Buch lesen: «Frau W. diskutiert mit Jesus»

Schriftart:

Dorothee Bertschmann

Frau W. diskutiert mit Jesus

Geschichten über Gott und die Welt

Illustriert von Heiner Schubert

Theologischer Verlag Zürich

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl

ISBN 978-3-290-17622-8 (Buch)

ISBN 978-3-290-17728-7 (E-Book)

© 2012 Theologischer Verlag Zürich

www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

Vorwort

Von 2003 bis 2007 war ich Pfarrerin im emmentalischen Sumiswald.

Mit anderen Pfarrpersonen hatte ich die Möglichkeit für zwei Regionalzeitungen, den «Unter Emmentaler» und die «Langnauer Wochenzeitung» kurze Beiträge aus christlicher Sicht zu verfassen. Diese Aufgabe nahm ich sehr gerne wahr. Es war eine Herausforderung, kurz und prägnant zu schreiben. Und es war spannend, für ein gemischtes und weitgehend unbekanntes Publikum zu schreiben. Wie viel Glaubenswissen konnte ich voraussetzen? Würden die Beiträge von einem treuen Mitglied einer evangelischen Gemeinschaft gelesen werden oder von einer alternativen Agnostikerin?

Ich ging davon aus, dass es wohl doch vor allem kirchlich interessierte Menschen waren, die diese Kolumne regelmässig lasen. Ihnen wollte ich etwas Ermutigendes, Vertiefendes zukommen lassen. Gleichzeitig behielt ich die Hoffnung, dass eben doch auch ein kirchenfremder Landwirt oder eine esoterisch angehauchte Geschäftsfrau meine Texte lesen würden. Sie wollte ich gern auch abholen und weder überfordern noch anpredigen. Und ob kirchlich beheimatet oder meilenweit vom Christentum entfernt: Ich wollte auf keinen Fall langweilen!

So stellte ich mir die Aufgabe, unterhaltsame Texte mit Tiefgang zu schreiben, die einen geistlichen Impuls gaben und sich loser oder enger auf einen Bibeltext bezogen. Bald war Frau W. als Kunstfigur geboren, eine im besten Sinn durchschnittliche Person, die sich so ihre Gedanken macht über Gott und die Welt. Dann und wann bekam ich positive und dankbare Echos auf die Texte. Dadurch reifte in mir der Gedanke, einige ausgewählte Texte zu veröffentlichen. Bei einem Besuch der Communauté Don Camillo Montmirail kam mir die Idee, den dort lebenden Zeichner Heiner Schubert anzufragen, ob er die Texte illustrieren würde. Zu meiner Freude nahm er die Idee gern auf. Inzwischen hatte ich mich für ein Doktorat in England niedergelassen und schrieb weiterhin Geschichten. Frau W. behielt einen Ehrenplatz, einige Geschichten passten weniger in dieses Schema. Sie bringen meine Wahrnehmungen und Beobachtungen auf andere Weise zum Ausdruck. Gleichzeitig entstanden die Zeichnungen, mal Illustrationen, mal weiterführende Interpretationen der Texte. Ich schätzte die Teamarbeit in dieser letzten Phase, als Heiner Schubert kritisch-wohlwollende Rückmeldungen auf meine Geschichten gab und ich auf seine Bilder.

Dass aus unserer Zeichnungsund Schreibwerkstatt nun dieses Buch hervorgegangen ist, freut uns sehr. Wir hoffen, dass es Freude macht, zum Denken und Glauben anregt, zum Lachen bringt und Vertrauen weckt.

Durham, Februar 2012

Dorothee Bertschmann

Inhalt

Titelei

Vorwort

Inhalt

Aus dem Leben von Frau W.

Frau W. hat ein Vorurteil

Zugfahrt

Frau W. dankt Gott

Danken und klagen

Vom Segen des Fluchens

An Grenzen stossen

Frau W. wagt sich in die Panikzone

Familie W. macht einen Ausflug

«Die bekehre ich! »

Versöhnung

Bwana Yesu afufua!

Ich verstehe dich

Von unserem Haus bis ins Nachbardorf

Frau W. ist im Stress

Warten

Frau W. diskutierte mit Jesus

Ankommen

Tag der offenen Tür

Sei wählerisch!

Frau W.s grosse Verwandlung

Aus dem Leben von Frau W.

Montag, 27. Januar

Frau W. hat ihren Ring verloren. Nein, nicht den Ehering, aber den schmalen silbernen mit dem rubinroten Stein. Den hat sie noch von ihrer Mutter. Ob er viel wert ist? Das weiss sie nicht so genau. Für sie jedenfalls ist er etwas wert! Sie mag ihn – er gehört zu ihr, der schmale Silberne. Das heisst: Er gehörte zu ihr. Denn er ist weg. Aber Geduld, sagt sich Frau W., den haben wir gleich wieder.

Dienstag, 28. Januar

Der Ring ist spurlos verschwunden. Frau W. schaut auf der Kommode im Flur nach. Sie guckt unter das Bett, wirft einen Blick auf den Spülkasten und unter die Garderobe. Kein Ring. Frau W. versucht zu rekonstruieren, wo sie gestern war. Sie fragt in der Metzgerei, in der Kleiderabteilung des Warenhauses und beim Arzt, ob vielleicht ...? Nein, leider hat niemand den Ring gesehen. Aber man wird die Augen offenhalten. Frau W. dankt und spürt eine leichte Welle von Panik in sich aufsteigen. Aber Geduld, es gibt noch so viele Orte, wo ein kleiner Ring sich verstecken kann.

Mittwoch, 29. Januar

Frau W. schüttelt den Teppich aus, räumt den Kleiderschrank aus und ein und rutscht auf den Knien durchs Wohnzimmer. Sie leuchtet mit der Taschenlampe hinter das Schuhschränkchen, leert ihre drei Handtaschen aus und öffnet sogar den Siphon in der Küche. Kein Ring.

Donnerstag, 30. Januar

Eine weitere Suchaktion findet statt, in deren Verlauf Frau W. den Handarbeitskorb durchwühlt, alle Schubladen in der Küche aufreisst und sämtliche Manteltaschen umdreht. Frau W. erzählt zwei Freundinnen am Telefon, dass ihr liebster, unersetzbarer Rubinring verschollen ist. Sie ist den Tränen nah.

Freitag, 31. Januar

Beim Abendessen sagt Frau W.s Mann: «Jetzt lass es aber gut sein. Wenn ich denke, wie viele Schmuckstücke du noch hast in deinen hundert Kästchen.» Frau W. schreit und weint und knallt die Tür zu. Herr W. merkt, dass er etwas Falsches gesagt hat.

Samstag, 1. Februar

Die Polizei weiss nichts von einem Ring, der aussieht wie der von Frau W.

Frau W. merkt, wie nahe daran sie ist aufzugeben.

Sonntag, 2. Februar

Der Ring ist wieder da! Er liegt in der Fruchtschale zwischen einer Banane und zwei Orangen. Keiner weiss, wie er ausgerechnet dorthin gekommen ist. Frau W. stösst einen Freudenschrei aus beim Anblick des kleinen roten Steins. Sie lacht und weint vor Freude. Frau W. ruft vier Freundinnen an und erzählt ihnen, dass ihr Ring gefunden wurde. Herr W. bekommt einen Kuss.

Montag, 3. Februar

Frau W. backt einen Kuchen und kauft eine Flasche Champagner, sechs Lachsbrötchen und eine Schachtel Pralinen. Sie erzählt dem Metzger, dem Arzt, der Abteilungsleiterin im Warenhaus und allen, die ihr über den Weg laufen, dass ihr Ring gefunden worden ist. Sie sagt das Fitnesstraining ab und feiert stattdessen mit fünf Freundinnen eine fröhliche Party. Denn ihr Ring ist wieder da!

So ähnlich erzählt es Jesus im Lukasevangelium im 15. Kapitel. Und fügt hinzu: «Stellt euch vor, wie sehr sich diese Frau freut, wenn sie findet, was sie verloren glaubte. Und genauso freuen sich die Engel und der ganze Himmel, wenn ein einziger Mensch zu Gott umkehrt, der nichts mehr von ihm wissen wollte.» – oder vielleicht sogar noch mehr, ist man geneigt zu denken ...

Oder welche Frau, die zehn Drachmen besitzt und eine davon verloren hat, zündet nicht ein Licht an, kehrt das Haus und sucht eifrig, bis sie sie findet? Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte. So, sage ich euch, wird man sich freuen im Beisein der Engel Gottes über einen Sünder, der umkehrt.

Jesus in Lukas 15,8–10


Frau W. hat ein Vorurteil

Ach ja, denkt Frau W. Die Schwiegereltern und die Nachbarn kann man sich nun mal nicht aussuchen … Der Nachbar von unten links, Eugen Motzle (der Name ist Programm!) hat gestern grämlich auf die Vase mit den blühenden Zweigen vor ihrer Wohnungstür geschaut und gesagt: «Ich gehe davon aus, Frau W., dass Sie die abgefallenen Blüten selber zusammenkehren. Dies kann unmöglich die Aufgabe des Hausmeisters sein.»

Es ist auch fast unmöglich, es Motzle recht zu machen. Ständig findet er ein Haar in der Suppe. Oder besser gesagt: eine Textilfaser in der Waschmaschine, einen Fussabdruck im Treppenhaus. Die Haustür, die eine Sekunde zu lang offen steht («Wir heizen, Frau W.!»)

Frau W. will ja nicht so sein, er hatte offenbar eine schwere Kindheit, aber dieser Mensch ist ein richtiger Griesgram. Vis-à-vis wohnen Karanovics, oder wie auch immer man das ausspricht. Nette Leute so weit, aber unglaublich laut. Sie ist ja gar nicht etwa rassistisch, aber Schweizer würden den Fernsehapparat nie so laut aufdrehen, denkt Frau W. Und die Kinder dürfen einfach alles, tragen zu nichts Sorge. Heute scheint eines Geburtstag zu haben. Kreischend und lachend hopst ein halbes Dutzend Kinder im Treppenhaus herum, sie sind wie Indianer bemalt und haben klebrige Kuchenreste im Gesicht und an den Händen. Frau W. schleppt mit missbilligenden Blicken ihre Taschen mit dem Wocheneinkauf die Treppe hoch. Sie sieht sofort, dass ihre kostbare Vase mit den Zweigen nicht mehr da ist. Frau W. reicht’s! Bestimmt ist eines der Kinder in die Vase gerannt, die Mama hat schnell die Scherben weggeräumt, und dann will es wieder niemand gewesen sein. Ist der Motzle eigentlich auch da? Der sollte diesem wilden Treiben mal einen Riegel vorschieben! Da steht er, der Eugen, hat die Hände in den Hosentaschen und schaut mit breitem Lächeln den Kindern zu: «Ist das nicht schön, wie die Kinder spielen können», sagt er zu Frau W. Frau W. ist einigermassen verblüfft. Herr Motzle hat eine weiche, freundliche Seite? Das wusste sie nicht. Oder wollte sie es einfach nicht sehen?

Es ist Abend. Ruhe ist eingekehrt. Es klingelt an Frau W.s Tür und die Nachbarin Ifeta Karanovic steht etwas verlegen da, die Vase mit den Zweigen in der Hand. «Sie nicht da sein, Frau W., da habe ich Blumen zu mir genommen, damit Kinder nicht kaputtmachen», erklärt sie. Sie streckt Frau W. einen Teller mit Süssigkeiten entgegen und fragt: «Sie wollen?»

Später sitzt Frau W. etwas beschämt in ihrer Wohnung und denkt nach. Herr Motzle ist freundlich, Frau Karanovic sorgfältig. Ganz entgegen ihrem Vorurteil. Vorurteile sind Vor-Verurteilungen, denkt Frau W. Von Anfang an legt man seine Mitmenschen auf ein Bild fest, nimmt gezielt nur das wahr, was dazu passt. Hat nicht Jesus einmal gesagt, man solle seinem Nächsten nicht sieben-, sondern siebenundsiebzigmal vergeben? Vergeben, sinniert Frau W., das heisst doch auch reinen Tisch machen, von vorn anfangen. Dem anderen die Chance geben, anders zu sein als gestern, anders als vor zehn Minuten. Dem anderen Gutes zutrauen, ihm Freiraum geben.

Als Frau W. so weit ist in ihren tiefsinnigen Gedanken plärrt vis-à-vis in voller Lautstärke der Fernseher los. Sie muss lachen. Vorurteile sind darum so hartnäckig, weil sie oft etwas Wahres haben und sie immer wieder neue Nahrung erhalten, denkt sie. Trotzdem will auch sie dranbleiben mit dem Siebenundsiebzigmal und so – mit Gottes Hilfe und einer Prise Humor!

Dann trat Petrus zu Jesus und sagte: Herr, wie oft kann mein Bruder an mir schuldig werden, und ich muss ihm vergeben? Bis zu siebenmal? Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal.

Matthäus 18,21 und 22

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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