Buch lesen: «Grenzgängerin»

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Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch

Die Originalausgabe erschien im Wörterseh-Verlag

© 2017 Wörterseh, Lachen SZ

Lektorat: Andrea Leuthold

Korrektorat: Brigitte Matern

Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina

Fotos Umschlag und Bildteil: Privatarchiv Evelyne Binsack

Bildbearbeitung: Michael C. Thumm

Karten, Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Beate Simson

ISBN 978-3-03763-319-9 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-03763-093-8 (Originalausgabe)

ISBN 978-3-03763-739-5 (E-Book)

www.woerterseh.ch

INHALT

Zum Buch

Die Personen hinter dem Buch

Prolog

Intro

Nach Mount Everest und Südpol

Die Vorbereitung

Etappe 1 Von Geissholz bis ans Nordkap mit dem Fahrrad
Etappe 2 Auf der Nansen-Route quer durch Grönland
Etappe 3 Spitzbergen im Alleingang, ein Versuch
Etappe 4 Auf zum Nordpol

Über den Nordpol hinaus

Bildteil

Epilog

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Evelyne Binsack ist die erste Schweizerin, die 2001 auf dem höchsten Punkt unseres Planeten, dem Mount Everest, stand. Schon damals war ihr klar, dass sie eines Tages auch den südlichsten Punkt der Welt erreichen wollte. Fünf Jahre später machte sie sich daher auf, die 25 000 Kilometer, die zwischen ihrer Haustür und dem Südpol liegen, zu Fuß, mit dem Fahrrad und auf Skiern zu überwinden. Dabei durchquerte sie in 484 Tagen sechzehn Länder. Fast zehn Jahre später folgte der dritte Streich, den nördlichsten Punkt unserer Erde nur mit Muskelkraft zu erreichen. Nach elf Monaten Planungsphase und 105 Tagen Expedition erreichte die charismatische Abenteurerin am 12. April 2017 den Nordpol. Und das gut einen Monat vor ihrem fünfzigsten Geburtstag.

»Führung bedeutet, Sicherheit auszustrahlen, und sie bedeutet auch, in Phasen der Entscheidung Einsamkeit aushalten zu können.«

Evelyne Binsack

Die Personen
hinter dem Buch

Evelyne Binsack, geb. 1967, verstand schon früh, dass es für das Überleben in der Steilwand essenziell ist, die Gesetze der Natur zu respektieren und die physischen sowie die mentalen Fähigkeiten unermüdlich zu trainieren. 1991 absolvierte sie als eine der ersten Frauen Europas die Ausbildung zur diplomierten Bergführerin und bestieg zehn Jahre später als erste Schweizerin den Mount Everest. Im September 2006 startete sie vor ihrer Haustür Richtung Süden, war unterwegs mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit Skiern und dem Schlitten und kam nach 484 Tagen am Südpol an. Aber erst 2017 erfüllte sich ihr lang gehegter Traum, aus eigener Muskelkraft auch noch zum Nordpol zu gelangen. Über das Erreichen dieser drei Pole sind folgende Bücher erschienen: »Schritte an der Grenze«, »Expedition Antarctica« und »Grenzgängerin«. Evelyne Binsack, die im Berner Oberland lebt, arbeitet als Bergführerin und ist eine gefragte Referentin. In ihren Vorträgen geht es um Themen wie Risikomanagement, Selbstführung und Zielverwirklichung ebenso wie um ihr Leben und ihre Passion. Einen neuen Weg beschreitet sie, indem sie andere Menschen nicht mehr nur als Bergführerin auf Berge, sondern auch als Beraterin und Mentorin begleitet. Mehr dazu unter: binsack.ch

© Eddy Risch

Doris Büchel, geb. 1971 in Buchs SG, ist Autorin und Herausgeberin der »Edition Onepage« – eines Magazins, das auch ein Plakat ist. Sie schrieb vor allem Porträts und Reportagen für Magazine und fokussiert sich heute auf das Verfassen von Biografien. Bei Wörterseh erschien nach »Grenzgängerin«, auch der Bestseller »Game Time – Zwei Welten. Ein Weg.« (2021), eine Nahaufnahme des Schweizer Eishockey-Nationalcoaches Patrick Fischer. Doris Büchel lebt mit ihrem Mann, dem ehemaligen Skirennfahrer Marco Büchel, durch den sie die Höhen und Tiefen des Spitzensports hautnah miterlebte, in Triesenberg, Liechtenstein. sleepless-sheep.com

PROLOG
Metamorphose

Daheim bin ich Evelyne Binsack, die Bergführerin. Hier habe ich mein Haus, meine Freunde, meine Arbeit, halte Referate, gehe auf Skitouren, klettere. Manchmal bereite ich mich auf eine Expedition vor, und es kommt der Tag, an dem ich meinen Alltag und die Verpflichtungen hinter mir lasse und aufbreche. Ich bin dann zwar physisch unterwegs, in meinen Gedanken aber immer noch in meinem Haus, mit meinen Freunden, bei meiner Arbeit – alles haftet noch an mir.

Unterwegs kenne ich nur den Ausgangspunkt und das Ziel. Dazwischen lasse ich mich von meinem Gefühl leiten. Wenn ich möchte, halte ich an, betrachte, verweile, ab und zu klettere ich auf einen Berg. Oft bekomme ich unterwegs Nachrichten von Menschen, die mich fragen: »Was ist dein Plan für heute, Evelyne?« oder »Wie viele Kilometer legst du heute zurück?«. Dann habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich weiß es nicht. Ich weiß nichts. Ich nehme es, wie es kommt. Das bedeutet aber nicht, dass ich in den Tag hinein lebe. Es ist nur so, dass ich gern spontan entscheide. Dadurch bekomme ich ein Gefühl für das Unterwegssein.

Je weiter ich mich von daheim entferne, desto mehr bin ich den Umständen ausgesetzt, die mich auf meinen Reisen umgeben: Hitze, Kälte, Sturm, Hunger, Gefahren. Um all das zu erdulden, streife ich mein altes Leben langsam ab, Schicht um Schicht, so lange, bis nur noch meine Persönlichkeit übrig bleibt, pur. Dieser Übergang ist mit viel Schmerz verbunden. Schließlich verlasse ich jemanden, der mir lieb ist. Ich werde sehr empfindsam und empfänglich. Aber nicht nur in Zusammenhang mit Negativem, sondern vor allem in Bezug auf die Pracht dieser Welt. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich die meiste Zeit im Zelt auf dem Boden schlafe? Das ergibt eine starke Verbindung zwischen mir und Mutter Erde.

Dann bin ich diese neue Person, mehr Tier als Mensch, nehme mich nicht mehr als Individuum wahr, sondern als Teil des Ganzen. Mein Verstand ist wach, meine Sinne sind geschärft, in einer Notsituation gibt es nur noch drei Möglichkeiten: Angriff, Flucht oder mich tot stellen. Das ist der pure Instinkt. Auch die Tiere reagieren anders auf mich. Sie verstecken sich nicht mehr vor mir, sind vielmehr neugierig. So wie damals: Ich war mit dem Fahrrad unterwegs zum Nordkap – der ersten meiner vier Etappen auf dem Weg zum Nordpol –, als plötzlich eine Elchkuh und ein Elch aus dem Nichts auftauchten. Es war sehr früh am Morgen, es regnete leicht, und ich war spät dran, denn ich wollte unbedingt die nächste Fähre erwischen, weshalb ich heftig in die Pedale trat. Vermutlich hatte ich die Tiere aufgeschreckt, doch sie flüchteten nicht vor mir, sondern galoppierten eine ganze Weile neben mir her. Ihr geschmeidiger Gang, ihre reine Gegenwart ließen mich meine Eile vergessen. Es existierte nur noch das Hier und Jetzt. Die absolute Präsenz. Glück. Daran denke ich manchmal, wenn mich Menschen nach dem schönsten, dem härtesten, dem besten Moment meiner Expeditionen fragen. Nein, es war nicht nur die Ankunft auf dem Gipfel des Mount Everest und auch nicht, als ich den Südpol oder den Nordpol erreichte. Es waren die kleinen, feinen, vermeintlich gewöhnlichen Momente, die einerseits kaum der Rede wert, andererseits aber so unglaublich wertvoll sind.

Irgendwann komme ich wieder heim und durchlaufe dieselbe Phase, in umgekehrter Reihenfolge. Ich bin dann Evelyne Binsack, die Abenteurerin. Hart im Nehmen, gleichzeitig verletzlich. Ich erinnere mich an einen Abend – ich war noch nicht lange zurück von meiner 484-tägigen Expedition zum Südpol –, an dem ich nach einem meiner Referate aus dem Saal kam und den Vollmond erblickte. Er strahlte mich an, und wie ich so dastand und mich in seinem bleichen Rund verlor, fühlte ich mich, als würde man mir mein Herz aus der Brust reißen. Einfach, weil mich der Mond in jenem Moment so sehr an die prägende Zeit erinnerte, als ich allein in der endlosen Weite unterwegs war. Weil ich realisierte, wie sehr ich mich nach dieser Verbundenheit mit dem Himmel, der Erde und den Tieren zurücksehnte. Und weil ich die Stille vermisste. Die Stille in meinem Kopf. Denn hier finde ich sie nicht. Diese Welt ist laut. Und rau. Rauer als jeder Sturm in der unendlichen Weite der Arktis oder der Antarktis. Der Sturm dort ist auch rau und unerbittlich. Er zeigt mir meine Verletzlichkeit auf. Aber auf meinen Expeditionen lebe ich mit dieser Verletzlichkeit. Sie ist ein Teil von mir. Ich nehme sie an, wie sie ist. Sie ist keine Schwäche. Und wenn sich der Himmel mitten im Sturm wieder auftut und das Wetter Erbarmen mit mir zeigt, dann erzeugt das in mir eine unendliche Dankbarkeit und Demut.

Ist das Unterwegssein nicht ein Ur-Antrieb, der in jedem von uns schlummert? Sind wir nicht alle Nomaden? Und Pilger? Kommt nicht daher diese diffuse Sehnsucht, die so viele von uns umtreibt? Weil wir vom Ur-Instinkt her Reisende sind? Wir wissen um unsere Verletzbarkeit, wenn wir unterwegs sind. Das sind die Momente, in denen wir uns nahe sind, offen und empfindsam. Nur: Wenn wir aufbrechen, um dieses Gefühl zu finden, dann kommen wir nicht in diese Empfindung hinein. Wir können nur in etwas Neues aufbrechen, wenn wir das Alte hinter uns lassen. Zu Pilgern werden und zu Nomaden. Zu dem, was wir seit Jahrtausenden sind.

INTRO

Der Schuss fällt am 11. April 2017 um 10.55 Uhr. Er hallt noch immer in mir nach. Der Eisbär zuckt zusammen, wendet sich ab, flieht in die entgegengesetzte Richtung, bleibt abrupt stehen, schüttelt seinen mächtigen Kopf und verschwindet in langen Schritten, taumelnd, hinter den Eisblöcken und damit aus unserem Blickfeld. Ich schalte die Kamera aus. Entsetzen in meinen Augen, Adrenalin in meinem Blut. Ich kann nicht glauben, dass Dixie gegen alle Regeln verstoßen und Pavel, nach nur einem einzigen Warnschuss, befohlen hat, auf den Eisbären zu schießen. Ich gehe zu den Fußspuren des Bären, sehe vereinzelte Blutstropfen im Schnee. Marin fragt Dixie, ob der Bär überleben wird, und Dixie, als könnte er dies wissen, sagt Ja. Mir ist schlecht.

NACH MOUNT EVEREST UND SÜDPOL

Seit ich 2001 den Gipfel des Mount Everest bestiegen und 2007 den südlichsten Punkt der Erde erreicht hatte, träumte ich davon, auch den dritten Pol, den Nordpol, zu begehen. Lange glaubte ich allerdings nicht mehr daran, noch einmal die mentale Kraft und die geistige Stärke aufbringen zu können, um erneut die Bereitschaft für ein Abenteuer von diesem Format zu generieren.

Bevor ich mich damals, am 10. November 2007, zu meiner letzten Etappe von Patriot Hills über Hercules Inlet bis zum Südpol aufmachte, hatte ich mich innerhalb von kurzer Zeit bewusst von 61 auf 72 Kilogramm hochgefuttert. Ich war bereits 430 Tage lang unterwegs und hatte ursprünglich geplant, für den Endspurt zum Südpol noch schwerer zu werden. Ich wusste, ich würde die zusätzlichen Pfunde benötigen, würde ich doch auf dem beschwerlichen Weg von 1200 Kilometern durch die Antarktis viel Gewicht verlieren. Mein Körper reagierte prompt auf die drastische Gewichtszunahme. Der Stoffwechsel rebellierte, meine Ausdünstung veränderte sich, ich begann zu stinken. Nein, ich mochte dieses neue Körpergefühl überhaupt nicht, wusste aber, dass mir die zusätzlichen Kilos auf meinen Hüften unter Umständen das Leben retten würden. Tatsächlich verlor ich während jener Etappe innerhalb von fünfzig Tagen rund vierzehn Kilos, sodass ich bei meiner Ankunft am Südpol, bei einer Körpergröße von 1 Meter 78, nur noch 58 Kilogramm wog. Für meinen Körper war dies ein erneuter Schock, den es zu verdauen galt. Es dauerte ungefähr ein halbes Jahr, bis er sich erholt und wieder bei seinem Wohlfühlgewicht eingependelt hatte.

Doch nicht nur der Körper rebellierte. Nach meiner Rückkehr in die Schweiz stellte ich an mir weitere Veränderungen fest. Ich war auf dem Weg zum Südpol täglich zehn, manchmal zwölf Stunden unterwegs gewesen, dies unter enormen körperlichen Anstrengungen und bei unerbittlicher Kälte. Oft war ich erschöpft und hungrig, ich fror, und irgendetwas schmerzte immer. Mal war es die Achillessehne, ein anderes Mal waren es die Druckstellen an Schultern oder Hüften vom Ziehen des hundert Kilogramm schweren Schlittens. Auch die Psyche liebte es, mir unterwegs Streiche zu spielen. Sie zauberte verführerische Bilder in meinen Kopf von Erdbeertörtchen oder mit Puderzucker bestäubten Waffeln und redete mir ein, ich sei die bemitleidenswerteste Frau der Welt, weil ich dem Wind, der Kälte und der endlosen Weite der Antarktis ausgesetzt war. Hörte ich auf sie, wurde jeder Schritt noch mühsamer, der Schlitten noch schwerer und die eisige Kälte kroch noch tiefer in mich hinein.

Aus Erfahrung wusste ich: Negative Gedanken ziehen mir Energie ab, positive Gedanken wirken sich positiv auf meine mentale Verfassung und somit auch auf meine Schmerzen aus. Denn wie sehr ich mich auch selbst bemitleidete, es änderte nichts an der Tatsache, dass ich war, wo ich war: in der eisig kalten Antarktis. An dem Ort, den ich mir selber ausgesucht hatte. Der mich magisch anzog. Mich in seiner Schönheit und Anmut faszinierte. Beseelte. Paradox, ich weiß.

Ich gewöhnte mir das Beten an. Das Rezitieren einzelner Sätze half mir, in einen Geh-Rhythmus zu kommen und meine Gedanken in eine positive Richtung zu lenken. Den Rhythmus des Gebetes verband ich mit dem Rhythmus meiner Schritte. Je schneller ich ging, desto schneller rezitierte ich in Gedanken die Sätze, je langsamer ich ging, desto langsamer wiederholte ich sie.

Atme in mir, Heiliger Geist,

dass ich Heiliges denke.

Dränge mich, Heiliger Geist,

dass ich Heiliges tue.

Locke mich, Heiliger Geist,

dass ich Heiliges liebe.

Stärke mich, Heiliger Geist,

dass ich Heiliges hüte.

Behüte mich, Heiliger Geist,

dass ich das Heilige nie mehr verliere.

Gebete wie dieses habe ich als Kind von meiner Mutter gelernt. Sie haben mich geprägt. Und obwohl ich nicht im katholisch anerzogenen Sinn religiös bin, taten sie mir gut. Sie halfen mir auf meinem Weg ans Ziel. Denn manchmal, wenn ich lange unterwegs und in negativen Gedanken gefangen war, war alles Ewigkeit. Das Beten half. Je öfter ich die Sätze wiederholte, desto mehr gab ich Raum, Zeit und Schmerz aus meinen Händen. Ich wiederholte die Sätze so lange, bis ich daran glaubte: Alles wird gut.

Vielleicht war ich nach meiner Expedition zum Südpol in einem Stadium, in das auch Mönche mit der Zeit gelangen. Denn wieder daheim, fühlte ich mich wie gehäutet, durchgeputzt, sowohl im Geist wie auch im Körper. Die Folge war, dass ich nach dieser langen Zeit in der Einsamkeit und Stille der Antarktis schlicht überfordert war von den vielen äußeren Einflüssen, die hier auf mich einprasselten. So richtig realisierte ich diese Empfindsamkeit, als ich mit meiner Schwester Jacqueline in einem Restaurant zum Nachtessen war. Es war vielleicht drei Wochen nach meiner Rückkehr vom Südpol, wir hatten uns viel zu erzählen, doch anstatt mich auf das Gespräch zu konzentrieren, nahm ich alles andere wahr: das Rattern der Kasse, das Scheppern der Hintergrundmusik aus dem Radio, das Rauschen des Kühlschranks in der Ecke, das Gelächter der anderen Gäste. Bald wurde mir alles zu viel. Ich schloss mitten in der Unterhaltung die Augen. Wie aus der Ferne hörte ich die Stimme meiner Schwester. Sie fragte: »Evelyne, wo bist du?«, und ich antwortete ihr, dass ich einen Moment für mich brauche. Ich versuchte, mich nur auf meinen Atem zu konzentrieren, dann beruhigte ich mich wieder.

Erfahrungen dieser Art häuften sich, und es wurde mir fast unmöglich, in ein Restaurant oder überhaupt unter Menschen zu gehen. Die Blicke, Bewegungen und Emotionen der anderen schienen mich ungefiltert zu treffen. Es war, als würde ich die Absichten der Menschen erkennen, bevor sie etwas sagten oder taten. Diese Welt überforderte mich. Sie war laut. Sie war rau. Sie war hektisch. Und immer mehr beschäftigte mich die Frage: Bin ich in diesem Zustand überhaupt noch gesellschaftsfähig? Die ehrliche Antwort lautete wohl: Nein, das bin ich nicht. Trotzdem hatte ich zu funktionieren. Mein Bankkonto war leer, ich musste ein neues Referat vorbereiten, eine Vortragstour organisieren, bei Medienveranstaltungen auftreten, mein Backoffice in Ordnung bringen, zurück in den Alltag finden. Um meine diffusen Empfindungen wollte ich mich später kümmern. Doch je mehr Zeit verging, desto mehr legten sich die äußeren Einflüsse darüber wie ein schwerer Teppich. Ich passte mich langsam wieder an, machte weiter. Es wurde besser. Ich funktionierte.

Gasherbrum II
Juni 2010

Der dritte Sommer nach meiner Expedition zum Südpol hielt eben erst Einzug, als ich beschloss, wieder einmal einen Achttausender zu erklimmen. Ich entschied mich für den Gasherbrum II in Pakistan, der mit seinen 8034 Metern zwar der dreizehnthöchste Berg der Welt, aber doch einer der kleineren Achttausender ist. Mit ihm wollte ich meine Höhen-Bergsteiger-Ära gebührend abschließen. Ich hatte damals den Eindruck, in meinem Leben genug Zeit in Basislagern vertan und auf gutes Wetter gehofft zu haben.

Ich flog also von der Schweiz nach Islamabad und von dort aus weiter mit einem kleineren Flugzeug nach Skardu, dem Hauptort der Region Baltistan, gelegen auf einem rund 2500 Meter hohen Plateau. Weiter ging es über den berühmt-berüchtigten Karakorum-Highway nach Askole. Ich mietete einen Jeep samt Fahrer, der mich innerhalb von zwei Tagen sicher über die ewig lange Fernstraße ruckelte, die Pakistan mit China verbindet und an den exponiertesten Stellen mit ihren senkrechten Abgründen eher der Vorhölle als einer Straße gleicht. Von Askole aus, einem kleinen Dorf im Braldu-Tal, machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum Basislager. Die Gegend war nicht etwa bunt und lieblich wie in Nepal, sondern vielmehr rau, grau, staubig, karg. Eigenwillig und ungezähmt wand sich der Fluss Shigar talabwärts. Entlang des Weges ragten schroffe Klippen imposant und mächtig in den Himmel, fast so, als würden sie für mich Spalier stehen. Vier Tage lang dauerte der eindrückliche Fußmarsch durch dieses Gebirgstal, das den Ruf genießt, das spektakulärste der Welt zu sein. Dann kam der Einstieg auf den Baltoro-Gletscher und weitere zehn Tage später, endlich, die Ankunft im Basislager.

Obwohl ich aus logistischen und finanziellen Gründen mit einer internationalen Expedition zusammenarbeitete, war ich allein mit meinem pakistanischen Begleiter »Little Hussain« unterwegs, einem kleinen, knorrigen, aber sehr starken und zuverlässigen Hochträger aus dem Volk der Baltis. Mit ihm zusammen wollte ich den Gipfel erreichen. Noch hatte jeder von uns sein eigenes Zelt; ein Luxus, den ich uns in den ersten Tagen der Akklimatisationsphase gönnte. Grundsätzlich geht es für einen Muslim nicht, mit einer Frau, mit der er nicht verheiratet ist, im selben Zelt zu schlafen. Aber erstens gelten am Berg andere Regeln, und zweitens sind die Baltis in dieser Hinsicht ein unkompliziertes Volk. Sicher war auch Little Hussain froh über die Privatsphäre, schließlich würden wir noch genug Zeit zusammen verbringen. Der Plan war, nach ein paar Tagen im Basislager zur ersten Akklimatisierung ins Lager 1 aufzusteigen.

Ich hatte mich enorm auf diesen Berg gefreut, bemerkte aber schon im Basislager, dass meine innere Motivation fehlte. Ich kenne mich und weiß, dass ich zu Beginn einer Bergbesteigung am liebsten explodieren möchte vor Freude. Doch dieses Mal fehlte diese gewaltige Kraft, die mich normalerweise auf den Gipfel zieht. Stattdessen fühlte ich eine innere Unruhe, die zunehmend stärker wurde. Sie begleitete mich auch nachts im Zelt und hinderte mich am Einschlafen. Aus der inneren Unruhe wurde ein Herzrasen, meine Hände schwitzten, mir wurde heiß, dann wieder kalt. Die Situation war neu für mich und traf mich völlig unerwartet. In meiner Verzweiflung fing ich an, mir Erklärungen für diese eigenartigen Symptome auszudenken. Reagierte ich deshalb so intensiv, weil ich den Berg und die zum Gipfel führende Route noch nicht kannte? Weil ich nicht wusste, was auf mich zukommen würde? Wie viele Gletscherspalten es gäbe und wo diese waren? Ob wir von den mächtigen Staub- und Schneebrettlawinen verschont bleiben würden?

Trotz einer weiteren schlaflosen Nacht stand ich wie geplant morgens um vier Uhr auf und zwang mich dazu, eine Kleinigkeit zu essen. Meinen Rucksack hatte ich schon am Vorabend gepackt. Bei Finsternis machten wir uns auf zum Lager 1. Bald erreichten wir in einem Talkessel das Hochplateau, auf dem sich die mächtigen Sieben- und Achttausender im Halbkreis aneinanderreihten wie in einem Amphitheater. Es schien, als wollten sie uns sagen: »Seht her, wie schön, stolz und mächtig wir sind!« Das war auch der Moment, als ich zum ersten Mal den Gasherbrum II sah, diesen wunderschönen Berg, ein ästhetisches Meisterwerk der Schöpfung. Einladend sah er aus, wohlgesinnt, eine ebenmäßige Pyramide, von der ich meine Augen nicht mehr abwenden wollte. Je höher wir stiegen, desto mehr entspannte ich mich. Jetzt sah ich es mit eigenen Augen: Die Verhältnisse am Berg waren größtenteils gut. Einzig in der Passage zwischen Lager 1 und Lager 3 herrschte noch Lawinengefahr. Den Rest konnte ich von den Risiken her als relativ harmlos einstufen. Nach insgesamt fünf Stunden Aufstieg erreichten wir Lager 1. Gemeinsam stellten wir unsere Zelte auf, sicherten sie gegen Sturm und machten uns nach einer kurzen Rast auf den Weg zurück ins Basislager. Die erste von drei Akklimatisationstouren war geschafft. Ich war beruhigt.

Die Akklimatisationsphase ist sehr wichtig, um den Körper langsam an einen Achttausender anzupassen. Steigt man nämlich ohne oder mit ungenügender Akklimatisation zu schnell in hohe Höhen auf, erkrankt der Körper an einem Lungen- oder Hirnödem. Diese Krankheit endet meist tödlich, wenn der Bergsteiger es nicht rechtzeitig schafft, in tiefere Lagen abzusteigen. Die Akklimatisationsphase beinhaltet in der Regel drei Zyklen, in denen man am Berg gleichzeitig das vorgeschobene Basislager und die Hochlager aufbaut.

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