Buch lesen: «Eingeäschert»

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Doug Johnstone

Eingeäschert

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Herausgegeben von Wolfgang Franßen


Originaltitel: A Dark Matter

Copyright: © Doug Johnstone 2020

The moral right of the author has been asserted

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2022

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Mit einem Nachwort von Anthony J. Quinn, © 2021, übersetzt von Jürgen Bürger

© 2022 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Eva Weigl und Jutta Nickel

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto: © S_E/Adobe Stock

Autorenfoto: © Chris Scott

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN: 978-3-948392-42-0

eISBN: 978-3-948392-43-7

Für Chris Brookmyre, der mehr an mich glaubt als ich selbst.

Inhalt

1 JENNY

2 JENNY

3 HANNAH

4 DOROTHY

5 HANNAH

6 JENNY

7 DOROTHY

8 HANNAH

9 DOROTHY

10 HANNAH

11 DOROTHY

12 JENNY

13 HANNAH

14 DOROTHY

15 JENNY

16 DOROTHY

17 HANNAH

18 JENNY

19 HANNAH

20 DOROTHY

21 JENNY

22 HANNAH

23 DOROTHY

24 JENNY

25 HANNAH

26 JENNY

27 DOROTHY

28 JENNY

29 HANNAH

30 JENNY

31 DOROTHY

32 JENNY

33 HANNAH

34 HANNAH

35 DOROTHY

36 JENNY

37 HANNAH

38 DOROTHY

39 JENNY

40 HANNAH

41 DOROTHY

42 HANNAH

43 JENNY

44 DOROTHY

45 JENNY

46 HANNAH

47 JENNY

48 DOROTHY

49 JENNY

50 HANNAH

51 DOROTHY

52 JENNY

53 DOROTHY

54 HANNAH

55 JENNY

56 DOROTHY

57 HANNAH

58 JENNY

59 DOROTHY

60 HANNAH

61 JENNY

62 HANNAH

63 DOROTHY

64 JENNY

DANKSAGUNGEN

Der Verlust und das Unbekannte

1
JENNY

Ihr Vater benötigte viel länger als erwartet, um zu verbrennen.

Jenny schaute zu, wie die Flammen an seinem Körper leckten, wie sie sich um seine Brust und Leistengegend kräuselten, in sein Ohr raunten. Sein schütteres Haar ging in Rauch auf, graue Fahnen wehten zum fleckigen Himmel empor. Ein Wacholderzweig in seiner Hand fing Feuer und versprühte blaue Funken, und Jenny roch den Duft, der sie an Gin erinnerte. Die um Jims Körper gestapelten Fichten- und Kiefernscheite loderten hell und kräftig. Das Feuer hatte bereits seinen Anzug verzehrt, und seine Haut spannte sich nun um die Knochen, während Feuchtigkeit aus seinem Körper verdampfte.

Dennoch schien es sehr lange zu dauern.

Der Scheiterhaufen war nicht viel mehr als ein improvisiertes, überdimensioniertes Barbecue, zwei Reihen Ytongblöcke mit einem Metallrost dazwischen. Darunter befand sich ein länglicher silberner Trog aus dem Einbalsamierungsraum, in dem sie seine Überreste sammeln würden, nachdem die Teile klein genug waren, um durch den Rost zu fallen. Archie hatte an dem Scheiterhaufen im Garten gearbeitet, seit Dorothy die letzten Wünsche ihres Ehemanns verkündet hatte.

Es war eigenwillig, zugegeben. Ihr Dad hatte fünfundvierzig Jahre lang die Beerdigungen Tausender Menschen inszeniert, hatte für Musik und Blumen gesorgt, für den Ablauf der Gottesdienste, Fahrzeuge für die Trauernden und angemessene Nachrufe. Hatte darauf geachtet, dass für die Hinterbliebenen jedes Detail stimmte, dafür gesorgt, dass alle konkurrierenden Parteien bekamen, was sie wollten, und der Verstorbene stilvoll verabschiedet wurde. Und seine eigene Beerdigung war das genaue Gegenteil. Ein Scheiterhaufen im Garten hinter ihrem Haus, keine Reden, keine Predigten, weder Freunde oder Blumen noch eine Feier, nur sie fünf ganz nah an der pulsierenden Hitze eines illegalen Feuers.

Jennys Blick wanderte von den Flammen zu den anderen, die um das Feuer standen. Ihre Mum stand vorne vor dem Scheiterhaufen. Eine in der Luft tanzende Ascheflocke landete auf ihrem gelben Kleid, und sie schnipste sie mit einem lackierten Fingernagel weg. Sie strich sich eine Haarlocke aus der Stirn und hob das Gesicht zu den Flammen, die Augen geschlossen, als würde sie sonnenbaden.

Neben Dorothy standen Hannah und Indy mit untergehakten Armen, Hannah lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Freundin. Zusammen sahen sie umwerfend aus, Hannahs blasses Gesicht mit den langen, schwarzen Haaren das Gegenstück zu Indys brauner Haut und dem blauen Bubikopf. Jenny fragte sich, was ihrer Tochter wohl durch den Kopf ging, während die sterblichen Überreste ihres Großvaters in Flammen und Rauch aufgingen. Es kam Jenny immer noch verrückt vor, dass sie eine erwachsene Tochter hatte, die in einer Beziehung lebte.

Die Flammen waren inzwischen höher, schwarzer Rauch reckte sich in die Luft. Der Geruch von Fichten und Kiefern erinnerte Jenny an Weihnachten. Dorothy hatte Kräuterbüschel auf den Leichnam gelegt, bevor sie anfingen, und nun zogen Jenny Lorbeer und Salbei in die Nase, vermischt mit dem Geruch verbrannten Fleischs, was sie an Abendessen mit Sonntagsbraten erinnerte.

Sie sah zum anderen Ende des Scheiterhaufens, jenseits von Jims schmelzenden Füßen, und wechselte einen Blick mit Archie. Er beschäftigte sich mit den logistischen Anforderungen, warf immer wieder Blicke darunter, vergewisserte sich, dass der Rost Gewicht und Temperatur standhielt, und legte mit einer langen Zange einen Scheit neben Jims Bein zurecht. Auf dem Gras hinter ihm bemerkte Jenny einen eisernen Schürhaken und einen Rechen, um die Asche durchzugehen, nachdem die Flammen erloschen waren.

Archie war klein und stämmig, hatte einen dichten braunen Bart, einen rasierten Schädel und erinnerte in seinen Bewegungen irgendwie an ein Tolkiensches Wesen. Er war so alt wie Jenny, wirkte aber älter. Seit zehn Jahren war er die rechte Hand von Jim und Dorothy, doch es fühlte sich an, als wäre er schon immer da gewesen. Archie war einer von Dorothys Streunern. Sie hatte die Angewohnheit, verlorene Seelen aufzunehmen und zu einem Anker in deren Leben zu werden. Er war eines Tages aufgetaucht, um die Beerdigung seiner Mutter organisieren zu lassen. Im Verlauf des nächsten Monats sah man ihn häufig auf Friedhöfen und bei Einäscherungen, er tauchte uneingeladen auf den Beerdigungen wildfremder Leute auf und suchte nach Nähe und Verbundenheit. Bei einer davon im Craigmillar Castle Park trat Dorothy mit einem Vorschlag an ihn heran, und zwei Wochen später fuhr er in einen Anzug gekleidet den Leichenwagen, wechselte in einen Overall, um Särge zusammenzuzimmern, und übernahm schließlich unter Jims Anleitung das Einbalsamieren. Und Dorothy hielt zu ihm, als die Einzelheiten seines Zustandes ans Licht kamen. Sie holte eine zweite Meinung ein, behielt ein Auge auf seine Medikation und die Therapiesitzungen und vertraute ihm im Geschäft, was einen erheblichen Teil dazu beitrug, ihm das Leben zu retten.

Das Gleiche galt für Indy, eine weitere Streunerin, die drei Jahre zuvor aufgetaucht war, um ihre Hindu-Eltern beizusetzen, Zahnärzte, die bei einem Unfall gestorben waren und eine haltlose Tochter zurückließen. Aber Dorothy sah etwas in ihr, und einen Monat später machte sie Telefondienst, sammelte Informationen von Kunden und kümmerte sich um die Verwaltung. Jetzt machte sie eine Ausbildung zur Bestattungsunternehmerin. Unterdessen hatte sie sich in Hannahs Herz geschlichen und sie überredet, in die Wohnung einzuziehen, die sie von ihrer Mum und ihrem Dad geerbt hatte, zehn Fußminuten entfernt am Argyle Place.

Jenny starrte ihren Dad an, der verkohlte und schrumpfte, dessen Essenz sich mit den Flammen und dem Rauch vermischte und im Universum auflöste. Ein Teil von ihr konnte nicht glauben, dass sie nie wieder seine blöden Witze hören würde, diesen schrecklichen Vampirakzent, den er gelegentlich aufsetzte, um über den Tod zu sprechen. Wie er sie anzwinkerte, sein kleines Mädchen, während der Gottesdienste, in völligen unpassenden Momenten, was bewirkte, dass sie mit der Hand vor dem Mund den Raum verlassen musste, in den sie sich heimlich geschlichen hatte, weil der Tod für Kinder faszinierend ist.

Doch die Faszination ließ nach, denn in der Nähe von Beerdigungen aufzuwachsen, begann seinen Tribut zu fordern. Als Teenager ging sie auf Distanz, zog bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu Hause aus, studierte Journalismus, arbeitete, verliebte sich in Craig, bekam Hannah, ließ sich von Craig scheiden und hielt sich die ganze Zeit so weit wie möglich fern vom Tod.

Jetzt aber war der Tod wieder Teil ihres Lebens.

Sie schaute sich um. Hohe Eichen und Kiefern säumten die hintere Mauer des Gartens und versperrten den Nachbarn die Sicht. Links von ihr befand sich die offene Garage mit dem darin parkenden silbernen Leichenwagen, daneben die Werkstatt und der Einbalsamierungsraum. Diese Räume grenzten an das Haupthaus hinter ihr, das große, dreigeschossige viktorianische Anwesen, das seit hundert Jahren das Familienhaus der Skelfs war. Die ganze Zeit über hatte es gleichzeitig das Bestattungsunternehmen beherbergt und die letzten zehn Jahre auch noch eine Detektei, wobei die Firmen das Erdgeschoss in Beschlag nahmen, während die Familie auf den beiden Stockwerken darüber wohnte.

Rechts von Jenny raschelte etwas im Gebüsch, und dann kam Schrödinger aus dem Grünzeug getappt. Schrödinger war Dorothys letzter Streuner, ein rötlich-braun getigerter Kater mit dem drahtigen Körper eines Straßenkämpfers und der Ausstrahlung eines extrem ausgeprägten Selbstbewusstseins. Der Name war Hannahs Idee gewesen, und dabei war es geblieben. Als er näher kam, sah Jenny etwas in seinem Maul. Ein Vogel, rote, weiße und schwarze Kleckse im Gesicht, gelbe unter dem Flügel. Ein Stieglitz.

Normalerweise kam Schrödinger nie in Jennys Nähe, war sie hier doch eine Fremde, aber jetzt ging er an den anderen vorbei und legte ihr den Finken vor die Füße. Der Kater sah kurz zu dem Feuer hinüber, das Jims Körper umhüllte, ihm die Energie aussaugte, dann schlenderte er zurück ins Gebüsch.

Jenny senkte ihren Blick zu dem Stieglitz, dessen Brust und Kehle blutverschmiert waren.

Noch ein toter Körper, den man entsorgen musste.

Sie hob ihn auf und warf ihn auf den Scheiterhaufen, sah zu, wie sein Gefieder in Flammen aufging. Sie wischte das Blut des Vogels an ihrer Jeans ab und atmete tief durch.

2
JENNY

Dorothy hob ihr Glas. »Auf Jim.«

Die drei Frauen stießen miteinander an und tranken in kleinen Schlucken Highland Park. Jenny spürte beim Schlucken das Brennen. Normalerweise trank sie jeden halbwegs anständigen Gin, aber Dad liebte Whisky, und das hier war für ihn. Sie stellte ihr Glas auf den Küchentisch und fuhr mit einem Finger über die Maserung der Eiche, dachte an die Tausende von Mahlzeiten, die sie als Kind hier gegessen hatte.

Dorothy trank einen Schluck Whisky und spielte mit einer Tonschale in der Mitte des Tischs, die Hannah in der Grundschule gemacht hatte, die mit den Yin- und Yang-Symbolen. Sie hatte die Schale für Dorothy gemacht, schon damals an Omas Weltsicht interessiert, an der Balance und den inneren Zusammenhängen der Welt. In der Schale befand sich ein heruntergebranntes Teelicht, und Jenny musste an ihren Dad im Garten denken, der noch vor sich hin schwelte, während sie hier oben saßen. Sie trank einen weiteren Schluck.

Archie war noch unten und kümmerte sich um das Feuer. Als er anfing, mit dem Schürhaken an Jims Körper herumzufuhrwerken, hatten sich die drei Frauen nach oben in die Küche zurückgezogen, während Indy sich davonstahl, um die Rezeption zu besetzen. Der Empfang war für beide Firmen da, das Bestattungsunternehmen und die Detektei, jede mit einer eigenen Telefonnummer, aber beide erreichten dasselbe Telefon.

Jenny sah sich in der großen Wohnküche um. Sie saßen an dem alten Tisch neben dem normalen Zeug einer Küche – Herd, Kühlgefrierkombination, Schränke – an zweien der Wände. Die angrenzende Wand besaß zwei große Erkerfenster mit Blick auf den Bruntsfield Links. Von hier konnte Jenny die Zinnen von Edinburgh Castle geradeaus und die Kuppe von Arthur’s Seat auf der rechten Seite sehen. Dazwischen lag der von Bäumen gesäumte Park, den ein stetiger Strom von Studenten und Schulkindern von Bruntsfield nach Marchmont und zurück durchquerte.

Auf der letzten Wand des Raums hingen große Weißwandtafeln. Am oberen Rand der einen stand in fetten Buchstaben »BU«, auf der anderen »PD«. Die Küche diente auch als eine Art Gefechtsstand, von dem aus beide Unternehmen in den letzten zehn Jahren geleitet worden waren, seit Jim alle mit der Ankündigung überrascht hatte, dass er beabsichtige, seine Aktivitäten vom Geschäft mit dem Tod auf Privatermittlungen auszudehnen. Vielleicht überraschte es ja nicht jeden. Dorothy zuckte nicht mit der Wimper, aber Jenny hatte Probleme damit, es zu begreifen, und Jim wich all ihren Fragen aus.

Auf der Tafel des Bestattungsunternehmens war derzeit mehr los. Vier Namen waren mit schwarzem Stift unter »BU« geschrieben worden: Gina O’Donnell, John Duggan, Arthur Ford und Ursula Bonetti, alles in Dorothys ordentlicher Handschrift. Unter den Namen standen jeweils verschiedene Details. Wo die Leiche abzuholen war und ob das schon erledigt war, also stand unter einem Namen zum Beispiel RIE für das Royal Infirmary of Edinburgh in Little France, unter einem anderen hieß es Marie Curie für das Hospiz in Frogston, beim Dritten war es die städtische Leichenhalle. Die Leichenhalle bedeutete, dass die Polizei beteiligt und eine Obduktion durchgeführt worden war. Jenny war überrascht, dass sie sich an all das erinnerte, obwohl sie nie etwas mit dem Geschäft zu tun gehabt hatte und seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr hier lebte.

Unter den Angaben zum Abholen jeder Leiche standen Uhrzeit, Datum und Ort der Beerdigung, eine Vielzahl an Kirchen, Friedhöfen und Krematorien verteilt über die ganze Stadt. Zum einen das Warriston Crematorium, zum anderen das Morningside Crematorium. Es gab weitere Kürzel für jeden Gottesdienst, wie viele Fahrzeuge benötigt wurden, wer der Zelebrant war, um welche Art von Gottesdienst es sich handelte. An der Wand neben dem Whiteboard hing ein großer Stadtplan von Edinburgh, übersät mit verschiedenfarbigen Nadeln. Eine Karte der Toten dieser Stadt. Jenny stellte sich das Muster vor, das sich ergab, wenn man all diese Punkte miteinander verbinden würde.

Die Tafel der Detektei war im Vergleich ziemlich leer. Sie war auch weniger klar strukturiert, erinnerte ein wenig an die Tafeln in Kriminalfilmen, allerdings ohne die Fotos verstümmelter Frauen mit roten Verbindungslinien zu Serienkillern oder mutmaßlichen Terroristen. Stattdessen stand ganz oben ein Name, Jacob Glassman, direkt darunter ein weiterer Name, Susan Raymond. Dazu Gekritzel in Jims Handschrift, das Jenny nicht entziffern konnte. Sie starrte auf die Schrift, ein Faden, der ihren Dad mit einer Welt verband, die sich nun ohne ihn weiterdrehte. Vor dem Fenster kickten Schulkinder mit einem Fußball, eine alte Frau ging mit ihrem Dackel Gassi, zwei Radfahrer in Rennbekleidung schossen über den Weg zu den Meadows, und keiner von ihnen wusste von dem Mann, der im Garten unten zu Asche zerbröselte. Ihr Dad, für immer unersetzlich.

»Ich glaub’s einfach nicht, dass Grandpa tot ist«, sagte Hannah. Sie hielt ihr Glas an die Brust. Sie trank nicht viel, was Jenny freute. Die Einstellung gegenüber Alkohol in Schottland hatte sich seit ihrer Jugend sehr verändert. Als Teenager schmuggelte Jenny Halbliterflaschen hinaus auf die Links, um mit ihren Kumpeln zu trinken, ohne dass Dorothy und Jim davon etwas mitbekamen. Der Alkohol hatte Spuren in ihren Adern hinterlassen. Kein Problem, so würde sie es nicht nennen, aber der Alkohol war so etwas wie die Hintergrundbeleuchtung ihres Lebens, eine Spur davon in allem.

Sie trank ihren Highland Park aus und schenkte sich und Dorothy nach.

»Ich weiß«, sagte sie.

Dorothy atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus, ein wohlüberlegter Ablauf nach jahrzehntelangem Yoga.

»Er hatte ein gutes Leben«, sagte sie, wobei nach all den Jahren immer noch ein Hauch ihres kalifornischen Akzents vorhanden war.

»Ich bin noch nicht so weit, ihn gehen zu lassen«, sagte Jenny.

Dorothy lehnte sich zurück, und ihr Stuhl knarrte. »Können wir wohl nichts gegen tun.«

Jenny schüttelte den Kopf und nippte an ihrem Whisky.

»Was sollte das alles überhaupt?«, fragte sie und neigte ihr Glas zur Tür.

»Was meinst du?«, fragte Dorothy.

»Das menschliche Barbecue da unten.«

Dorothy zuckte mit den Achseln. »So hat er’s haben wollen. Er war den ganzen förmlichen Kram leid, das Zeremonielle.«

Hannah runzelte die Stirn. »Aber er hat doch immer gesagt, Menschen brauchen klare Regeln und Struktur, um abschließen zu können.«

»Vielleicht dachte er, wir brauchen es nicht«, sagte Dorothy.

Am liebsten hätte Jenny ihren Stuhl zurückgestoßen und aus dem Fenster gebrüllt, ihr Glas gegen die Beerdigungstafel geknallt, den Whisky über diese anderen Toten verspritzt. Doch sie blieb still sitzen.

»Aber es war illegal«, sagte sie. Sie wusste genug über Bestattungen, um zu wissen, dass es absolut nicht in Ordnung war, eine Leiche in seinem Garten zu verbrennen.

»Niemand wird es erfahren«, sagte Dorothy. »Oder sich dafür interessieren.«

»Meinst du?«, schnappte Jenny. Sie hasste es, dass sie klang wie die kleine Bratze, die sie als Teenager war, als sie genau an diesem Tisch saß und darüber stöhnte, dass Dorothy und Jim ihr nicht erlaubten, mit dreißigjährigen Männern, die sie nur flüchtig kannte, zu einem die ganze Nacht dauernden Rave nach Ingliston zu fahren. Hier war sie nun, eine fünfundvierzigjährige geschiedene Frau mit einer erwachsenen Tochter, und sie fühlte sich immer noch wie ein verzogenes Gör. Vielleicht lag es daran, dass Dads Beerdigung alles wieder hochkommen ließ, vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, jetzt wieder hier in diesem Haus des Todes zu sein.

»Ich weiß, dass es schwer für dich ist«, sagte Dorothy. »Für euch beide.«

Jenny schämte sich. Es ging hier immerhin um Dorothys Mann, mit dem sie fünfzig Jahre verheiratet gewesen war und von dem sie sich verabschiedete, sie hatten alle einen wichtigen Teil ihres Lebens verloren. Es war kein Wettbewerb.

»Und für dich, Mum«, sagte sie und streckte die Hand über den Tisch aus.

Dorothy kaute auf der Innenseite ihrer Wange und nahm Jennys Hand. Mit siebzig hatte sie immer noch eine weiche Haut. Sie wirkte überhaupt viel jünger und hatte immer einen Ausdruck auf dem Gesicht, selbst jetzt, als sei sie im Reinen mit der Welt.

Hannah legte ihre Hand auf die von Jenny und Dorothy, wodurch es sich anfühlte, als wären sie eine Gang, die gleich einen Überfall durchziehen würde. Sie zogen ihre Hände genau in dem Augenblick zurück, als es unten an der Tür klingelte.

Dorothy seufzte und schob ihren Stuhl zurück, doch Hannah hob eine Hand, um sie aufzuhalten.

»Indy erledigt das«, sagte sie. »Das weißt du doch.«

Dorothy zögerte, nickte schließlich.

Hannah war so verliebt, dass Jenny das Herz aufging. Jenny hatte die überwältigende Macht der Liebe bislang nur einmal erlebt, bei Craig. Und nun, tja …

Sie hörte eine gedämpfte Unterhaltung unten, dann Schritte auf der Treppe und ein Klopfen an der offenen Küchentür.

»Dad, du bist gekommen!« Hannah sprang auf, schrammte ihren Stuhl über den Boden und rannte zu Craig hinüber, der in der Tür stand. Er hatte einen Strauß roter Lilien in der Hand und machte ein ernstes Gesicht. Hannah nahm ihn in die Arme und drückte ihn, und er umarmte sie ebenfalls.

»Hi, Angel«, sagte er.

Hannah ließ ihn los, und er sah zum Tisch und nickte. »Jen.«

»Craig.«

Er kam ganz herein, hielt den Strauß Lilien vor sich. »Die sind für dich, Dorothy. Das mit Jim tut mir sehr leid. Hannah hat es mir erzählt, und ich möchte mein Beileid aussprechen. Er war ein guter Mann.«

Er sah kurz zu Jenny, die die Augen verdrehte. Scheiße, er sah immer noch gut aus. Er schien anders als die meisten Typen seines Alters überhaupt keinen Bauch anzusetzen, und die grauen Strähnen in seinen Haaren machten ihn irgendwie nur noch attraktiver. Vielleicht hielt es ihn jung, dass er mit der kleinen Sophia wieder Dad geworden war, vielleicht war es aber auch der Sex mit Fiona, diesem blonden Energiebündel und jetzt die zweite Mrs McNamara. Das war das Ärgerlichste an allem, dass er Jenny mit einer Gleichaltrigen betrogen hatte, einer zierlichen Reese Witherspoon, tatkräftig und ehrgeizig.

Genug. Sie widerstand dem Bedürfnis, etwas Bissiges zu sagen. Es war zehn Jahre her, und er war Hannah immer ein guter Vater gewesen. Was es auch nicht einfacher machte.

»Die sind wunderschön«, sagte Dorothy, nahm die Blumen und einen Kuss auf die Wange an. Sie holte eine Vase aus dem Schrank. »Bleib auf ein Glas.«

Craig sah Jenny an. »Ich will mich nicht aufdrängen.«

Dorothy füllte die Vase mit Wasser und arrangierte die Lilien. Jenny zog der Duft der Blumen in die Nase, intensiv und moschusartig. Lilien hatten immer etwas Maskulines für sie.

»Bleib, Dad«, sagte Hannah.

Craig sah Jenny mit gehobenen Augenbrauen an und wartete auf ihr Okay.

Sie machte eine großzügige Handbewegung über den Tisch hinweg. »Setz dich.«

Als er Jenny sagte, dass er eine Affäre habe und sie verlassen werde, hätte der Versuch sie fast zerrissen, vor Hannah nicht einfach auszurasten. Aber sie wollte verflucht sein, wenn sie sich von Hass und Verbitterung auffressen ließ, und sie wollte nicht, dass all diese toxische Scheiße ihre Tochter infizierte. Mit den Jahren war es leichter geworden, sehr zu Jennys Überraschung. Man kann sich anscheinend an alles gewöhnen. Aber sie musste sich immer noch auf die Zunge beißen, um nicht zur bösartigen Hyäne zu werden, zur Frau, der Unrecht angetan worden war. Was ihn natürlich aus der Verantwortung nahm.

Dorothy stellte die Lilien auf den Tisch, holte einen Tumbler aus dem Schrank und schenkte Craig ein.

»Und wann ist die Beerdigung?«, fragte Craig und trank einen Schluck.

Hannah runzelte die Stirn. »Haben wir gerade gemacht.«

»Wann?«

»Eben, im Garten.«

Craig sah verwirrt aus. »Moment, kommt daher der Rauch über dem Haus?«

Hannah nickte. »Nur wir, kein Gottesdienst.«

»Dürft ihr hier Leute einäschern?«

Hannah schüttelte den Kopf, während Dorothy sich setzte und ihr Glas nachfüllte.

Jennys Telefon vibrierte in ihrer Tasche, und sie zog es heraus. Kenny vom The Standard. Er rief nie an. Immer nur E-Mail, ein kurzes Hin und Her wegen ihrer Kolumne, danach Ablieferung pünktlich zu Redaktionsschluss.

Sie stand auf und ging zur Tür. »Ich muss da rangehen.«

Auf dem Flur drückte sie auf Annehmen. »Kenny.«

»Hi, Jenny.« Er hörte sich nicht gut an.

»Meinen Text muss ich erst in ein paar Tagen abliefern.«

Sie ging zu ihrem alten Kinderzimmer, das zu einem minimalistischen Gästezimmer umfunktioniert worden war, Kiefernbett, nackte Holzdielen, ein schmales Regal mit den überzähligen Büchern aus Dorothys Sammlung.

Sie hörte einen Seufzer am anderen Ende der Leitung. »Es gibt keine einfache Art, dir das jetzt zu sagen. Wir stellen deine Kolumne ein.«

»Was?«

»Du weißt selbst, wie’s hier ist, eine Mischung aus Geisterschiff und Titanic. Die Zahlen bringen’s einfach nicht.«

Es überraschte sie nicht, aber darauf vorbereitet war sie auch nicht. Jeder, den sie kannte und der zur gleichen Zeit wie sie als Journalist angefangen hatte, hatte sich eine Ausstiegsstrategie zurechtgelegt, war wie Craig in die PR gewechselt oder in die Ausbildung, Beratung oder sogar in die Politik gegangen. Eine Karriere im Journalismus war so was wie ein Tod durch tausend Schnitte, und das hier war jetzt der letzte Messerstich in ihren Bauch.

»Wann?«

»Sofort.«

»Kenny, ich brauche das, es ist der einzige regelmäßige Job, den ich noch hab, das weißt du doch.«

Sie betastete ein Buch auf dem Regal, zog es heraus. Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten. Sie erinnerte sich, es im Haus gesehen zu haben, als sie aufwuchs, auf dem Cover eine Blume, deren Blüte ein Schraubenschlüssel war. Sie hatte es nie gelesen.

»Tut mir leid«, sagte Kenny.

»Ich kann noch nicht mal meine Miete bezahlen.«

»Es wird dich nicht trösten, aber ich bekomme auch bald die Kugel.«

»Du hast recht«, sagte Jenny. »Das ist kein Trost.«

Sie ging zum Fenster und schaute in den Garten hinunter. Archie kümmerte sich um den Scheiterhaufen, der inzwischen nur noch ein niedriger Haufen schwelender sterblicher Überreste war. Schwarz und weiß und grau, Asche und Knochen. Archie harkte am Rand entlang, Staub rieselte in die Auffangschale darunter. Jenny sah verkohlte Klumpen, wo zuvor Dads Schuhe gewesen waren, und fragte sich, was wohl aus seinen Füßen geworden war. Größe 45,5 und schmal, der zweite Zeh länger als der große, etwas, das sie und Hannah geerbt hatten.

»Wir haben Streichungen überall in der Zeitung«, sagte Kenny.

»Die Freien zuerst.«

»Du weißt, wie’s ist.«

Keine Arbeitsverträge, leicht aufzulösen bei zero Kosten. Vergib die Arbeit, die Seiten zu füllen, einfach hausintern, sollen doch die verbliebenen Festen die Kolumnen und Berichte und überhaupt alles schreiben, und wenn’s nicht gefällt, wird’s schon irgendein kleiner Penner mit glänzenden Augen frisch von der Journalistenschule für umsonst machen, nur, um seinen Namen in die Zeitung zu bekommen.

Aus dem Fenster sah Jenny Schrödinger die Hecke entlangpirschen, die Augen immer auf eine Ringeltaube gerichtet, die in einem Busch hockte. Er griff mit einem Sprung an, doch der Vogel flatterte auf der Hecke ganz nach oben und starrte zu ihm hinunter. Schrödinger war verblüfft, das Leben war nur ein Spiel.

»Lass mich wissen, wenn ich irgendwas tun kann«, sagte Kenny.

»Okay.«

»Ich muss los. Wir bleiben in Verbindung, ja?«

Jenny beendete das Gespräch. Sie hatte immer noch das Buch in der Hand, die Blume und der Schraubenschlüssel, das eine verwandelte sich in das andere, als wäre es so einfach, sein Leben zu ändern. Wenn sie das Buch las, könnte sie vielleicht ihr Leben ändern, bekäme eine andere Sichtweise auf die Welt.

Sie stellte das Buch wieder ins Regal und kehrte in die Küche zurück. Die drei saßen am Tisch und seufzten, wie Leute es tun, nachdem jemand was Witziges, aber auch Ergreifendes gesagt hat. Jenny schien den Witz nie mitzubekommen. Sie hoben gleichzeitig ihre Gläser, als hörten sie eine telepathische Botschaft, für die Jenny taub war.

Craig sah Dorothy an.

»Aber was ist mit den Geschäften?«, fragte er, als setze er eine begonnene Unterhaltung fort.

Dorothy lächelte. »Ich habe Archie und Indy.«

»Indy macht eine Ausbildung zur Bestattungsunternehmerin«, sagte Hannah und strahlte vor Stolz.

»Super«, sagte Craig. Er hob sein Glas und deutete damit auf die beiden Whiteboards an der Wand. »Aber es ist eine Menge zu tun. Jim war …« Vielleicht wollte er die Frauen nicht an ihren Verlust erinnern.

Dorothy nickte, zeigte Anerkennung für Craigs diplomatisches Vorgehen, blickte dann in ihr Glas, ließ den Highland Park kreisen, beobachtete, wie er an den Seiten des Glases Schlieren zog.

Jenny wusste, was jetzt kam, sie hatte damit gerechnet, seit sie die Nachricht von Dads Tod erhalten hatte. Sie war überrascht, dass es nicht schon früher erwähnt worden war, aber hier kam’s, sie war bereit.

Dorothy trank einen Schluck, starrte in ihr Glas. »Ich dachte, vielleicht könnte Jenny mir unter die Arme greifen. Bleibt eine Weile hier, leistet mir Gesellschaft.« Jetzt schaute sie auf. »Nur für eine Weile.«

Jenny dachte an den Anruf, an ihre überfällige Miete, an das blöde Buch mit der Blume auf dem Cover. Sie konnte den Blütenstaub der Lilien riechen und den Whisky, und sie dachte daran, ihren Dad nie mehr zu sehen.

»Klar.«

€20,99