Buch lesen: «Borgo Sud»

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Alle im Hafenviertel Borgo Sud scheinen zu wissen, was wirklich hinter Adrianas Unfall steckt. Nur ihrer Schwester sagen sie es nicht. Pietrantonio erzählt die Familiengeschichte von Arminuta weiter, spannend und mit großer literarischer Kraft. Von Geschwisterliebe und einem Italien, wie man es selten zu sehen bekommt.

Das Leben der beiden Schwestern könnte unterschiedlicher nicht sein: Adriana lebt prekär in Borgo Sud, dem heruntergekommenen Hafenviertel von Pescara, ihre Schwester lehrt an der Universität in Grenoble. Eines Tages erhält sie einen Anruf, dass Adriana, die Jüngere, die Wilde, nach einem Sturz vom Balkon lebensgefährlich verletzt auf der Intensivstation liegt. Der Anruf löst eine Flut von Erinnerungen aus: an die Nacht, in der Adriana mit einem Baby auf dem Arm vor ihrer Tür stand, an deren Liebe zum jungen Fischer Rafael, für den sie die Schule geschwänzt hat, mit dem sie nachts zum Fischen rausfährt, den sie verteidigt, egal in welche Schwierigkeiten er verwickelt ist. An die eigene Verlobung mit Piero und das Festessen, bei dem sie verkündet wurde. An ihre gescheiterte Ehe, weil Piero Männer liebt. In Borgo Sud scheinen alle zu wissen, dass Adriana keinen Unfall hatte, aber was wirklich geschehen ist, darüber schweigen sie. Mit der Weisheit und Selbstverständlichkeit großer Autoren beschenkt uns Donatella Di Pietrantonio mit einem Familienroman von großer Wärme, der noch lange nachklingt.

Über die Autorin

Donatella Di Pietrantonio wurde in den Abruzzen geboren und lebt heute in der Nähe von Pescara. Ihre Romane Meine Mutter ist ein Fluss (2013) und Bella mia (2015) wurden mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Mit Arminuta (2018) ist ihr der internationale Durchbruch gelungen.

Donatella Di Pietrantonio

Borgo Sud

Roman

Aus dem Italienischen

von Maja Pflug

Verlag Antje Kunstmann

Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo alla traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

Dieses Buch wurde dankenswerterweise unterstützt mit einer Übersetzungsförderung des italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Kooperation.

© der deutschen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2021

© der Originalausgabe: Einaudi, Turin 2020

Titel der Originalausgabe: Borgo Sud Umschlaggestaltung: Heidi Sorg und Christof Leistl unter Verwendung eines Fotos von David Royston Bailey Typografie + Satz: frese-werkstatt.de Druck und Bindung: Pustet, Regensburg eBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH ISBN 978-395614-471-4

für Paolo für seine Kraft, von der er nichts wusste

Als ich heiratete, war ich fünfundzwanzig Jahre alt. Lange hatte ich mir gewünscht zu heiraten und oft mit einem Gefühl von Bitternis und Schwermut gedacht, dass ich kaum Aussichten darauf hatte.

NATALIA GINZBURG, Mein Mann

1

Ohne warnenden Donner prasselte der Regen auf das Fest nieder, keiner der Gäste hatte gesehen, wie sich über den walddunklen Hügeln die Wolken zusammenballten. Als das Wasser über uns herfiel, saßen wir an dem langen Tisch auf dem Rasen. Wir aßen Spaghetti alla chitarra, die Flaschen waren schon halb geleert. In der Mitte des bestickten Tischtuchs duftete der Lorbeerkranz, den Piero nach den Fotos abgenommen hatte. Bei den ersten Tropfen sah er zum Himmel und dann zu mir, ich saß neben ihm. Er hatte Jacke und Krawatte abgelegt, den Hemdkragen geöffnet und die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt: Seine glänzende Haut strotzte vor Gesundheit. Er hatte wenig geschlafen und ich ebenso, erst gegen Morgen waren wir eingenickt. Beim Aufwachen hatte ich einen Augenblick lang nicht mehr gewusst, wer ich war, wen ich liebte und dass ein glücklicher Tag begann.

Piero sah mich an, erstaunt über das Unwetter. Ein Hagelkorn fiel mitten in sein Weinglas. Manche Gäste bewegten weiter die Kiefer, unsicher, was sie tun sollten. Meine Schwester war schon aufgesprungen, sammelte die ovalen Platten mit den restlichen Nudeln und die Brotkörbe ein und brachte sie in der Küche im Erdgeschoss in Sicherheit. Wir retteten uns unter das Vordach, während Adriana weiter zwischen drinnen und draußen hin- und herlief, vom Wind gebeutelt. Sie machte dem Gewitter das Essen streitig, Verschwendung war sie nicht gewöhnt. Ich hatte mich vorgebeugt, um ihr die letzten Platten abzunehmen, als über mir ein Stück Regenrinne nachgab. Von meinem verletzten Wangenknochen tropfte das Blut auf meine Brust und mischte sich mit dem Regenwasser. Ich hatte für den Anlass ein weißes Kleid gewählt. Es stehe mir gut, hatte Adriana am Morgen gesagt, es sei eine Art Probe für das Hochzeitskleid. Wir waren früher gekommen, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Durchs Fenster hatte ich den tiefen, stillen Flug der Schwalben gesehen, sie spürten den Regen. Pieros Mutter dagegen traf es unvorbereitet, sie hatte darauf bestanden, das Examen ihres Sohnes in ihrem Landhaus zu feiern.

Ich habe noch ein Foto von uns beiden, auf dem wir uns verliebt anschauen, Piero mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf und andächtigem Blick. Am Rand erscheint Adriana, im letzten Moment ist sie in die Bildfläche getreten: Ihre Gestalt ist verwackelt, die Haare ein dunkelbrauner Schweif. Sie war nie zurückhaltend, hat sich immer in alles eingemischt, was mich anging, als betreffe es auch sie, Piero inbegriffen. Er war für sie kaum anders als ein Bruder, aber ein liebenswürdiger. Meine Schwester lachte unbeschwert ins Objektiv, ohne zu ahnen, was wir erleben würden. Ich habe das Foto auf dieser Reise dabei: drei Jugendliche im Innenfach der Handtasche.

Jahre später fanden Adriana und ich das Kleid bei den Sachen wieder, die ich nicht mehr anzog, auf dem Stoff war von dem Blut ein leichter Rand zurückgeblieben.

»Das war ein Zeichen«, sagte sie und schwenkte es vor meiner Nase.

2

In diesem Hotelzimmer kann ich nicht schlafen. Ich gebe der Müdigkeit nach, schrecke aber gleich wieder hoch, reiße in der Dunkelheit die Augen weit auf. Seit Pieros Examensfeier ist viel Zeit vergangen, und die Erinnerung daran ist trügerisch, oder ein bruchstückhafter Traum. Vielleicht werde ich nach dem Anruf, den ich gestern erhalten habe, gar keine Wahrheit mehr herausfinden können. Unter der Tür schimmert das schwache Licht des Flurs durch, man hört gedämpfte Schritte. Weitere Erinnerungen ziehen vorbei, durcheinander, voller Menschen. Das Gedächtnis wählt seine Karten aus dem Stoß, vertauscht sie, mogelt ab und zu.

Ich bin den ganzen Tag mit verschiedenen Zügen gereist, habe die Lautsprecheransagen gehört, erst auf Französisch, dann auf Italienisch. In Windeseile flogen die Namen der kleineren Stationen vorbei, an denen wir nicht hielten, manche konnte ich so schnell gar nicht lesen. Am Nachmittag füllte sich das Fenster plötzlich mit Meer, die Adria mit ihren Kräuselungen, der Eisenbahn an bestimmten Stellen so nah. Als wir durch die Marken fuhren, erlag ich wieder der optischen Täuschung der Häuser, die sich zum Strand hin neigten, als würden sie vom Wasser angezogen. Adriana weiß nicht, dass ich da bin. Morgen werde ich zu ihr gehen, aber nicht nach Borgo Sud.

Hier im Hotel haben sie mich gefragt, ob ich zu Abend essen wolle, ich habe erwidert, ich sei zu müde, um herunterzukommen. Während ich im Fernsehen die Nachrichten anschaute, haben die starken, liebenswürdigen Abruzzen geklopft und mir in Gestalt eines blonden Mädchens Kekse und heiße Milch gebracht. Ich habe keinen Zucker hineingetan, sie war süß genug. Der vergessene Geschmack der ersten Nahrung, ich habe in kleinen Schlucken getrunken, so viel Trost hatte ich nicht erwartet. Christophe sagt, den Erwachsenen schade Milch, nur der Mensch sei so dumm, nach dem Abstillen weiterhin Milch zu trinken. Später jedoch sah ich ihn ins Treppenhaus hinaustreten und dabei Chips aus einer Tüte fischen. Er ist mein französischer Nachbar, arbeitet beim Synchrotron von Grenoble. Wir teilen uns eine Katze und die Pflege einiger Topfpflanzen, die zwischen unseren Türen stehen. Vor der Abreise habe ich ihm einen Zettel geschrieben, jetzt muss er sich darum kümmern.

Piero dagegen mochte es, wenn er manchmal spätabends heimkam: »Ich will nur Milch und Kekse.«

Wir hatten immer viele verschiedene Kekse fürs Frühstück da. Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, tunkte sie einzeln in die Tasse und erzählte mir seinen Tag.

Das Haus, in dem wir als Ehepaar lebten, ist nicht weit von hier. Im Geist gehe ich die Querstraßen durch, die diese Straße von der Via Zara trennen. Die Wohnung von damals hat sich mir so tief eingeprägt, dass ich noch heute jede Einzelheit aufzählen könnte: die gesprungene Bodenfliese im Badezimmer, die einen dumpfen Ton von sich gab, wenn man darauf trat, die Lichtspiele an den Wänden im Lauf des Tages. Als Erstes weckte uns immer ein Knacken am Fenster, wenn die Sonne es erwärmte, eine plötzliche Ausdehnung des Glases. Piero begann sich hin- und herzuwälzen und protestierte dagegen, dass wir aufstehen mussten. Wir atmeten eine stets leicht blaue Luft, die von der Terrasse über dem Meer hereinkam. Das Meer verdampfte in unserer Wohnung.

Jetzt riecht man das Salzwasser nicht, und von draußen dringt kaum das Geräusch der Wellen herein.

Auch in jener Nacht konnte ich nicht schlafen in meinem zu breiten Bett. Es war unser dritter Sommer dort, die Möbel rochen nicht mehr neu, und der Herd in der Küche hatte seinen Glanz verloren. Piero wachte bei seinem Vater, der im Krankenhaus lag. Im dunkelsten Augenblick vor dem Morgengrauen klingelte es Sturm. Sie schrie ihren Namen, war wie der Blitz oben auf unserem Stockwerk, ich hörte die nervösen Schritte vor der Tür, den keuchenden Atem. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Riegel aufbekam, den ich am Abend vorgeschoben hatte, auf der anderen Seite schimpfte sie auf mich. Ich hatte sie seit über einem Jahr nicht gesehen, meine Schwester.

Als kleine Mädchen waren wir unzertrennlich, dann lernten wir, uns aus den Augen zu verlieren. Sie brachte es fertig, über Monate nichts von sich hören zu lassen, aber noch nie so lang wie diesmal. Sie schien einem Nomadentrieb zu gehorchen, wenn ein Ort ihr nicht mehr zusagte, verließ sie ihn. Unsere Mutter sagte es ihr ab und zu: Du bist eine Zigeunerin. Auch ich wurde dann so, auf andere Art.

Sie kam hastig herein, schloss mit einem Tritt nach rückwärts die Tür hinter sich. Dabei fiel einer der Pantoffeln herunter, die sie trug, und blieb verkehrt herum auf dem Boden liegen. Das Baby schlief auf ihrem Arm, die nackten Beinchen reglos an Adrianas magerem Körper, der Kopf unter ihrem Kinn. Es war ihr Kind, und ich wusste nicht, dass sie es zur Welt gebracht hatte.

Den Umsturz, der gerade begann, konnte ich mir nicht vorstellen; hätte ich ihn geahnt, hätte ich die beiden vielleicht draußen stehen lassen. Adriana hielt sich für einen Engel mit einem Schwert, doch sie war ein schusseliger Engel und verletzte auch unabsichtlich. Wäre sie nicht gekommen, wäre vielleicht alles Übrige nicht geschehen, wer weiß.

Unsere letzte Begegnung hatte im Streit geendet, nach ein paar Wochen hatte ich nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden. Ich wartete auf ein Zeichen von ihr. Keiner von unseren gemeinsamen Bekannten hatte sie mehr in der Stadt gesehen, doch ab und zu schickte sie Ansichtskarten an unsere Eltern oben im Dorf. Sie zeigten sie mir, wenn ich zu Besuch kam: der Hafen von Pescara, Pescara by night. Viele Grüße von eurer Tochter, dann die flatterige Unterschrift. Sie wusste, dass ich diese Karten lesen würde, sie waren für mich: der Beweis, dass sie lebendig und in der Nähe war.

Ihr Zeichen kam um drei Uhr früh, an einem Junimorgen. Ich weiß nicht, wie lange ich reglos geschwiegen und sie angesehen hätte. So von hinten glich das Baby einer großen Puppe, einer von denen, die seine Mutter in ihrer Kindheit nie besessen hatte.

Ich hätte sie fast nicht wiedererkannt, sie trug einen verbeulten Strohhut mit ausgebleichten künstlichen Blumen an der breiten Krempe, der Rand war auf der einen Seite ausgefranst. Aber die Augen darunter waren die ihren, leuchtend und stechend, nur weiter aufgerissen, wie wenn sie Angst hätte.

Sie fragte mich nach Piero, ich sagte ihr, wo er war. Sofort regte sie sich darüber auf, dass wir beide noch hier im Flur standen, und rannte mich beinahe um. Sie hatte den Schnitt der Wohnung, in der sie nur selten gewesen war, nicht vergessen und lief schnurstracks in unser Schlafzimmer. Sie legte das Kind aufs Bett, deckte es mit dem Laken zu und ließ sich daneben plumpsen. Ich stand vor ihr, und sie sprach nicht, stützte ihr verschwitztes Gesicht in die Hände, die Ellbogen auf den Knien. Zu ihren Füßen der Sack, den sie von der Schulter hatte fallen lassen.

»Was ist passiert?«, fragte ich vorsichtig.

Sie antwortete nicht, sondern trat ans Fenster, um die Tränen zu verbergen. Sie zitterte ein wenig, die Schulterblätter zeichneten sich unter dem Nachthemd ab, das ich für ein Sommerkleid gehalten hatte. Sie stieß mit dem Hutrand an die Scheibe, der Hut fiel herunter. Über ihrem rechten Ohr war ihre schulterlange Mähne glatt mit der Schere abgeschnitten, wie bei einem schlecht ausgegangenen Friseurspiel. Sofort bedeckte sie die Verunstaltung wieder, ohne das Staunen auf meinem Gesicht zu beachten. Ein schwaches Rascheln, das Kind schob das Laken weg und drehte sich zu der brennenden Lampe um. Es schlief in der gleichen Stellung wie im Bauch seiner Mutter, mit Pausbacken und feuchten Ponylöckchen auf der Stirn.

»Wie heißt es?«, fragte ich leise.

»Vincenzo«, erwiderte Adriana vom Fenster her.

Ich kniete mich neben das Bett und schnupperte an meinem Neffen. Er roch gut, der Kopf wie noch warmes Brot. Ich wagte es, ihn ganz zart zu streicheln, berührte ihn kaum.

»Du musst uns eine Weile hierbehalten«, sagte Adriana. Ihr ernster Ton erschreckte mich mehr als ihre Forderung.

»Ich frage Piero.«

»Piero ist lieb, er hat bestimmt nichts dagegen. Du willst es vielleicht nicht.« Wieder drehte sie sich um und blickte auf die weißen Lichtkegel der Straßenlaternen draußen.

Ich ließ sie stehen und setzte in der Küche Wasser auf. Sie wehrte sich gegen die dampfende Tasse Kamillentee, doch dann blies sie darauf, damit er abkühlte, und trank ihn wie eine bittere Medizin, in geräuschvollen Schlucken, auf die eine angeekelte Grimasse folgte.

Ein kurzes Wimmern des Babys, es spreizte reflexartig die Hände, wachte aber nicht auf.

»Seid ihr in Gefahr?«, fragte ich Adriana.

»Hier nicht«, antwortete sie nachdenklich.

Danach ging sie ins Gästeklo, noch immer halb barfuß, mit nur einem Pantoffel. Ich näherte mich Vincenzo, auf der Suche nach Ähnlichkeiten, doch solange er schlief, war das schwierig, von seiner Mutter schien er nur den ein wenig frechen Mund zu haben. Und die Nasenlinie erinnerte an den anderen Vincenzo, den Onkel, den er nie kennenlernen würde.

Im Lauf der Zeit wurde er ihm dann immer ähnlicher, im Gesicht, in der Art zu gehen und zu lachen, mit zurückgeworfenem Kopf. Wenn seine Mutter ihn ins Dorf mitnahm, blieben die Passanten auf der Piazza stehen und drehten sich nach ihm um, so ähnlich sah er dem, der nicht mehr da war. Auch die Entschiedenheit ist die gleiche, aber mein Neffe weiß, wie er sie einsetzen muss. Mit sechs Jahren beschäftigte er sich stundenlang mit Legosteinen: Er baute Schiffe, ausgestattet mit allen Details. Jetzt will er Schiffbauingenieur werden.

»Ich schlag dir den Schädel ein, wenn du nicht lernst«, droht ihm seine Mutter manchmal, aber das ist gar nicht nötig.

Adriana hat es verstanden, einen Jungen heranzuziehen, der anders ist als unser Bruder und auch anders als sie.

Damals in der Nacht hat mich der Name des Kindes beeindruckt. Später wurde er mit jeder Wiederholung richtiger. Vincenzo klingt frisch und uralt in allen drei Silben. Adriana hat ihr Baby an eine Geschichte von Unglück und Wundern, Tod und Überleben gebunden: die glanzlose Geschichte unserer Familie. Dieser Vincenzo kommt mir stärker vor als die Widrigkeiten, schon jetzt wette ich auf seine Zukunft.

3

Gestern haben sie mich am späten Vormittag aus dem Unterricht ins Sekretariat gerufen. Es war kurz vor dem Ende der Stunde, wir sprachen gerade über Francesco Biamonti. Sein Buch Die Reinheit der Oliven ist einer der Romane, die ich für dieses Semester ausgewählt habe, es fällt meinen Studenten nicht leicht, ihn zu lesen, aber sie haben angebissen. Ich wollte ihr Verständnis des Italienischen und einige Gewissheiten über ihr Land auf die Probe stellen.

Alain war beeindruckt von dem »unruhigen Schweigen« des Protagonisten und von der Landschaft, den Seealpen, die von der ersten bis zur letzten Seite die Erzählung durchziehen. »Wie eine Interpunktion«, sagte er.

»Man fühlt sich wirklich, als wäre man dort, in Ligurien«, fügte die kleine Brünette hinzu, die in der zweiten Reihe sitzt.

»Es liegt ja auch gleich hier hinter der Grenze, etwas weiter südlich.« Ich nickte zum Fenster hin.

Luc rutschte auf seinem Platz hin und her, bevor er sich meldete. Er wollte einen Satz vorlesen, der seinen Nationalstolz gekränkt hatte. »Ab und zu nimmt jemand Frankreich in den Arm, zeigt es der Welt, damit alle glauben, es sei lebendig, dabei ist es tot.«

Ich bin ihm zuvorgekommen: »Soll man einen kritischen Blick immer ablehnen oder kann er nützlich sein, um das zu verstehen, was wir an uns nicht sehen können?«

Im Büro erwartete mich ein dringender Anruf aus Italien. »Sie haben es schon auf Ihrem Handy probiert, aber es war abgeschaltet«, sagte die Angestellte, die Hand über dem Hörer. In der Sekunde bevor ich antwortete, habe ich mir alle möglichen Unglücksfälle vorgestellt, aber nicht das. Nicht das, was mich im Zimmer 405 wach hält. Nebenan kommt jemand zurück, ich höre die Türe und dann das Pinkeln im Bad auf der anderen Seite der Wand.

Die Stimme am Apparat war mir fremd, und der Dialekt von Pescara klang am Anfang total irreal.

»Du musst sofort herkommen« – der Rest war ein aufgeregtes, unartikuliertes Gestotter.

Der Anruf war kurz, ich sagte, wenn ich einen Platz im Zug bekäme, würde ich am nächsten Morgen losfahren. Als ich aufgelegt hatte, schnappte ich nach Luft, und die Angestellte schob mir einen Stuhl hin. Ich setzte mich. Mir fielen die Atemübungen ein, die Piero mir beigebracht hat, als wir zum ersten Mal zusammen auf den Gran Sasso gestiegen sind. An einem Tag, der so klar war, dass der Berg vor uns aufragte wie eine blendende Basilika, kletterten wir auf dem direktesten Weg hinauf. Bei einem ungeschützten Abschnitt blickte ich ins Leere unter uns, so leicht konnte man diesen Tod wählen, es genügte, die Hände zu lösen. An die Felswand geklammert, zitterte ich, unfähig, weiterzugehen.

Im Sekretariat der Universität Grenoble besann ich mich auf die Zwerchfellatmung, fand meine Selbstbeherrschung wieder. Man brachte mir auch ein Glas Wasser, und ich trank es. Eine ganze Vergangenheit rief mich zurück, wie eine gespannte Feder, die sich plötzlich lockert und in die Ausgangsstellung zurückkehrt.

Nun bin ich hier. Draußen hört man ein mechanisches Pfeifen, vom Hafen her, durch die Dunkelheit verstärkt. In regelmäßigen Abständen wird es unterbrochen, und so wiegt die Stille schwerer. Wer weiß, ob Adriana es auch hört, das Pfeifen und die Stille. Morgen werde ich sie sehen. Morgen ist schon heute, 01:01 blinkt es an meinem Handgelenk, die doppelte Stunde.

Auch sie hat in der Nacht, als sie zu mir kam, nicht mehr geschlafen. Am Morgen erwartete sie mich im Bad, auf dem Rand der Wanne sitzend, mit einem Handtuch auf den Schultern und frisch gewaschenen Haaren.

»Los, mach schon, ich will nicht, das Piero mich so sieht«, sagte sie und hielt mir die Schere hin.

Ich protestierte, das könne ich nicht, sie müsse zum Friseur gehen.

»Nein, ich geniere mich. Es ist nicht schwer, mach sie einfach so kurz wie hier«, und sie fasste sich ans Ohr.

Um es mir leichter zu machen, kämmte sie die Haare ganz glatt. Ich begann, die ungeeignete Schere in der einen Hand und die Strähnen zwischen den Fingern der anderen, immer nur eine. Weich fielen sie auf Adrianas Beine, unten in die Badewanne, auf den Boden. Sie hatte sich beruhigt, ich fühlte es, keine verkrampften Muskeln mehr, keine zusammengebissenen Zähne.

»Woher kommst du?«, fragte ich vorsichtig.

»Den Ort kennst du sowieso nicht.« Sie wischte sich ein paar Haare von der Nasenspitze. »Jetzt mach mich nicht verrückt mit deiner Fragerei, schneid und sei still.« Sie gähnte mit einem Knirschen. »Du musst mir was zum Anziehen leihen, ich bin etwas überstürzt losgerannt«, und sie lachte einen Augenblick, während sie am Saum ihres Nachthemds zog.

»Und Vincenzo?«, fragte ich sie.

»Babynahrung braucht er keine, ich stille ihn noch. Für die dringendsten Sachen gehst du nachher raus und kaufst sie ihm.«

»Ich?«

»Ja, du. Es ist besser, wenn ich eine Weile zu Hause bleibe.« Sie schloss den Mund auf eine Art, die keine Widerrede duldete.

Zuletzt föhnte sie sich, und wir waren beide untröstlich über das Resultat: Die Haare sahen aus wie abgebissen, und sie wirkte krank mit ihren tiefen, fahlen Augenringen. Sie wurde aber nicht wütend, sondern bat mich um Pieros elektrischen Rasierapparat und fuhr sich damit ohne Hast über den Kopf, wobei sie geschmeidig den Hals drehte.

»Prima, fangen wir wieder bei null an«, sagte sie und musterte sich beinahe erfreut im Spiegel.

Auf einmal sah sie wie ein kleines Mädchen aus, so verletzlich wie ein rohes Ei. Sie war siebenundzwanzig, aber man bekam Lust, sie zu beschützen, ihr über den im Vergleich zu dem wilden Gesicht perfekten Stoppelkopf zu streichen. Ich berührte ihn einen Moment mit den Fingerspitzen, und sie entzog sich nicht, daraufhin spreizte ich die Hand, wie um ihn nach all dieser Zeit mit einer reglosen Liebkosung zu umfassen.

Anschließend gingen wir ins Schlafzimmer, um nach Vincenzo zu sehen. Adriana hatte zwei Kissen an die Bettkante gelegt, damit er nicht herunterfallen konnte. Auf der anderen Seite schlief Piero in Kleidern auf dem Laken, zu dem Kind hingedreht, einen Arm auf dem kleinen Körper, aber ganz locker. Durchs Fenster fiel das erste, noch graue Licht des Tages auf sie, und die Geräusche der erwachenden Stadt, die Müllabfuhr auf ihrer Runde. Adriana stieß einen leisen, überraschten Schrei aus, und Piero öffnete die Augen, ohne sich zu bewegen.

»Das hätte ich ja nicht von dir erwartet«, sagte er mit einem Blick auf das Kind zu ihr.

Er war leise heimgekommen und hatte unsere Stimmen im Bad gehört. Kaum hatte er begriffen, was los war, hatte er sich neben dem Neuankömmling ausgestreckt. Er dehnte sich bis zu den gebräunten Füßen.

In der Küche scherzte er mit Adriana über ihre neue Frisur und hielt mich am Handgelenk fest, als ich die Gasflamme für den Kaffee anzündete. Von Nahem roch er ein wenig nach Krankenhaus, die Desinfektionsmittel und der Schmerz hatten ihn bis nach Hause begleitet. Ich fragte ihn, wie es seinem Vater ging, und er beruhigte mich.

»Lass uns zur Feier des Tages im Esszimmer frühstücken«, sagte er im Hinausgehen. Das war er von seiner Mutter gewöhnt, und ich machte es zu diesem Anlass genauso: Tischdecke aus flämischem Leinen, Porzellantassen und Silberlöffel, die wir zur Hochzeit bekommen hatten. Gedankenverloren deckte ich den Tisch, für Adriana, die ich drüben hantieren hörte, und für ihr Kind, das seit wenigen Stunden in mein Leben getreten war. Gerade hatte eine Zukunft begonnen, die ganz anders war, als ich es mir vorgestellt hatte.

»Da ist die Tante«, stellte sie mich vor, als Vincenzo aufwachte.

Sie hielt ihn mir hin, doch er verzog die Lippen wie zum Weinen, und ich ließ die Arme sinken. Mit beweglichen, sehr dunklen Augen sah er sich um. Einen Moment lang runzelte er die Stirn, entspannte sich aber gleich wieder, beruhigt durch den Kontakt mit seiner Mutter. Neugierig berührte er ihren kahl rasierten Kopf. Adriana wechselte ihm die Windeln, sie hatte welche in ihrem Beutel dabei, dann knöpfte sie ihr Nachthemd auf, setzte sich auf mein Bett und hielt ihm die Brust hin. Vincenzo trank sich satt und bewegte ab und zu die Hand auf dem blau geäderten Busen. Ich konnte es kaum glauben, dass meine dünne kleine Schwester fähig war, so viel Milch zu produzieren; ein Rinnsal floss vom Mundwinkel bis zum Hals des Kindes. Mit schrägem Blick kontrollierte es, dass ich den Sicherheitsabstand einhielt. Es war schon neun Monate alt.

Piero kam mit einem Strauß Feldblumen, den er auf einem Wochenmarkt gefunden hatte, und noch warmen Croissants aus der Konditorei Renzi zurück. Sofort angelte sich Adriana eines und verschlang die Hälfte mit einem Bissen.

»Ein Tisch wie bei reichen Leuten«, war ihr Kommentar, während sie die Blumen in die Vase stellte.

Das Kind hatte sich vom Onkel auf den Arm nehmen lassen und lächelte ihn an, als wären sie sich in dem kurzen gemeinsamen Schlaf schon nähergekommen. Aus der Küche brachte ich die Espressokanne, in der noch die letzten Tropfen hochblubberten. Wir setzten uns, Vincenzo auf Pieros Schoß, Adriana daneben. Sie reichte ihrem Sohn das Ende des Croissants. Wir wirkten wie eine Familie, die in Ruhe ihr Frühstück genießt.

Plötzlich klopfte es mehrmals an der Tür. Adriana sprang ruckartig auf und stieß dabei an das Tischbein, dass die Espressokanne wackelte. Ich konnte sie gerade noch auffangen, verbrannte mir aber die Finger. Adriana stürzte ins Bad und vergaß sogar Vincenzo.

Der Signora von oben war ein Handtuch auf unseren Balkon gefallen. Sie habe ja gar nicht gewusst, dass wir einen Neffen hätten, so ein hübsches Kind, und die Mama sei auch da, ja, sie sei nur einen Augenblick drüben. Jetzt würden wir sicher auch Lust kriegen, ein Kind zu bekommen, sagte die Nachbarin, nahm Vincenzos Hand und schwenkte sie fröhlich. Das war zu viel für ihn, die Mutter plötzlich verschwunden, und dann die Fremde, die auf ihn einredete und ihn anfasste: Er begann zu weinen, zuerst nur leise, dann mit aller Kraft seiner kleinen Stimme. Selbst das konnte Adriana nicht aus ihrem Versteck locken, vielleicht hörte sie ihn auch gar nicht, weil sie sich in eine Ecke verkrochen hatte, wie früher manchmal zu Hause im Dorf, die Hände auf die Ohren gepresst. Ich rief sie, und sie antwortete nicht, ich rüttelte an der Klinke, hämmerte mit Fäusten an die Badezimmertür. Die Nachbarin war mir inzwischen egal. Mit meiner Schwester war es schon immer so, von einem Augenblick zum anderen konnte sie mich zu Tränen rühren oder vor Wut rasend machen.

»Adriana, komm raus und kümmere dich um deinen Sohn«, schrie ich und wartete auf eine Reaktion, die nicht kam.

Ich ging wieder hinüber und gab der verstummten Signora ihr Handtuch zurück. Dann verabschiedete ich sie rasch. Unterdessen bemühte sich Piero, Vincenzo zu beruhigen, und zeigte ihm zur Ablenkung am geöffneten Fenster das Meer, die nahen Wellen, ein vorbeifahrendes Boot, aber der Blick des Kindes reichte nicht bis dorthin. Es wollte nur seine Mutter. Sobald ich die Wohnungstür geschlossen hatte, kam Adriana mit einem frischen Gesicht heraus, nahm ihren Sohn, der ihr die Arme entgegenstreckte, wieder an sich, und das Weinen verstummte, als hätte sie einen geheimen Schalter gedrückt.

»Du hältst dich für wer weiß wie lieb, dabei strotzt du vor Bosheit.« Sie konnte sich nicht verkneifen, mir das zu sagen, bevor sie sich wieder an den Tisch setzte, um zu Ende zu frühstücken.

Piero und ich sanken erschöpft aufs Sofa, ich spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren drang. Wir waren das Durcheinander, das Kinder mit sich bringen, nicht gewöhnt. Einige befreundete Paare hatten zwar schon welche, aber sie waren noch klein: Von Weitem mochten wir die Babys der anderen. Unsere Kinder waren bisher ein vages Projekt, kein wirklicher Wunsch, eher ein Gedankenspiel, notwendig, aber nicht ausreichend.

Nach wenigen Minuten erhob ich mich, ich musste die zwei in einem Zimmer unterbringen und dann hinausgehen, um für Vincenzo das Nötigste einzukaufen. Piero streckte die Beine aus und schlief noch ein bisschen, um sich von der Nacht bei seinem Vater im Krankenhaus und von den Überraschungen des Morgens zu erholen.

Am Abend haben wir dann geredet. Ich lag schon im Bett, als er heimkam, er knipste die Lampe auf seinem Nachttisch an und beugte sich herunter, um mich auf den Nacken zu küssen, auf seinen Lieblingswirbel. Das leise Rascheln des Hemds, das er auf dem Stuhl ablegte, die am Fenster abgestreiften Schuhe.

»Mein Mädchen ist noch wach«, flüsterte er und brachte unter die Decke den Pfefferminzduft seines Atems und einen Rest von der Fröhlichkeit der Gesellschaft mit, die er gerade verlassen hatte.

»Du musst Adriana entschuldigen«, sagte ich. »Sie ist ohne Vorwarnung hier hereingeplatzt, aber ich glaube nicht, dass sie und das Kind lange bleiben werden.«

Er machte das Licht aus und umarmte mich von hinten, er mochte es, so einzuschlafen.

»Ich freue mich, sie hier in der Wohnung zu haben. Vincenzo ist süß, und mit deiner Schwester ist es immer lustig.«

»Für mich nicht so sehr«, erwiderte ich und nahm seine Hand.

Er rieb seine Nasenspitze an meiner Schulter, als juckte es ihn. Dann erstickte er einen Schrei an meinem Rücken, aber nur zum Spaß: »Deine Füße sind ja auch im Sommer eiskalt.«

»Und deine glühend heiß.«

»Jetzt wärme ich sie dir«, sagte er mit schlaftrunkener Stimme.

Ich fühlte, wie sich sein Körper entspannte und um mich ausbreitete. Seine Hand lockerte sich in meiner. Ich würde so bleiben bis zum Morgen, wach an einem sicheren Ort.

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