ist jetzt: Bei wem liegt der Fehler? Liegt der Fehler in den Erkenntnissen der rationalen Naturwissenschaften? Sind die Naturwissenschaften schuld, dass sich bei ihnen Gott nicht finden lässt? Oder liegt der Fehler in den spekulativen Versprechungen der Religion? Ist nicht die Religion mit ihren alten Mythen und Dogmen daran schuld, dass sie über die reale Wirklichkeit – zum Beispiel über das Entstehen der Natur – Dinge behauptet hat und noch behauptet, von denen sie sachlich-real überhaupt keine Ahnung hat? Sie hat mit ihren religiösen Behauptungen ihr schmales Wissenskonto über die realen Fakten des Daseins haltlos überzogen und die Menschen mit irrigen Ansichten dumm gehalten und tut das heute immer noch.

Doch nicht nur viele Religiöse glauben immer noch fest, der Fehler liege in den rationalen Naturwissenschaften, eben weil sie da Gott nicht finden. Sie selbst aber haben nicht den Mut, sich einzugestehen, dass es ihnen gar nicht wirklich um die Erkenntnis der realen Wirklichkeit geht, sondern um ihre persönliche Angst, mit dem säkularen Denken ihre religiöse Überzeugung zu verlieren. Sonst nutzen sie jede wissenschaftliche Errungenschaft nahezu ohne Einschränkung. Aber in Bezug auf ihr eigenes Schicksal glauben sie lieber naiv alten religiösen Mythen – je älter, desto besser. Wie damals bei Zeus ziehen sie sich bei allen existentiellen Fragen zurück auf simple transzendente Glaubenslösungen mit dem lieben Gott – ein Bewusstseinszustand auf unterstem Stand menschlicher Denkfähigkeit.

Die rationale Vergewisserung ist ein wesentlicher Antrieb der kulturgeschichtlichen Entwicklung des Menschen – zumindest in der europäischen Geistestradition. Der menschliche Verstand legt sich selber gegenüber Rechenschaft ab, ob das, was er denkt und sagt, auch dem entspricht, was in der Wirklichkeit ist. Schon Aristoteles hat dafür eindeutige Kategorien festgelegt, von denen viele in der modernen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie klar definiert sind. Die vom abendländischen Denken ausgehende säkulare Weltvorstellung ist unumkehrbar geprägt durch rational-wissenschaftliche Selbstkontrolle.

Auf rationale Vergewisserung gegen religiös-mythische Gewissheit zielt die Grenzüberschreitung jeder säkularen Aufklärung, nämlich durch alle fragwürdigen Glaubensvorstellungen hindurch zu nachprüfbaren Wissensergebnissen zu kommen. In der rationalen Aufklärung wirkt der Zweifel an allem, was sich nicht evident darstellen lässt. So steckt in jeder relevanten wissenschaftlichen Erkenntnis vom Prinzip her ein elementarer Zweifel an mythisch-religiösen Spekulationen und an ihren exklusiven Gottesbezügen. In diesem Sinne unterliegen Religion und Mythos dem zweifelnden Denkdruck des aufgeklärten Menschen.

Zweifel sind die Geburtswehen der rationalen Geburt und damit auch der persönlichen Bewusstwerdung jedes Menschen. Wann immer Zweifel auftreten, gilt es, rationale Untersuchungen einzuleiten, um überzeugendere überprüfbare Antworten zu finden. Es gilt, sich der Realität zu stellen, sich selbst gegenüber ehrlich zu werden und dabei mutig Grenzüberschreitungen zu wagen.

Vorbilder für mutige Grenzüberschreitungen sind Männer und Frauen der europäischen Geistesgeschichte, allzumal Atheisten wie Darwin, Madame Curie, Freud, Sartre, Simone de Beauvoir. Sie wurden zu Wendepunkten der Geschichte, indem sie alte religiöse Vorstellungen falsifizierten und neue Wirklichkeitserkenntnisse gewannen. Gerade die Väter des Atheismus sind Vorbilder für jeden Menschen, der versucht, ein selbstbestimmter, autonomer Mensch zu werden.

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