Schlachtfelder, Fluchtpunkte, Träume

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Schlachtfelder, Fluchtpunkte, Träume
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Dominik Mutter

Schlachtfelder, Fluchtpunkte, Träume

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Schlachtfelder

Fluchtpunkte

Träume

Impressum neobooks

Schlachtfelder

Erster Teil.

Tatsachen.

Vergebt, mein bester Freund, dass ich allzu lange kein Wort von mir vernehmen liess. Die hiesigen Ärzte fanden es einen Versuch wert, mich von allen aussenstehenden Kontakten abzuschneiden, zugunsten meiner Therapie. Stundenlang versuchen sie in unseren Gesprächen zu ergründen, was es gewesen sein mag, dass mich zu der, wie sie es nennen, «widerwärtigen» Tat verleitet hat. Sie verzweifeln daran, dass sie mir keine angemessene und zufriedenstellende Antwort entlocken vermögen. Ich weiss nicht, was ich ihnen entgegnen könnte oder sollte, das sie verstummen lassen würde.

Ihr fragtet mich, wie sich dies alles zugetragen habe, was mich dazu verleitet hat, was an diesem Tage im letzten November geschehen war. Stets habe ich eure Intelligenz und euren Rat gewürdigt und bei Gelegenheit werde ich euch alles eröffnen, was ihr zu wissen wünscht. Die Briefe, die ihr mir während der Zeit meiner Einweisung zugeschickt habt, liessen mich Hoffnung schöpfen, verhinderten, dass ich gänzlich meinem Wahnsinn verfallen bin, eingesperrt in diese enge Kammer. Ich weiss, dass der Hofrat sämtliche meine Korrespondenz liest und sich erhofft, ihnen, durch meine Kommunikation mit dir, etwas zu entnehmen, was ihm die nötige Bewilligung gäbe mich für immer hier zu behalten, lebenslänglich. Seine verschrobene, forsche, jedoch freundliche und zuvorkommende Art lässt die Insassen verrückt werden; wie Ameisen um ein Stück Zucker schwärmen sie um ihn und folgen glücklich lächelnd jeder Bewegung seiner Lippen, wenn er sie zu einem längeren oder lebenslänglichen Aufenthalt in seiner Anstalt verdonnert. Beinahe fühle ich mich wie Hans Castorp auf dem Zauberberg. Und Hofrat Behrens ist es, der täglich vor meiner Zelle erscheint, mit seinem verschmitzten Lächeln und der versuchen will, meine innersten Beweggründe und Seelenstände auszumachen und zu durchleuchten. Er ist nichts als ein übermütiger Stümper.

Ich sehe mich gewissermassen gezwungen, diesen Brief kurz zu halten, da mich in diesem Moment die Müdigkeit der vorangehenden Tage überfällt. Die Gespräche mit den Seelenklempnern hatte stärker an meinen Kräften gezehrt, als es mir bewusst war und meine Augen beginnen zuzufallen und ich muss noch rechtzeitig daran denken, diesen Brief aufzugeben.

***

Etwas wahrlich Wunderliches hat sich an dem heutigen Tage ereignet. Nicht, dass ich mich darüber beschweren würde, wenn irgendetwas den monotonen Alltag dieser Inhaftierung überspielt und gelegentlich für etwas Aufregung sorgt. Ein junger, gutaussehender Mann mit einem dunklen Schnauzer gesellte sich, natürlich unwillig und von den Pflegern an den Armen hineingeführt, zu unserem Kollektiv der Verdammten. Die Bewohner des Sanatoriums gingen in Freude auf, als sie die Nachricht eines Neuzugangs erreichte.

Solch ein Neuling versprach stets etwas Unterhaltung und Aufregung. So verhielt es sich auch mit dem jungen Mann mit dem Schnauzer. Er gefiel sich nicht sonderlich in der Behandlung, die die Pfleger ihm gegenüber erbrachten, und er lieferte ihnen einen hartnäckigen Kampf. Die beiden Pfleger sahen sich gezwungen die Wachen hinzuzuziehen, was jedoch bloss noch mehr die aufständischen Kräfte des jungen Mannes vergrösserte. Er riss sich los von ihrem klammernden Griff und sie sahen sich genötigt, seine wütenden Attacken abzuwehren. Mit einem Schlag auf den Kopf hatte eine der Wachen dem Schauspiel jedoch allzu abrupt wieder ein Ende bereitet, jedoch war auch dies bloss der Anfang des Ganzen.

Als sich die Wache zu dem Niedergeschlagenen herunter kniete, um sich zu vergewissern, dass dieser durchaus noch atmen würde, stellte sich heraus, dass der gewitzte junge Mann bloss den Ohnmächtigen gespielt hat und mit einer beinahe animalischen Geschwindigkeit vergrub er sein Gebiss in der Hand des Wachmanns. Dieser, erschrocken und unter grossen Schmerzen, holte weit aus mit seinem Schlagstock, vergass seine Vorbehalte und seine Reue, die er verspürt hatte, als er den Mann das erste Mal niedergeschlagen hatte, und liess den Schlagstock mit einem dumpfen Aufprallgeräusch auf den Kopf des Mannes fahren. Die Pflegerin, die eine Hälfte der Prozession bildete, die den jungen Mann in den Raum geführt hatte, fuhr entsetzt schreiend auf und wich zurück. Der junge Mann rührte sich nicht mehr und ein kleiner See seines Blutes bildete sich neben seinem Kopf. Noch nie habe ich eine der Wachen so sehr ihre Kontrolle verlieren sehen und etwas überrascht starrte nun auch ich auf den Tatort. Zu meinem Glück hatte sich das Ereignis in direktem Blickfeld meiner Zelle ereignet und ich war geladen zu einer Privatvorführung.

Nicht lange und der Hofrat betrat, durch den lauten Schrei der Pflegerin aufmerksam geworden, die Bühne. Ich verfolgte mit grossem Interesse, wie sich die Situation weiter entwickeln würde. Der Hofrat war bekannt für seinen wenig zimperlichen Umgang mit schwierigen Personen; die Gerüchte hielten sich hartnäckig, auch unter denjenigen, die ihn anhimmelten. Diese hatten sogleich auch stets eine Entschuldigung für seine grobe Art bereit und begnügten sich damit, die Worte nachzusprechen, die bereits seit Beginn meines Aufenthalts gesprochen wurden, wenn der Hofrat wieder einmal seine Beherrschung verloren hatte: «Es ist vonnöten, denn schwierige Fälle verlangten auch strengere Vorgehensmethoden». Die meisten dieser Fälle, die strengeren Methoden verlangten, wurden nach einigen ihrer Konsultationen mit dem Hofrat meistens nicht wiedergesehen und die Parole lautete stets, dass sie geheilt waren und abreisen konnten. Glücksfälle sozusagen.

Innerlich zwiegespalten war nun auch der Hofrat in Anbetracht des leblosen Patienten. Er zögerte noch damit, trotz seiner strengen Vorgehensweise gegenüber schwierigeren Fällen, öffentlich seine Kaltherzigkeit zu zeigen und den umliegenden misslang es, seine gespielte Trauer und Fraglosigkeit zu durchschauen. Eine gewisse Freude und Erregung zeigten sich in seinen Augen, als er sich zu dem Verstorbenen niederbeugte und in ärztlichem Fachjargon uns mitteilte, was wir alle bereits wussten. Jedoch erzielte dies seine gewünschte Wirkung, denn ein Mantel der Beruhigung hüllte sich um die umliegenden Zuschauer und den Täter. Selbst die Pflegerin, die zuvor noch in Angst und Entsetzen aufgeschrien hatte, schien ihre Einwände vergessen, oder jedenfalls verdrängt zu haben. Der Hofrat hatte stets ein Händchen hierfür, besonders bei genereller Unsicherheit, wie sie die Pflegerin auf die eine Weise und der Wachmann auf die andere, auch wenn etwas verschrobene Weise, zeigten. So wurde der Vorfall auch allzu schnell von allen wieder vergessen; die Gebeine des ehemaligen, kurzweiligen Patienten wurden geschwind weggeschafft und alles ging seinen gewohnten Gang. Ich jedoch werde nie vergessen, was sich an diesem Tage ereignet hat, denn es war der erste Vorfall, in dem der Hofrat sich gezwungen sah, aus seinem Schatten zu treten. Die gewalttätigen Austreibungen der schwierigen Patienten, die sich stets im Hintergrunde, eben im Schatten, abgespielt hatten, traten heute in einer gewissen Weise ins Licht, auch wenn bloss in diesem kurzen Moment, als diese makabre Freude in den Augen des Hofrats entflammte und der Tod in den Hallen des Sanatoriums in die Öffentlichkeit trat. Ich weiss, dass dies erst der Beginn sein sollte; Sie hatte es mir so vorausgesagt.

***

Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, wie schwer die Banalität und die Langeweile dieses Aufenthalts an meiner Seele nagt. Ein glücklicher Zufall erlaubte es mir, dass ich nicht gänzlich dem Wahnsinn verfiel und meinen Anker, mein Widerlager zu diesem, anderen Zustand, nicht verlor. Wie gesagt hatten eure Briefe keinen unmerklichen Anteil daran, jedoch wird meine Post stets vom Hofrat geöffnet und durchgesehen, wobei ich mir nie sicher sein kann, ob ich eure sämtliche Korrespondenz erhalte, oder nicht. Voller Hoffnung, dass ihr mir etwas entlocken könntet wird sich der Hofrat jedes Mal auf diese eure Briefe stürzen und Stellen, die in seinen Augen problematisch oder nicht wesentlich hilfreich hierfür sein könnten, entfernen. Ihr seht also, dass ich mich nicht gänzlich auf die, durchaus geschätzte, Kommunikation mit euch verlassen kann.

Es nahm jedoch viel Arbeit und starke Überredungskunst in Anspruch; doch gelang es mir die Pflegerin, von der ich euch in meiner vorangehenden Nachricht berichtet habe, und in deren Innern noch immer ein Schimmer der Gutmütigkeit ihres Geschlechtes und ihrer Art steckt, zu überreden, dass sie mir ein Schriftstück aus der örtlichen Bibliothek besorge. Ich sehe mich gezwungen das Buch in meiner Zelle zu verstecken, da es mir nicht erlaubt ist, irgendetwas hier drinnen zu halten, was die Grenzen des Leibes überschreitet. Gelegentlich wird meine Zelle nach verbotenen Gegenständen durchsucht und auch hierin ist die Pflegerin mir eine liebevolle und grosse Hilfe. Dadurch, dass sie mir gegenüber eine gewisse Neigung gefasst hatte, leistete sie mir Beistand. Wenn sie mit der Betreuung meiner Wenigkeit beauftragt war, ersuchte sie mich stets, dass ich ihr aus dem Buch vorlese, das sie mir, unter gewissen Risiken, verschafft hatte und so verbachten wir die, stets allzu kurze, Zeit damit, uns über die Lieblichkeit der Poesie zu unterhalten. Wie gesagt, in ihr flammt noch immer schwach das Licht dessen, was uns als Menschen einst ausgemacht hat und was denjenigen, wie es der Hofrat und seine Anhängerschaft darstellen, abhandengekommen ist. So lese ich ihr aus dem Buch der bewundernswerten und lieblichen Fanny zu R. vor und gemeinsam erfreuen wir uns an Herrn Dames Aufzeichnungen. Ich weiss nicht, wieviel der Hofrat über diese Tätigkeiten weiss und ob er nicht bewusst darüber hinwegsieht, nur darauf wartend, dass eine Unterbindung ebendieses einen gewichtigeren Eindruck hinterlassen würde. Ich kann den umliegenden Patienten nicht trauen, dass sie dem Hofrat nichts über die Regelverletzung der Pflegerin und unseren Gesprächen berichtet haben oder noch werden. Besonders täte mir die Pflegerin leid, die nicht versteht, was geschehen würde, wenn sie diese Seite von sich verlieren und sich gänzlich der Denkweise des Hofrats verschreiben würde; Sympathien mir gegenüber schien er bisweilen sowieso keine zu hegen, weswegen ich mir deshalb keine grossen Sorgen machen muss. Noch immer spielt er das Wartespiel mit mir.

 

Ihr werdet euch sagen, dass ich ein Narr bin, dass ich euch all dies in diesem Schreiben eröffne, da der Hofrat ja sämtliche meiner Korrespondenzen durchliest. Jedoch braucht ihr euch keine Sorgen hierüber zu machen, ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass der Hofrat heute aufgrund eines wichtigen Anlasses, der seiner Persönlichkeit nicht entbehren könne, ausser Hauses sein werde und seine Vertretung, die zwar nicht minder dem fanatischen Gedankengut des Hofrates ergeben ist, eine überaus faule Persönlichkeit sei und die, wenn der Hofrat nicht zugegen ist, sich nicht sonderlich um meine Wenigkeit kümmere, da er nicht über die Hintergründe meiner Einweisung unterrichtet sei und auch der Hofrat diese wohl vor ihm verborgen hält. Die Pflegerin, die durch dieses Schreiben in grösste Schwierigkeiten geraten würde, versicherte mir, dass es für sie eine Leichtigkeit sein würde mein Schreiben an dem heutigen Tag der Kontrolle und der Zensur der Anstalt zu entziehen und vorbeizuschmuggeln. Wenn es so etwas wie die Hoffnung gäbe, dann wäre es nun das, was mir als einziges übrigblieb, doch ich vertraue auf die Fähigkeiten der guten Seele der Pflegerin und so wird euch dieser Brief gänzlich unkontrolliert erreichen.

***

Mein Bester, unsere letzte Kommunikation hat mir etwas eröffnet. Ihr liegt nicht falsch in der Annahme, dass meine Behandlung in dieser Anstalt etwas wunderlich, ja geradezu ein wahres Mysterium darstellt. Seid beruhigt, denn bald genug werde ich euch eröffnen können, was sich zugetragen hat und was meinen hiesigen Aufenthalt ausgelöst hat. Bis dahin kann ich euch nichts anderes sagen als dasjenige, was ich euch in meinem letzten Brief eröffnet habe. Der Hofrat spielt ein Wartespiel mit meiner Wenigkeit; es scheint, als benötigten dringliche Angelegenheiten seine Aufmerksamkeit. Es ist auch hier nur eine Frage der Zeit, bis er sich meiner vollständig annehmen kann und wird, und ich warte bereits sehnlichst auf diesen Moment.

Postskriptum: Da dieser Brief etwas gar zu kurz ausgefallen wäre, wollte ich hier noch einige angehängte Worte an euch richten. Tatsächlich hatte sich an diesem Tage nichts Erwähnenswertes ereignet und meine Wenigkeit geriet etwas in Vergessenheit. Nur durch Gerüchte und einige, etwas gar wage Andeutungen der lieblichen Pflegerin, konnte ich ausmachen, was sich in den restlichen Teilen der Gesellschaft zugetragen hat. Es erreichte mich unter anderem die Nachricht, dass eine der Insassen, die junge Frau Leroy, deren Ehemann, Ludwig Leroy, ebenfalls in der hiesigen Anstalt interniert ist. Die Dame schien sich, nach einer langwierigen Kur und Behandlung durch den Hofrat, ebenfalls gänzlich seiner Anhängerschaft verschrieben zu haben und so erfreuen sich beide Parteien, sowohl der Hofrat als auch das Paar Leroy, neuen, grösseren Ansehens. Das Ehepaar Leroy wurde kurz nach ihrer Ankunft, wie es mir die Pflegerin berichtet hat, mit grossem Pomp und Aufsehen empfangen. Ähnliches pflegte stets zu geschehen, wenn ein grosses Tier, oder sogar gleich mehrere der Sorte, ankamen und der Hofrat genoss stets das Ansehen und die Freundschaft derer, die diejenigen unter ihren Schuhsohlen kleben haben, die die Pfeiler ihres Reichtums und ihres Glücks darstellen. So hatte der fanatische Kult um den Hofrat ein neues, angesehenes Mitglied gewonnen und erfreut sich nun wohl einer noch grösseren Wirkung bei all den verlorenen Seelen in diesem Hause.

Worum es sich bei den Kuren der Madame hielt, kann ich euch nicht sagen, jedoch braucht es bei Leuten dieses Kalibers zumeist, erstaunlicherweise, wenig Überzeugungskraft und keine Schläge. Diese Leute waren stets willig denjenigen zu folgen, die ihnen das versprechen, was ihnen in diesem Moment den grössten Nutzen verspricht, und ihr bisheriges Treiben entschuldigt und zugleich noch erleichtert. Ausserdem würde es mich nicht wundern, wenn er ihnen bei Gelegenheit ein Thermometer und einige Kamelhaardecken angehängt hat, so können sie sich, in der Kälte liegend, wie die Patienten des Hofrats Behrens, für immer in ihrem fieberhaften (Traum)Zustand halten.

Zweites Postskriptum: Kurz als ich davor war, meinen Brief den Pflegern zu übergeben, von wo aus er stets umgehend in die Hände des Hofrats wandert, ist mir aufgefallen, dass ich im vorangehenden Teil von Gerüchten, also im Plural, sprach. Es ist mir gänzlich entfallen euch zu berichten, was sich neben den Begebenheiten mit der Madame, ereignet hatte, und was ich ebenfalls durch die flüchtigen Andeutungen der Pflegerin ausmachen konnte.

Etwas nicht ganz Unwesentliches hatte sich nämlich ebenfalls an dem heutigen Tage ereignet. Einigen Patienten, darunter auch einigen der schweren Fälle, wie ich ihn darstelle, wurde es erlaubt sich etwas freier in der Anlage zu bewegen und so konnten ausgewählte Insassen in der Anlage spazieren gehen und sich in den Gemeinschaftsräumen aufhalten. Was genau hinter dieser plötzlichen Gewährung von vermeintlicher und täuschender Freiheit steckt, erschliesst sich mir in diesem Moment noch nicht. Und noch weiss ich auch nicht, ob mich diese Veränderung miteinschliessen wird. Es schaudert mir etwas davor, es herauszufinden.

***

Ein Wunder. Heute zeigte sich der Hofrat, seit allzu langer Zeit, wieder persönlich. Auch wenn nur für einen kurzen Augenblick, so trat er tatsächlich vor meine Zelle und sprach, mit seinem konstanten, verschmitzten und etwas niederträchtigen Lächeln im Gesicht, von seinen grossen Plänen, die er mit meiner verwirrten Seele vorhabe. Er hielt sich ausserordentlich vage und schien es zu geniessen, mich an der kurzen Angel zappeln zu lassen. Es scheint auch, dass er kaum mehr an sich zu halten vermag und nicht widerstehen konnte, diesen Abstecher zu meiner Zelle zu unternehmen und meine Wenigkeit mit seiner Anwesenheit zu beehren; wobei er bei Gelegenheit noch unklare Andeutungen darüber machte, dass er grosse Pläne habe; und mir ausserdem unbewusst mitzuteilen, dass ich wohl stärker und dauernder in seinen Gedanken herumlungern würde, als ich mir dies bislang gedacht habe. Er wird es geniessen, dass ich euch in meinem Briefe über ebendiesen Vorfall und sein Auftauchen berichte. Es wird ihm ein Lächeln ins Gesicht zeichnen, dass auch ich mich mit ihm beschäftige.

***

Etwas gar Wunderliches träumte sich mir in der vorangehenden Nacht. Schweissgebadet und von einem starken Schwindel erfüllt fuhr ich an dem heutigen Morgen aus meinem Bett. Mir träumte, dass ich mich in dem alten Köln wiederfand, und dies obwohl ich bislang noch nicht die Ehre gehabt habe, diesen lieblichen Ort zu besuchen. Wobei ich sagen muss, dass sich nach meinem letztnächtlichen Traume einige Zweifel in mir regen, ob ich mich tatsächlich zu einem dortigen Aufenthalt entscheiden sollte. Ich fand mich wieder inmitten der Stadtmauern des mittelalterlichen Kölns und mit meinen eigenen Augen beobachtete ich die Geschehnisse, wie sie sich entsprechend meiner nachfolgenden Erzählung entfalteten. Dabei hatte ich stets im Hinterkopf, dass ich all dies bereits irgendwo gesehen oder möglicherweise gelesen habe; wenn mir einfällt, von wem das beunruhigende, doch ebenso meisterhafte Stück stammt, muss ich daran denken, ihn entsprechend zu ehren und gebührend schätzen zu lernen.

Durch das grosse Stadttor trat der junge Mann, der nach einer siebenjährigen Abwesenheit zurück in seine Heimatstadt kam. Bereits kurz nach seiner Rückkehr verbreitet sich in der Stadt der Schwarze Tod. An einem Brunnen, in der Nähe des Judenquartiers, wird der sterbende Mann aufgefunden und, nachdem sich zwei Quacksalber um seine «Behandlung» gestritten haben, wobei einer der beiden ironischerweise solgleich der Pest zum Opfer fällt, in das örtliche Krankenhaus gebracht. Wie ihr es euch bereits vorstellen könnt, hatte dieser Vorfall und der Ausbruch dieser Seuche schwerwiegenden Folgen und ihr könnt euch den weiteren Verlauf des Geschehens sicherlich bereits bildlich vorstellen.

Es dauerte nicht lange, bis ein Schuldiger für den Ausbruch dieser tödlichen Krankheit gefunden ward. Die Tatsache, dass der junge Mann die Krankheit daraufhin dennoch überwand und sie sich in dem Quartier seiner Leute, aufgrund besserer Medizin und besserer Vorsichtsmassnahmen, weniger schnell ausbreitete, war hierbei bloss noch das Körnchen, das das Pulverfass zum Überlaufen brachte. Für die «fromme» Stadtbevölkerung stand sogleich fest, dass die Juden die Brunnen vergiftet haben und einen Fluch, die Seuche, über sie gebracht haben. In der Kölschen Bartholomäusnacht rauft sich ein blutdürstiger Mob zusammen und beinahe sämtliche jüdische Bevölkerung fällt dieser Monstrosität zum Opfer; ein brutaler Kampf verkommt zu einem Akt des kaltblütigen Mordes. Die Unschuldigen mussten mit ihrem Leben für etwas bezahlen, das selbst die ihrigen Geliebten verschlang.

Etwas, das wie ein glückliches Ende für den jungen Protagonisten meines Traumes und seine Familie erscheint, die glücklicherweise entkommen und ins Ausland fliehen konnten, wird damit zunichtegemacht, dass wir genau wissen, was sich nach den Ereignissen, wie ich sie euch hier berichtet habe, in unserer Weltgeschichte zugetragen hat.

In Anbetracht dieses schauerlichen Traumes, der mich bis zu diesem Zeitpunkt noch verfolgt, schienen mir die übrigen Vorkommnisse dieses Tages als nebensächlich und so werdet ihr euch heute mit diesem kurzen Bericht begnügen müssen.

Postskriptum: Wilhelm Jensen.

***

Eine Reinigung vollzog sich in der hiesigen Anstalt. Grosse Teile derjenigen, die bislang als harte, resp. schwierige Fälle gegolten haben, wurden wie vom Erdboden verschluckt. In der Stille der Nacht wurden sie, wie der Hofrat es ausdrückte, auf wunderhafte Weise geheilt und wieder den ihrigen übergeben. Ich wusste schon immer, dass die Erde eine grosse Verwandtschaft hatte.

Mit dem Abtritt so vieler folgt auch stets ein neuer, grosser Zulauf. Neue Patienten, neue Puppen in den Händen des Hofrats. Ein überglückliches Lächeln zierte dessen Gesicht, als er heute, selbstzufrieden, durch die Hallen ging, nachdem er eine neue Lieferung empfangen und entsprechend eingelagert hatte.

Das Privilegium der Aussenspaziergänge wurde allem Anscheine nach auch heute ausgeweitet, so sagte mir die Pflegerin, dass der Hofrat auch mir gedenke einen grösseren Bewegungsraum zukommen zu lassen, wobei sich mir der Grund hierfür noch immer nicht erschliesst. Was die anderen mit ihrem Auslauf anstellen erschliesst sich mir hingegen so langsam aber stetig. Der Hofrat hat die Gelegenheit ergriffen und nutzt die, den Patienten so urplötzlich und unversehens zugesprochenen Freiheit dazu, eine Reihe von Vorträgen zu halten. So finden sich regelmässig grosse Mengen der Ansässigen in einem der grossen Gemeinschaftsräume zusammen und gemeinsam lauschen sie den gewichtigen Worten des Hofrats. Ich weiss nicht, worüber der Hofrat bei seinen Abhandlungen spricht, doch entsprechend der Andeutungen einiger Leute, dessen Gespräch ich aus meiner Zelle heraus belauschen konnte, und Berichten der Pflegerin zum Dank, konnte ich einige Schlagworte davon ausmachen. Hiernach spricht er über die Liebe, Toleranz, Sicherheit und ihre Freiheit und was es bedeute, diese zu wahren. Er schien die Leute regelrecht in seinen Bann zu ziehen und wie die braven Schäfchen, die sie sind, kleben sie an seinen Lippen. Er ergreift sie dort, wo wir am verwundbarsten sind, an unseren verborgenen Ängsten, so irrational und grundlos diese auch sein mögen.

 

***

Mein bester R.M., einige Tage sind vergangen, seit ich das letzte Mal von mir hören lies. Ihr werdet Verständnis dafür haben, wenn ihr den Grund für diese Unterbrechung erfahrt.

Die Frage, ob die vergrösserte Bewegungsfreiheit der Patienten auch meine Wenigkeit miteinschliessen würde, wurde vor einigen Tagen beantwortet. Und tatsächlich: es ward mir erlaubt aus meiner engen Zelle, in der ich bislang eingepfercht, in Einsamkeit, gesessen habe, auszubrechen und die Hallen und Gänge des Sanatoriums zu erkunden. Nicht alle Winkel des Gebäudes sind mir, aufgrund der «Gefahr», die von Persönlichkeiten wie der meinigen ausgeht, wie es der Hofrat an einem der vorangehenden Tagen geäussert hatte, zugänglich und so bewege ich mich in einem vorherbestimmten Rahmen und unter gewissen Einschränkungen.

Ihr werdet mir auch Glauben schenken, wenn ich euch sage, dass sich die Ereignisse im Sanatorium in dem gewöhnlichen Gang, wie sie zuvor in Bewegung waren, weitergegangen sind und die Leute, wie sie immer eine natürliche Weigerung dagegen zu haben scheinen, aus dem zu lernen, was zuvor Geschehen war, wiederholen, was sie in ihren bewegenden Reden immer als falsch und verwerflich bezeichnen. Gefangen wie in einem Strudel drehen sich die Ereignisse hier wie im Kreis.

Doch ich schweife ab.

Deshalb, zurück zu meiner vermeintlichen, gewonnenen Bewegungsfreiheit:

Vor einiger Zeit ward es mir also zugestanden, aus der Bedrückung meiner Zelle auszubrechen und mich, selbstverständlich unter den wachsamen Augen der Männer des Hofrats, die mich durch eine Linse beobachten, und den Wachen, die, mit dem Finger stets in der Nähe des Abzugs, umherstanden und mich, sowie auch andere meines Schneides, überwachten und in den uns zugemessenen Schranken hielten. Wie ich euch bereits zuvor berichtet habe, haben sich auch diesmal, während meines ersten Ausgangs, grosse Teile der Ansässigen in den Referaten und Vorträgen des Hofrats eingefunden, der in seiner Führungsaufgabe eine Pause einlegte und unter seine Schäfchen niederkam und ihre Köpfe weiter mit seinen Predigten füllte. Es widerstrebte mir, den bewegten Abhandlungen des Hofrats beizuwohnen, wobei ich gestehen muss, dass ich, von Neugierde getrieben, mich in einem späteren Tag, zur Zeit meines Ausgangs, in dem Saale einfand, wo ich umgehend dem feurigen Blick des Hofrats begegnete, der mit meiner Anwesenheit gerechnet zu haben schien.

Ich vermag euch nicht getreu wiederzugeben, wovon der Hofrat gesprochen hat, doch werde ich nie vergessen, wie leidenschaftlich, gebannt, ja, geradezu fanatisch die anwesenden Zuhörer an seinen Lippen hingen. Keiner in dem Raum vermochte sich auf seinem Stuhl zu halten und der Hofrat erging sich in eindrücklichen Metaphern, voller Epos, die von Bedrohungen sprachen, die drohen, die Grundpfeiler unserer Gesellschaft einzustürzen zu lassen; ein Feind inmitten unserer eignen vier Wände, wenn man so sagen will. Jubel und Geschrei brach aus, als der Hofrat mit seiner leidenschaftlichen Rede geendigt hatte und umgehend wurde er verschlungen von den sehnsüchtigen Bewunderungen der Zuhörer, die sich um ihn scharten. Dies Wiederholte sich jeden Tag, an dem mir das Verlassen meiner Zelle gestattet ward und dabei änderte sich, sehr zu meiner Verwunderung, beinahe nichts an den Reden des Hofrats. Tatsächlich stellte sich, bereits bei dem zweiten Vortrag, den ich besucht habe, eine starke Repetition ein, was jedoch die restlichen Anwesenden nicht zu bekümmern schien. Und augenscheinlich vergrösserte sich ihre Anzahl mit jedem Tage und immer mehr begann sich der Saal zu füllen und nicht lange, bevor in dem Raume ein gewisser, beengender Platzmangel entstand. Die Wände begannen zu erzittern bei ihrem Jubelgeschrei am Ende der Rede des Hofrats.

***

Wenig ereignete sich während den letzten Tagen, abgesehen von den kreisartig verlaufenden Bewegungen unserer Welt und Erde. Ein gewisser Schauer begann mich während der Reden des Hofrats zu überfallen und ich entschied mich, von zukünftigen Teilnahmen daran abzusehen. So begann ich, etwas ratlos, was zu tun sei, durch die Gänge des Sanatoriums zu wandern und gelegentlich gelang es mir, einen flüchtigen Blick in die herrliche Aussenwelt zu werfen. Wenn es mir glückte, nutzte ich die Unachtsamkeit der Wachen dahingehend aus, dass ich mich etwas abseits des Geschehens davonschlich und mich, zu einem der unbewachten Fenster stehlend, die noch einen ungehinderten Blick auf die Aussenwelt gewährte. Hier schweifte mein Blick über die Eichen, die in dem grossen Park, der das Sanatorium umschloss und auf weite Flächen von der übrigen Aussenwelt isolierte, und deren Äste in den schwachen Winden schaukelten. Gelegentlich erblickten meine Augen die edle Gestalt eines Kauzes, dessen grosse, leuchtenden Augen die Finsternis der Welt durchbrachen und in die tiefsten Ebenen meines Körpers und meiner Seele zu blicken schienen. Seine edle, ungestüme Gestalt bereitete mir einen stechenden Schmerz in meinem Herzen und gelegentlich kam es mir vor, als erblicke ich zwischen den dichten Ästen der Eichen Ihr Gesicht. Hierbei ist mir durchaus klar, dass ich euch noch immer einer Erklärung schuldig bin und ihr euch dessen nicht gewahr seid, wovon ich spreche. Auch diesbezüglich wird sich euch, zu gegebener Zeit, alles erschliessen, wenn ich vermag auf das zu sprechen zu kommen, was mich hierhin verschlug.

Postskriptum: Auf einem meiner letzten Schleichgänge zu dem Tor zur Aussenwelt begegnete ich der gutmütigen Pflegerin und für einen kurzen Moment sah ich in ihrem Gesicht etwas, das mir Hoffnungen machte. Ihre anfängliche, automatische Reaktion, die mein Vergehen schelten, verurteilen und angemessen Bestrafen wollte, geriet in einen inneren Konflikt in ihrem Inneren, wobei sich auf ihrem Gesicht merkliche Spuren dessen abspielten, was in ihr vorging. Ihre bessere Seite schien die Oberhand zu gewinnen und an meiner Seite bestaunte sie das, was auch ihr über die Zeit abhandengekommen war; die Wildheit, Fremde, Verworrenheit und Romantik; der Natur mit all ihren Mängeln und Fehlern.

***

Liebster R.M., immer mehr sehe ich mich gezwungen Zuflucht in der Literatur und in ihrer Auflösung dessen zu suchen, was ich mich geneigt sehe, nach deinen Worten, die Verneinung des Lebens zu nennen.

Ach, diese Wundernatur des Menschen!

Auf meinen Spaziergängen durch das Sanatorium, dessen grössten Teile mir noch immer verschlossen sind und die nur denjenigen zugänglich sind, die sich der Gefolgschaft des Hofrats angeschlossen haben, zermürbe ich mir wieder und wieder meinen Kopf. In ihren grossen Sälen finden sie sich ein, ergötzen sich an riesigen Festgelagen und geilen sich an der Tatsache auf, dass sie erfolgreich eine Zweiteilung in unserer Gesellschaft vornehmen und das «Andere» ausschliessen konnten. Unwissend, dass sie in diesem ewigen Strudel der Wiederholung und falscher Lehre gefangen sind und sich gezwungen sehen das zu wiederholen, was wir uns, dachte ich, geschworen haben, sich nicht wiederholen zu lassen. Und was tun die anderen? Sie sehen zu, wie sich die Rhetorik des Hofrats und diejenige seiner Schäfchen Schritt für Schritt zunehmend verschärft und sie dabei kein Geheimnis daraus machen, was ihre Pläne sind. Die härteren Methoden des Hofrats sind allen bekannt, und kümmern tun sie stets nur die Opfer.

Ihr fragt euch nun sicherlich, was der Grund für diese, meine Verstimmung ist. Auch ich will kein Geheimnis daraus machen und es euch gerne eröffnen. Stets, wenn ich mich mit eurem Schaffen auseinandergesetzt habe, regte sich in mir ein Schauder der gutmütigen Art. Ich lernte aus euren Werken und hoffte, dass andere es mir gleichtun würden; doch wieder sehen wir uns einer Situation gegenüber, in der man den Bremsweg des Kraftwagens nicht einzuschätzen vermag und das Missgeschick nur noch unvermeidlich erscheint und wieder wird sich niemand Gedanken darüber machen, was dieses ausgelöst hat.