Eingeäschert

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8
HANNAH

Zuerst dachte sie, die Rezeption sei unbesetzt, doch dann hob ihre Mum den Kopf über die Kante des Tischs, als hätte sie dort geschlafen. Jenny blinzelte heftig. Eine Strähne ihrer roten Haare hatte sich aus dem locker gebundenen Pferdeschwanz gelöst und klebte nun an ihrer Lippe. Sie zog daran und hustete.

»Hey«, sagte sie.

Hannah hatte am Abend zuvor nur wenige Minuten mit der Polizei gesprochen, es war ein Reinfall. Sie dachte, vielleicht unternahmen sie nichts, weil es noch keine vierundzwanzig Stunden her war oder welchen Zeitraum auch immer man als Voraussetzung ansetzte. Aber der abgestumpfte Bulle mit seinem keuchenden Atem meinte am Telefon, das sei nur ein Klischee aus dem Fernsehen. In Wahrheit gebe es keine zeitliche Begrenzung für vermisste Personen, und die Polizei würde nur dann ermitteln, wenn es sich um eine besonders gefährdete Person handelte, wie zum Beispiel eine ältere Dame mit Demenz, die durch die Gegend irrte, oder ein Schulkind. Es gab offensichtlich kein Gesetz, das es mündigen Erwachsenen verbot, einfach zu verschwinden. Hannah überprüfte das im Anschluss an die Unterhaltung, und ärgerlicherweise hatte der Polizeibeamte recht. Er hatte beinahe gelacht, als Hannah ihre Besorgnis zum Ausdruck brachte, besonders als er hörte, dass Melanie Studentin war. Eine zwanzigjährige Studentin war noch nicht nach Hause gekommen, lasst die Suchmannschaften anrücken. Hannah bestand darauf, den Namen des Bullen und eine Bearbeitungsnummer des Anrufs zu erfahren, aber das war alles nur leeres Gepolter.

Um sieben Uhr hatte Yu Cheng angerufen, gerade als Hannah sie anrufen wollte. In Yus Stimme lag echte Besorgnis, als Hannah erzählte, noch nichts von Mel gehört zu haben. Hannah hatte bis dahin einen Deckel auf der Sache gehalten, aber nachdem sie mit Mels Mutter gesprochen hatte, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Sie prüfte erneut die sozialen Medien, textete eine Menge Leute aus Mels Telefon an, nichts.

Es sprang ihr ins Auge, als Indy es aussprach. Mel war eine vermisste Person, und das hier war ein Fall. Wenn die Polizei nicht ermitteln wollte, musste es eben jemand anderes tun, also war das jetzt wohl sie. Das einzige Problem war nur, dass Grandpa tot war.

Jenny richtete sich auf.

»Ich brauche einen Privatdetektiv«, sagte Hannah.

Jenny kam hinter dem Schreibtisch hervor. »Was ist los?«

»Mel ist verschwunden.«

Hannah sah Falten um die Augen ihrer Mum, die sie bisher nicht bemerkt hatte. Außerdem hatte sie einen roten Fleck auf der Stirn und sah erschöpft aus. Jims Tod hatte sie alle mitgenommen, aber Hannah vergaß manchmal, dass er Jennys Dad war. Sie stellte sich ihren eigenen Dad auf einem Scheiterhaufen vor, was sie dabei empfinden würde.

»Wahrscheinlich ist sie bei ihrem Freund«, sagte Jenny.

Hannah schüttelte den Kopf. Sie hatte es bereits satt, die Einzelheiten durchzugehen, aber sie würde es wieder und wieder tun müssen, falls sie etwas deswegen unternehmen wollte.

»Xander hat sie nicht gesehen, wie auch niemand sonst.«

»Familie?«

»Yu ist krank vor Sorge.«

»Dann setz dich mit der Polizei in Verbindung.«

»Die sind nicht interessiert.«

»Was?«

»Sie kennen sie nicht. Das ist völlig untypisch für Mel.« Sie spürte, wie sich etwas in ihr regte, atmete tief ein, um es zu unterdrücken. »Ich brauche Hilfe, Mum. Ich muss sie suchen, denn sonst wird es niemand tun.«

Jenny musterte sie.

»Okay«, sagte sie schließlich.


Schrödinger schnurrte, als Hannah ihn vom Hals bis zum Schwanz streichelte. Anschließend ging er hinüber in die Sonne vor dem Fenster.

Sie saßen wieder am Küchentisch. Hannah rieb an einem klebrigen Whisky-Ring auf dem Holz. Es war ein wunderschöner Tag draußen, das Licht strömte herein. Sie betrachtete den Staub, der im Licht dahintrieb, und dachte an subatomare Partikel, auch wenn sie wusste, dass Teilchen eigentlich gar keine Teilchen waren, sondern vielmehr Wellen oder Felder oder Kräfte – es gibt jede Menge unterschiedlicher Metaphern, von denen keine so ganz zu den Zahlen und Gleichungen passt, mit denen wir das Universum zu erfassen versuchen.

»Ich bin kein Privatdetektiv«, sagte Jenny und trank einen Schluck Kaffee. Auf ihrem Becher befand sich eine Darstellung von Buddha. Der Kaffee war stark.

»Ich auch nicht.«

»Also können wir das nicht machen.«

Hannah hob die Augenbrauen. »Du hast mir doch immer gesagt, ich könnte alles tun, wenn ich mich nur darauf konzentrierte.«

Jenny verdrehte die Augen. »Komm schon, so was sagen Eltern ihren Kindern, damit sie nicht als Junkie-Poletänzerin enden.«

Hannah trank ihren grünen Tee. »Danke.«

Jenny wedelte mit der Hand zu dem Detektei-Whiteboard an der hinteren Wand. »Deine Gran wird dazu mehr sagen können, wo sie doch Dad jahrelang dabei zugesehen hat.«

Hannah beugte sich vor. »Du bist meine Mum, und ich bitte dich um Hilfe.«

Jenny schüttelte den Kopf.

Hannah spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Ihre Mum zog ja so was von dauernd ihren Kopf ein, wie nannten sich die Generation-X-Leute noch selbst? Leistungsverweigerer? Nur eine Ausrede, sich nicht auf die Welt einzulassen, sich nur ja nicht echten Gefühlen auszusetzen.

»Was stimmt nicht mit dir?«, sagte sie. »Ich bitte dich darum, mir zu helfen.«

Jenny setzte sich auf. »Mein Dad ist gerade gestorben, oder hast du das schon vergessen?«

Hannah starrte sie mit großen Augen an. Sie wollte sich entschuldigen, aber gleichzeitig wollte sie ihre Mum auch schütteln und zur Vernunft bringen.

Schließlich sprach Jenny. »Jedenfalls hab ich sowieso keinen Schimmer, wo ich anfangen sollte.«

Das war so was wie eine Einwilligung. Genug, für den Moment.

»Wie schwer kann das denn sein? Wir ermitteln einfach«, sagte Hannah. »Wir reden mit Leuten, gehen Mels Bewegungen nach, werfen ein scharfes Auge auf Dinge.«

»Wahrscheinlich ist sie längst wieder heil und gesund in eurer Wohnung.«

»Dann hätte Indy längst angerufen.«

»Ich finde nur einfach, dass es keine große Sache ist.«

Hannah nahm Mels Telefon heraus und knallte es auf den Tisch. »Ohne das hier wäre sie nie irgendwohin gegangen! Und es ist jetzt über vierundzwanzig Stunden her, seit sie jemand das letzte Mal gesehen hat.«

»Du tust ja gerade so, als dürften Leute nicht mehr ihr eigenes Ding machen«, sagte Jenny. »Es muss nicht jeder rund um die Uhr erreichbar sein.«

»Bitte erspar mir das Gelaber über die gute alte Zeit, vier Kanäle im Fernsehen, keine Fernbedienungen, kein Internet. Ihr hattet euren Spaß mit Hula-Hoops und Stöckchen, stimmt’s?«

»Vielleicht wollte sie ja einfach mal Ruhe haben, um zu lernen oder um Drogen zu nehmen oder um sagenhaften Sex mit unpassenden Männern zu haben.«

»Sie hat weder Klamotten noch ihr Handy noch eine Zahnbürste mitgenommen. Falls sie irren Sex mit einer Rockerbande im Sinn hatte, würde sie bestimmt saubere Zähne haben wollen.«

»Sie wird wieder auftauchen.«

Hannah schob ihren Stuhl zurück. »Ich hoff’s, aber bis dahin lass uns einfach nach ihr suchen.«

Jenny hob die Hände, gab klein bei. »Und wie stellen wir das an?«

Hannah ging mit großen Schritten zum Whiteboard und starrte auf die dort notierten Namen. Sie zog die Kappe eines Markers ab; der Geruch erinnerte sie an Uniseminare. Auf einen freien Bereich der Tafel schrieb sie »Melanie Cheng«, zog Linien von Mels Namen und fügte hinzu: »Fester Freund Xander«, »Familie«, »Kommilitonen«, »Uni-Personal«.

»Was würde ein Detektiv tun?«, fragte sie laut und sah Jenny an.

Ihre Mum zuckte mit den Achseln.

Hannah klopfte den Marker gegen ihre Hand. »Mit dem Freund anfangen.«

»Was ist mit den anderen Kategorien?«, fragte Jenny.

Hannah sah auf die Tafel und schüttelte den Kopf. »Mir fällt nichts ein.«

»Familiäre Sachen? Kulturelle Probleme einer jungen, unabhängigen chinesisch-schottischen Frau?«

Hannah presste die Lippen aufeinander. »Das ist rassistisch. Yu und Bolin sind liberal eingestellte Akademiker, sehr weltoffen und unvoreingenommen.«

»Sie hat doch einen Bruder, stimmt’s?«

»Er ist cool.«

»Bist du sicher?«

Hannah konnte sich nicht vorstellen, dass Vic irgendwas tun würde, um Mel zu schaden.

»Was ist mit Aktivitäten außerhalb der Uni?«, fragte Jenny. »Clubs, Vereine, schräge Marotten?«

Hannah zog eine weitere Linie von Mels Namen und schrieb: »Quantum Club.«

»Ist das so ein Fantasy-Ding?«, fragte Jenny.

Hannah warf ihrer Mum einen schrägen Blick zu. »Es ist ein Debattierclub, hat was mit Philosophie zu tun. Wir machen da beide mit.«

»Hast du mir gegenüber aber noch nie erwähnt.«

»Du hast nicht gefragt.«

»Worüber redet ihr so?«

»Eigentlich über alles. Die Auswirkungen der modernen Physik auf das Leben, das Universum und alles.« Hannah wusste, dass ihre Mum die Anspielung auf Per Anhalter durch die Galaxis nicht verstehen würde. »Er wird von Bradley Barker geleitet, einem der Doktoranden.«

Hannah setzte seinen Namen ebenfalls auf die Tafel. Sie konnte unter dem, was sie geschrieben hatte, die Schatten von älterem Geschreibsel sehen, das von ihrem Grandpa stammte, und sie dachte darüber nach, wie sich die Moleküle der Schreibwand mit der Tinte des Markers vermischten, diesen Fall mit jedem älteren verwob, sowohl den gelösten wie den unaufgeklärten.

 

»Okay«, sagte Jenny. »Also sollte eine von uns mit Xander reden, und die andere spricht mit diesem Bradley.«

»Es ist niemand unten«, sagte Dorothy, woraufhin Hannah sich umdrehte. Ihre Gran stand in der Tür und hielt ein gefaltetes Blatt Papier in der Faust. Zuerst fiel ihr Blick auf das Whiteboard, anschließend sah sie Hannah und Jenny an. »Was macht ihr da?«

Hannah sah Jenny an, dann wieder ihre Gran.

»Wir arbeiten an einem Fall«, sagte sie.

9
DOROTHY

Archie zapfte wie eine Krankenschwester die Halsschlagader an, und Dorothy schaute zu, wie die Pumpe ihre Arbeit erledigte, Balsamierflüssigkeit in den Körper der Frau drückte, wodurch das Blut ersetzt wurde. Das Summen der Pumpe und der chemische Geruch erinnerten sie an Jim. Aber alles erinnerte sie an Jim, vielleicht sollte sie verkaufen und nach fünfzig Jahren nach Pismo Beach zurückkehren, um nie wieder heimgesucht zu werden.

»Hi, Archie«, sagte sie vom Flur aus.

Er schaute auf. »Hallo.«

Sie näherte sich der Leiche. Bleich und gummiartig. Nicht wie die Leichen in Fernsehfilmen, das war etwas, das in solchen Sendungen immer falsch dargestellt wurde. Es lagen offensichtlich Schauspieler dort, die atmeten, deren Blut in den Adern mit Sauerstoff angereichert wurde, die immer noch von Hoffnungen und Enttäuschungen angetrieben wurden. Die vor ihr liegende Frau hingegen hatte keine Enttäuschungen mehr, keine Hoffnungen.

»Gina O’Donnell«, sagte Archie.

Dorothy streckte eine Hand aus, und ihre Finger schwebten über den Abschürfungen auf Ginas Hals. Selbstmord mit neununddreißig, hatte sich mit einem Gürtel an der Deckenlampe in ihrem Schlafzimmer erhängt. Dorothy konnte auf ihrer Haut immer noch den Abdruck der Schnalle erkennen.

Archie folgte ihrem Blick. »Dürfte kein Problem sein, das abzudecken.«

Dorothy nickte. Archie war nicht so geschickt wie Jim bei den Leichen, aber er war gut genug, und er war gewissenhaft. »Die Schwester kümmert sich um alles, oder?«

»Ja.«

»Hat sie schon Kleidung gebracht?«

Archie sah nach der Pumpe, der verschwindenden pfirsichfarbenen Flüssigkeit. »Gestern. Nach der …«

Er meinte, nachdem sie Jim verbrannt hatten.

Dorothy sah zu, wie er die Nadel in der Arterie kontrollierte, den Schlauch, der zur Pumpe lief. Ein anderer Arbeitgeber hätte ihn vielleicht gehen lassen, als die Natur seiner Krankheit entdeckt wurde, doch Dorothy hielt zu ihm, und es hatte sich ausgezahlt. Nach dem Tod seiner Mutter hatte sich bei ihm das Cotard-Syndrom ausgebildet, ein psychisches Krankheitsbild, bei dem der Patient phasenweise überzeugt ist, eigentlich tot zu sein. So etwas kann zusammen mit posttraumatischen Belastungsstörungen auftreten, und Archies Verlust war ganz eindeutig ein Auslöser. Er fing an, sich auf Friedhöfen und bei Krematorien herumzutreiben, besuchte die Beerdigungen wildfremder Menschen, weil er sich dort unter seinesgleichen fühlte. Einer der merkwürdigen Aspekte dieser Krankheit ist, dass die Patienten nicht über Selbstmord nachdenken, weil sie ja glauben, längst tot zu sein. In schweren Fällen können Patienten sich zu Tode hungern.

Bei Archie war es nie so ernst, aber während seines ersten Jahres bei ihnen litt er schweigend. Dorothy bemerkte seine zunehmende Teilnahmslosigkeit und forschte behutsam nach. Er erledigte immer noch seine Aufgaben, wenn auch nur das absolute Minimum, interagierte ansonsten aber gar nicht. Dorothy überredete ihn, sich ärztliche Hilfe zu holen, und nach monatelangen Untersuchungen kam ein über die aktuelle Forschung informierter Psychiater auf diese Diagnose. Es folgten mehrere Jahre, in denen verschiedene Antidepressiva und Neuroleptika nach der Trial-and-Error-Methode ausprobiert wurden, bis man schließlich eine ausbalancierte Mischung fand. Die Vorstellung, längst tot zu sein, verließ jedoch nie ganz seinen Verstand.

Dorothy versuchte, sich das vorzustellen, zu glauben, die Seele habe den eigenen Körper verlassen und man sei eine wandelnde Leiche. Schlimmer als der wirkliche Tod, gefangen in einem verwesenden Körper, gefangen zwischen dieser Welt und der nächsten.

»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte sie.

»Natürlich.«

Sie sah Gina auf dem Tisch an, diese Male auf ihrem Hals.

»Was weißt du noch von Simon Lawrence?«

Archie hörte auf, die Chemikalien auf der Ablage auszurichten. »Warum fragst du?«

»Ich musste neulich an ihn denken, das ist alles.«

Jetzt schaute Archie auf. »Nicht viel. Er war die ersten paar Monate hier, nachdem ich bei euch angefangen hatte. Ist meistens gefahren, hat gelegentlich auch in der Schreinerei ausgeholfen.«

»Wie war er so?«

»Um ehrlich zu sein, kannte ich ihn eigentlich gar nicht richtig. Worum geht’s denn?«

Dorothy meinte plötzlich, der Raum sei viel zu hell, die Deckenbeleuchtung wäre wie die grellen Lampen bei Verhören. Trotz der niedrigen Temperatur war ihr plötzlich warm.

»Weißt du noch, warum er gegangen ist?«

Archie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Jim hat gesagt, er hätte irgendwo in einem Büro einen anderen Job gefunden. Ich bin nicht sicher, wie sehr er diese Arbeit hier mochte. Nicht jeder kommt damit zurecht.«

Dorothy warf einen Blick auf die Pumpe, halb gefüllt mit der Balsamierflüssigkeit, die sanft plätscherte wie eine Slushy-Maschine. Sie legte eine Fingerspitze auf Ginas Hand, kalt wie Gummi, überhaupt nicht menschlich.

»Nein«, sagte sie. »Es ist nichts für jeden.«

10
HANNAH

Das Southpour war eine typische Hipster-Bar, unverputztes Mauerwerk, Beleuchtungskörper mit Designer-Rost, flackernde alte Glühlampen, die praktisch kein Licht abgaben. Die Speisekarte bestand aus Sauerteigbrot, Craftbieren und einer langen Liste ausgefallener Ginsorten sowie Mixgetränken des einundzwanzigsten Jahrhunderts, was immer das sein mochte.

In den fünf Jahren, seit Hannah das erste Mal Alkohol getrunken hatte, waren die meisten Altherren-Pubs aus der Southside verschwunden. Hannah hatte dazu eine ambivalente Einstellung. Wenigstens konnten junge Frauen jetzt etwas trinken, das nett schmeckte, ohne begrabscht zu werden, obwohl der Stress natürlich nie aufhörte. Andererseits bezahlte man einen Zehner für einen Drink und eine Tüte handgefertigte Chips.

Xander stand hinter dem Ende der Theke, das Kinn auf dem Handballen abgestützt, als würde die Blondine, die er anstarrte, das Interessanteste auf der Welt erzählen.

Er bemerkte Hannah, und der Ausdruck in seinen Augen änderte sich, gefolgt von seiner Körpersprache. Er entfernte sich langsam von der Frau und wandte sich Hannah zu.

»Hast du sie gesehen?«, fragte er.

»Genau das wollte ich dich auch gerade fragen.«

»Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen?«

Hannah schüttelte den Kopf. Sie blickte auf das Regal mit den Alkoholflaschen, auf die an Holzbalken befestigten Lichterketten. Die Bar war in der Mittagszeit fast leer, und sie stellte sich vor, Xanders Hemd zu packen und ihn über die Theke und auf den Boden zu zerren.

»Du musst mir alles sagen, was du weißt«, sagte sie.

Als sie Hannahs Ton hörte, nahm die Blondine ihren kirschfarbenen Drink voller Minze und entfernte sich von der Theke. Xander sah ihr nach.

Hannah deutete mit dem Kopf auf den Hintern des Mädchens. »Du wartest nicht lange, was?«

»Sie ist nur ein Gast.«

»Okay.«

»Hast du schon mit Mels Leuten gesprochen?«

Hannah sah ihn scharf an. Er war über eins achtzig groß und schlaksig, erinnerte mehr an ein Bündel weicher Nudeln als an ein menschliches Skelett, überzogen mit Fleisch und Haut. Sie hatte ihn immer für harmlos gehalten, aber Mels Verschwinden hatte etwas in ihr verhärtet, und jetzt betrachtete sie alles voller Misstrauen.

Hannah nickte. »Sie hat sich gestern nicht wie vereinbart zum Mittagessen mit ihnen getroffen. Sie sind extra aus Dundee heruntergekommen.«

Xander wirkte beunruhigt. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«

Hannah kramte in ihrer Tasche und zog Mels Handy heraus. »Und das hier hat sie auch nicht.«

»Scheiße.«

Hannah bewegte den Daumen über den Bildschirm des Telefons, und das Bild von Mel und Xander erschien. »Wann hast du sie denn das letzte Mal gesehen?«

Xander wischte die Theke mit einem Tuch ab, obwohl sie sauber war. »Bist du jetzt eine Detektivin?«

Hannah dachte darüber nach. »Ich will nur meine Freundin finden. Und wir benutzen lieber das Wort Ermittler statt Detektiv.«

»Im Ernst jetzt?«

Hannah zuckte mit den Achseln. »Es scheint dich nicht sehr zu beunruhigen, dass Mel verschwunden ist.«

»Natürlich beunruhigt es mich. Aber du bist die Einzige, die sich Sorgen machen darf, ist es das?«

Hannah hatte in der Vergangenheit nicht viel mit Xander zu tun gehabt. Sie erinnerte sich, wie er und Mel nach einer Kennenlernparty des Physik Clubs im King’s Buildings House zusammengekommen waren. Es war eine eher hirnlose Veranstaltung, wie sie es immer sind, und das Licht an der Theke war viel zu grell, aber sie sah, wie die zwei in einer Ecke saßen und redeten, Blickkontakt und Körpersprache waren eindeutig. Mel war auf eine sittsame Art hübsch, strenger Pony, ihre schwarzen Haare immer glänzend, kein Make-up, aber makellose Nägel. Sie wirkte eher verschlossen, organisiert. Sie hatte vorher nie wirklich über Jungs geredet, daher war Hannah überrascht, dass sie und Xander sich so schnell gut verstanden. Verglichen mit Mel, konservativ und akkurat, war Xander eher wie eine betrunkene Giraffe, die wie benebelt herumtapst. Oder vielleicht war er, als sie ihn jetzt beobachtete, auch deutlich mehr beieinander, bewusster.

»Du darfst dir Sorgen machen«, sagte Hannah und pflanzte sich auf einen Barhocker. »Kann ich einen Drink haben?«

Xander schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, er verstünde die Frauen nicht, was zweifellos so war. »Was kann ich dir bringen?«

Hannah ließ den Blick über das Regal wandern und sah eine Flasche, die sie erkannte. »Highland Park, pur.«

Xander hob die Augenbrauen, als er nach der Flasche griff. Sein T-Shirt rutschte hoch, und sie sah das Superdry-Logo auf seiner Unterwäsche.

»Hätte dich nicht für ein Single Malt-Mädchen gehalten.«

»Du weißt nichts über mich.«

Es lag nicht unbedingt an ihm, aber etwas an dieser Situation machte sie wütend. Vielleicht war es, wie er mit der Blondine geredet hatte, als Hannah hereinkam, oder auch einfach nur seine völlig unverständliche Zuversicht. Oder die Tatsache, dass das rationalste Mädchen, das Hannah kannte, einfach von der Bildfläche verschwunden war.

Der Whisky wurde mit einem dumpfen Geräusch auf die Theke gestellt, und Hannah zahlte. Sie hob das Glas an die Nase und atmete ein, spürte, wie die verdunstenden Moleküle in ihrer Nase brannten. Sie dachte an Grandpa. Wie würde er Melanie finden?

»Sag mir, wann du das letzte Mal Kontakt mit ihr hattest«, bat Hannah und trank einen Schluck.

»Kontakt hatte?«

»Du weißt schon, was ich meine – gesehen, gesprochen mit ihr, gewhatsapped, gesextet.«

»Wir haben nie gesextet.«

Das wusste Hannah bereits, nachdem sie Mels Handy gecheckt hatte.

Xander kratzte an einem imaginären Fleck auf der Theke. »Gestern hab ich sie gar nicht gesehen. Sie sollte nachmittags im Seminar sein, also hab ich ihr eine Nachricht geschickt, auf die sie allerdings nicht geantwortet hat. Sie war am Abend davor bei mir, ist aber nicht über Nacht geblieben, weil sie morgens in ihrem eigenen Bett aufwachen wollte, um sich für das Treffen mit ihrer Familie fertig zu machen.«

Das stimmte mit Mels Telefon überein, aber Xander wusste, dass Hannah es hatte, also wäre es dumm, etwas anderes zu behaupten.

»Wie hat sie auf dich gewirkt?«

»Wie immer.«

»Was habt ihr gemacht?«

»Wir haben Pasta gegessen. Mel hat sie gemacht.«

»Sie kocht, wenn sie bei dir ist?«

»Sie kocht gern, das weißt du doch.«

»Also hast du sie machen lassen.«

»Warum nicht?«

»War sonst noch jemand da?«

Xander verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und schüttelte den Kopf. »Die Jungs waren im Pub und haben Champions League gesehen.«

 

Hannah fragte sich, ob sie sich Notizen auf ihrem Handy machen oder die Unterhaltung aufnehmen sollte. Vielleicht sollte sie sich einen dieser Notizblocks besorgen, wie sie im Fernsehen immer von den Cops benutzt werden, dann das Ende eines Bleistifts oder so anlecken und alle Einzelheiten aufschreiben.

»Die Jungs?«, hakte sie nach.

»Meine Mitbewohner.«

Mel hatte Xanders Mitbewohner mal erwähnt, und wenn man zwischen den Zeilen las, mochten die sie nicht besonders, weil sie ihnen ihren Kumpel wegnahm.

»Die Namen?«, sagte Hannah und nahm ihr Handy heraus.

»Echt jetzt?«

»Willst du sie nicht finden?«

»Das hat doch mit ihnen gar nichts zu tun.«

»Woher weißt du das?« Hannah trank einen Schluck Whisky und spürte, wie ihr Jims Geist Kraft gab. »Woher weißt du, was wichtig ist und was nicht? Alles könnte sehr wichtig sein, man weiß es nicht.«

Xanders Blick wanderte durch die Kneipe nach einem Gast, der hereinkam und ihn rettete. »Darren und Faisal.«

Sie gab die Namen in ihr Handy ein. »Nachnamen?«

»Ist das wirklich nötig?«

Sie sah ihn fordernd an.

Er seufzte. »Grant und McNish.«

»Haben sie sich mit Mel verstanden?«

»Klar, sie ist super.«

»Haben die sie überhaupt in deiner Wohnung gesehen?«

Xander schob die Hände in die Taschen. Er hatte ein Fitbit-Imitat am Handgelenk, und Hannah fragte sich, ob das nachverfolgt werden konnte. Nicht dass sie gewusst hätte, wie man so etwas macht. Er schüttelte den Kopf. »Sie sind nach den Vorlesungen direkt in den Pub.«

»Und nach der Pasta?«

Er sah sie belämmert an. »Du weißt schon.«

»Ihr hattet Sex.«

Er bekam einen roten Kopf. »Himmel, ja, auch.«

»Und dann?«

»Haben wir einen Film auf meinem Laptop angesehen.«

»Welchen Film?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Alles spielt eine Rolle.«

»Auslöschung. Sci-Fi auf Netflix.«

»Und wann genau ist sie gegangen?«

»Gegen Mitternacht. Ich hab sie nach Hause begleitet.«

Das stimmte mit dem überein, woran Hannah sich erinnerte, dass Mel etwa um Viertel nach zwölf hereinkam. Sie trank das Glas aus und stellte es auf die Theke.

»Kann ich mal dein Handy sehen?«

»Wozu?«

Hannah zuckte mit den Achseln. »Nur, um ein paar Sachen zu checken.«

Xander nahm ihr Glas und ließ es von einer Hand zur anderen rollen.

»Nein«, sagte er. »Das ist eine Verletzung der Privatsphäre.«

»Nur, wenn du was zu verbergen hast.«

Sie wollte ihn provozieren, dazu bringen, dass er etwas sagte, das ihn verriet.

»Leck mich, Hannah«, stieß er hervor und stellte das Glas in die Spülmaschine. »Ich hoffe, du findest Mel, aber du kannst mich trotzdem mal.«

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