Buch lesen: «Herausforderungen der Wirtschaftspolitik», Seite 4
Das sehr lesenswerte und kontrovers diskutierte Buch des in Großbritannien lehrenden Historikers Christopher Clark „Die Schlafwandler“, das das „Hineinstolpern“ der europäischen Großmächte in den I. Weltkrieg äußerst detailliert beschreibt, wurde von seinem Autor 100 Jahre nach dessen Ausbruch sehr wohl mit Blick auf Analogien zu möglichen neuen globalen Krisen geschrieben (damit war nicht nur Europa, sondern ebenso Ost- und Südostasien gemeint).
Die Beziehungen zwischen China und den meisten seiner Anrainerstaaten, insbesondere mit Japan (zu dem es keine echte Aussöhnung nach dem II. Weltkrieg gegeben hat), sind mit „angespannt“ zumeist noch freundlich beschrieben. Perception remains Reality. Während viele Nachbarn Chinas einem wirtschaftlich und militärisch starken China skeptisch gegenüberstehen, gibt es in China wiederum historisch begründete „Einkreisungsängste“ (vgl. Kissinger, 2012, Kapitel 1).
Tatsächlich befinden wir uns heute, im Gegensatz zur Ausnahmesituation einer Bipolarität im sogenannten Kalten Krieg, der von ca. 1947 bis 1990 währte, in einer „unübersichtlichen“ Globalsituation (die zudem durch neue Methoden der Kommunikation und Überwachung gekennzeichnet ist), deren Entwicklung zu einer neuen Bipolarität zwar nicht zwingend, aber möglich ist. Mit anderen Worten: Geschichte wiederholt sich, wenn, nicht als Tragödie, sondern als Farce (frei nach Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“).
Kein europäischer Staat, von Russland einmal abgesehen, hat so viele Nationalstaaten als Nachbarn wie Deutschland, kein anderes europäisches Land erreicht auch nur annähernd die deutsche Wirtschaftskraft. Der historische „Fluch“ des jüngeren Deutschlands von der 2. Reichseinigung im Jahre 1871 bis zum Ende des II. Weltkriegs in Europa im Jahre 1945 war es, groß und wirtschaftlich stark in der Mitte Europas zu stehen, und dabei einerseits zu klein zu sein, um Europa dominieren zu können (als man das noch wollte!); dass andererseits aber ohne Deutschland „nichts in Europa ging“ und geht. Dieser „Fluch“ sollte mit der politischen und wirtschaftlichen Einbindung Deutschlands in die EU gelöst werden.
Heute hat Deutschland mit ca. 83 Millionen von etwas über 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union (inklusive Großbritannien) einen Anteil von etwa einem Sechstel der Gesamtbevölkerung (bzw. ca. einem Neuntel der Bevölkerung von Gesamteuropa), steht aber für mehr als ein Fünftel der Wirtschaftsleistung der EU. Während der Anteil der Industrie am BIPBIP in der EU im Jahre 2017 bei nur ca. 16% lag (Großbritannien und Frankreich noch deutlich darunter), waren es in Deutschland immer noch über 22%. Daran hat auch die seit 2018 andauernde Rezession der deutschen Automobilindustrie qualitativ (noch) nichts geändert. Dass dies so bleiben wird ist aber keineswegs klar. Die deutsche Industrie leidet gegenwärtig nicht nur an einem gesamtgesellschaftlichen Mangel an Interesse nicht nur junger Menschen für technische Berufe; sie wird gleichzeitig durch gestörte Lieferketten und den politisch befördeten technologischen Wandel hin zur E-Mobilität und alternativen Energien unter Druck gesetzt.
Abb. 1.3:
Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten 2007 vs. 2017 (Quelle: Bundesministerium der Wirtschaft[5])
Der deutsche Anteil an der der EU-Industrieproduktion lag vor der Corona-Krise bei ca. 30% und bei ca. 6% der Weltindustrieproduktion. Keine andere große Volkswirtschaft – Stichwort Exportweltmeister2 – ist so mit dem Rest der Welt verwoben.
Nicht nur in diesem Zusammenhang sei Ihnen die Abschiedsvorlesung von Hans-Werner Sinn aus dem Jahre 2015 sehr empfohlen, die Sie sich z.B. auf YouTube ansehen können.[6]
Damit verbunden ist ein sowohl ökonomisches und soziologisches „Megathema“: der Einfluss der Niedrigzinsen der Europäischen ZentralbankEuropäische Zentralbank (EZB) und weiterer großer Nationalbanken wie der FedFed, der Bank of Japan und der Bank of England, sowie der People’s Bank of ChinaChina, auf unser individuelles Verhalten und auf die Investitionstätigkeit von Unternehmen und damit auch auf unser Gemeinwesen (s. auch Kapitel 6 und den Exkurs zu Kapitel 12).
Dies betrifft nicht nur die Entwicklung der Vermögensverteilung, sondern ebenso die der Kapitalanlagen, es betrifft die AltersvorsorgeAltersvorsorge und auch die Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht. Die Nichtexistenz einer risikofreien Anlage in dem Sinne, dass die Nominalzinsen und die Realzinsen null oder sogar leicht negativ sind, treibt private wie geschäftliche Investoren nicht selten in Projekte, die bzw. deren assoziierte Risiken sie nicht verstehen.3
Niedrige oder negative Zinsen begünstigen somit auch die Übernahme- und Fusionswelle bei Unternehmen; sie sind ebenso ein wesentlicher Grund für die schnelle Erholung der Aktienkurse nach dem „Corona-Einbruch“ im März 2020. Die Barreserven der größten (zumeist US-amerikanischen) Unternehmen betrugen Ende 2021 viele Hunderte Milliarden US-Dollar, wobei mangels Anlagealternativen der Druck zu Übernahmen – und damit zu Konzentration – massiv zunimmt. Gesellschaftlich relevante Beispiele waren die im Spätherbst 2015 (angekündigte aber schließlich gescheiterte) Übernahme von Allergan durch den US-amerikanischen Pharmariesen Pfizer, das Zusammengehen der Medienunternehmen Walt Disney mit der 21st Century Fox im Jahr 2017, die 2017 vollzogene Fusion von Dupont und Dow Chemical zum weltgrößten Chemieunternehmen sowie die Übernahme der Pharmafirma Celgene durch Bristol-Myers Squibb im Jahre 2019.
Wenn in Relation zu Sachwerten und möglichen sinnvollen Investitionen zuviel GeldGeld vorhanden ist, „sucht dieses verzweifelt profitable Anlagemöglichkeiten.“ Dazu korrespondiert auch der massive Abzug von Finanzmitteln der entwickelten Staaten (bzw. deren Finanzinstitutionen) aus den sogenannten Emerging Markets zu Beginn der Finanzkrise, der Wiederanlage und dem erneuten Abzug im Zuge der Corona-Krise.
Abbildung 1.4 verdeutlicht, dass unsere wichtigsten Handelspartner im Gegensatz zu den meisten europäischen Partnerstaaten nicht nur in Europa liegen. Wenn man von der EU als Ganzes abstrahiert, war China 2019 bereits das vierte Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner.4
Während das lange heiß diskutierte Transatlantic Trade and Investment Partnership-Handelsabkommen (TTIP) auf absehbare Zeit erledigt zu sein scheint, bleibt es für Deutschland von besonderem Interesse, zu erahnen, welche Auswirkungen das Ende 2020 unterzeichnete Regional Comprehensive Economic Partnership-Abkommen (RECP) und eine mögliche Wiederbelebung des ebenfalls totgesagten Trans-Pacific-Partnership-Abkommen (TPP) haben können.
Abb. 1.4:
Exporte und Importe der wichtigsten Handelspartner Deutschlands 2019 in Mrd. Euro (Quelle: Statistisches Bundesamt[7])
Tatsächlich sind die USA relativ gesehen gering in den WelthandelWelthandel integriert. Daran ändern auch die Militärexporte, die amerikanische Ölindustrie, weltbekannte und geschätzte Marken wie Microsoft, Apple, Google, Facebook, Coca Cola, Levi Strauss, Hollywood und Mickey Mouse und die Diskussion zum Außenhandelsüberschuss Chinas nichts. Die Summe von Importen und Exporten dividiert durch das BIPBIP betrug im Jahre 2017 lediglich 27,54% im Vergleich zu 86,53% für Deutschland bei einem Weltdurchschnitt von 58,02%. M.a.W.: Die USA können es sich bei ihrer geografischen Größe, vorhandenen Rohstoffen und ihren Streitkräften noch am ehesten leisten, aus der Weltwirtschaft weitgehend „auszusteigen“ bzw. damit zu drohen.5[8]
Bemerkung:
Handelspolitik ist auch oder vor allem Machtpolitik. Das Paradigma des weltweiten Freihandels, repräsentiert durch die World Trade Organization (WTO), wurde in den letzten Jahren weitgehend aufgegeben. So waren die USA in die bis dato gescheiterten Abkommen TTIP und TPP involviert, während China (neben Russland und Indien) an keinem der beiden Verträge teilhaben sollte. Ende 2020 war es schließlich China, unter dessen unbestrittener Führung das RECP unterzeichnet wurde. Jenseits der bis dato gescheiterten beiden großen Verträge sind das Zustandekommen von Freihandelsverträgen der EU mit Vietnam, Schwellenland mit über 90 Mio. Einwohnern, im Jahre 2015, Kanada im Jahre 2017, der weltweit drittgrößten Volkswirtschaft Japan im Jahre 2019 und Mexiko im April 2020 für Deutschland als Teil der EU sehr erfreulich. Zu keinem Abschluss ist die EU bisher mit dem 25-Millionen-Menschen-Staat Australien gelangt. Hier hängen die Verhandlungen nach dem 2021 aufgekündigten U-Boot-Geschäft mit Frankreich fest.
Wir müssen uns, wenn wir mögliche zukünftige Pfade der gesellschaftlichen (und damit natürlich der wirtschaftlichen) Entwicklung Deutschlands erahnen wollen, auf historische wie juristische, wirtschaftliche, soziale und machtpolitische Argumentationen einlassen.
Eine bzw. die große Unbekannte stellt dabei die rasante Technologieentwicklung und die dazu korrespondierende Machtkonzentration von Individuen, Unternehmen und Staaten dar (Stichworte Big Data, soziale Netzwerke, Autonomie des Individuums, öffentliche Sicherheit).
Noch vor weniger als einer Generation6 gab es keine Smartphones, kaum Internet, damit auch keine internetbasierten sozialen Netzwerke, kein GPS u.v.m.: Wir können also nicht wissen, welche technischen Innovationen unser Leben zukünftig verändern werden. Fahrerlose Züge und selbstlenkende Lkws erscheinen in näherer Zukunft wahrscheinlich, anders sieht dies (noch?) mit autonomem Fahren von Pkws aus. Abgesehen davon, was Nassib Taleb das unbekannte Unbekannte nannte, wovon wir noch überhaupt nichts ahnen! Letztlich kann sich moderne TechnologieTechnologie durchsetzen, wenn sie hinreichend skalierbar ist und die rechtlichen Rahmenbedingungen bzw. die Absenz von Verboten gegeben sind. Sie muss sich dann aber nicht durchsetzen.
Schauen Sie sich zum Beispiel in Ost- wie Westdeutschland verlegte Comics aus den 1950er Jahren an, in denen es jeweils von atomgetriebenen selbstlenkenden Autos u.v.m. wimmelt. Sehr zu empfehlen ist diesbezüglich auch die Filmtrilogie „Zurück in die Zukunft“, deren 1. Teil im Jahr 1985 präsentiert wurde.
Wenn man sich grafische Darstellungen der Entwicklung des Welthandels vor Augen führt, die in den letzten 10 bis 20 Jahren erstellt wurden, so suggerieren diese ein ungebremstes zukünftiges Ansteigen des Welthandels (mit einer „kleine Delle“, die zum Ausbruch der Finanzkrise korrespondiert), das mit unserem heutigen Wissen in dieser Form nicht eintreten wird (vgl. z.B.[9]).
Unklar sind die mittel- und langfristigen Auswirkungen der DigitalisierungDigitalisierung als wichtigster Treiber von Technologie auf den Arbeitsmarkt. Während die Digitalisierung von Dienstleistungen naturgemäß Grenzen hat, zeichnet sich bereits ab, dass der WelthandelWelthandel insgesamt rückläufig werden muss, wenn zahlreiche Güter zukünftig vor Ort z.B. aus einem 3D-Drucker kommen. Ob und inwieweit die Anwendung der Blockchain-Technologie (derzeit sind etwa die Hälfte der Kosten im internationalen Handel mit Zolldokumenten und weiterer BürokratieBürokratie verbunden) diesen zur kostengetriebenen Hyperglobalisierung gegenläufigen Trend verlangsamen oder aufhalten kann, bleibt abzuwarten (vgl. Kapitel 10).
Übertriebenes Beispiel?!
Bekannt ist, dass die durchschnittliche Körperlänge der deutschen Bevölkerung im 20. Jahrhundert pro Generation (annahmegemäß 25 Jahre) um 3,8 cm zunahm. In diesem Zusammenhang lesen wir die fiktive Behauptung einer fiktiven deutschen Boulevardzeitung „Deutsche im Jahr 3000 4 Meter lang!“
Lassen Sie uns zunächst über die zahlreichen Annahmen und die Art des Zustandekommens der Behauptung nachdenken. Nicht gegeben ist hier, ob es sich um Aussagen zur männlichen, zur weiblichen oder zur Gesamtpopulation handelt. Nehmen wir einmal an, dass es sich um die deutsche Gesamtbevölkerung handelt. (Auch hierzu sollten Ihnen bereits einige weitere Fragen einfallen.7)
In der fiktiven Schlagzeile sind weder die durchschnittlichen Körperlängen im Jahre 1900 noch im Jahre 2000 gegeben. Nehmen wir nun an, dass die das 20. Jahrhundert betreffende Aussage stimmt. Dann reicht es uns, einen dieser beiden Eckwerte zu kennen. Wenn die deutsche Gesamtbevölkerung im Jahre 2000 fiktiv durchschnittlich 175 cm lang war, dann war sie im Jahre 1900 175 cm – 3,8 ∙ 4 cm = 159,8 cm lang oder anders herum.
Die 159,8 cm Durchschnittslänge im Jahre 1900 und die 175 cm im Jahre 2000 gehören also zusammen. Mehr wissen wir erst einmal nicht. Nur, dass die Durchschnittslänge der Deutschen von 1900 bis 2000 um 15,2 cm gestiegen ist. Oder glauben Sie, dass 1925, 1950 und 1975 so genau gemessen wurde? Die Teilung durch die Anzahl der Generationen (deren gewählte Länge, wenn man den Begriff wörtlich nimmt, mit fortschreitender Zeit nichtlinear länger geworden sind) ist ebenso willkürlich.
Im 20. Jahrhundert gab es zwei Weltkriege mit insgesamt mehr als 70 Millionen Toten allein in Europa und darauf folgenden Hungersnöten und Grippen (das bekannteste Beispiel ist die Spanische Grippe nach dem I. Weltkrieg). Glauben Sie wirklich, dass die Deutschen im Durchschnitt kontinuierlich gewachsen sind? Ihnen fallen sicher noch viele weitere Fragen ein …
Die „Analytik“ ist nun, wenn wir die bereits gestellten Fragen verdrängen, ziemlich simpel. Die geschätzte Körperlänge im Jahr 3000 ergibt sich hier als Körperlänge im Jahre 2000 in cm + Anzahl der Generationen von 2000 – 3000, also 40, mal 3,8 cm. Damit sind wir bei 175 cm + 40 ∙ 3,8 cm = 327 cm (das sind „großzügig“ nach oben aufgerundet 4 Meter).
Die wirkliche „Frechheit“ ist, dass Sie aus einer kurzen Beobachtungsperiode (bzw. nur aus deren Eckpunkten), bei der mit Sicherheit kein lineares Wachstum der Körperlänge vorlag, auf eine viel längere Schätzzeit linear extrapolieren.
Überprüfen Sie sich selbst, inwieweit Sie den „Betrug“ bereits am Anfang bemerkt haben und erinnern Sie sich ggf. an dieses „Beispiel“, wenn Sie in den Medien bzw. im Beruf mit Behauptungen konfrontiert werden, bei denen die Annahmen nicht korrekt erläutert wurden und die demzufolge statistisch „wackelig“ begründet werden. Ganz allgemein gilt jedenfalls, dass (lineare) Extrapolationen auf die Zukunft mit großer Vorsicht zu genießen sind.
1.2 Werte und Werteorientierung
Wenn von Werteorientierung gesprochen wird, denken die meisten von uns vermutlich an christliche Familienwerte oder an die Außenpolitik. Im Unterschied zur Familie oder zum Unternehmen muss es auf staatlicher bzw. supranationaler Ebene ein unerreichbares Ziel bleiben, nur mit solchen Staaten bzw. deren Vertretern zusammenzuarbeiten, die unsere „Werte“ teilen (die direkt auf die ca. 1700 – also in historischen Dimensionen gar nicht so lange zurückliegende – beginnende Aufklärung zurückgehen). Diese Aussage gilt natürlich spiegelbildlich für Vertreter von Staaten, die ein anderes Gesellschaftskonzept als der (noch teilweise) liberale Westen verfolgen und die sich auf internationaler Ebene mit eben dessen Vertretern auseinandersetzen müssen. Verhandlungspartner kann man sich im privaten oder beruflichen Bereich jedenfalls immer noch deutlich besser aussuchen als im interstaatlichen Bereich, ob es in (s)ein Wertekorsett passt oder nicht.
Arbeitsdefinition: Unter Werten verstehen wir hier diejenigen Vorstellungen, die in einer Gesellschaft allgemein als wünschenswert anerkannt sind und die den Menschen Orientierung verleihen.
Man unterscheidet soziale, religiöse, politische, ästhetische, materielle und moralische Werte. Der Begriff Wertewandel stellt im Wesentlichen darauf ab, dass Werte nicht statischer Natur sind, sondern dass sie sich mit der Zeit in der Gesellschaft ändern. In den vergangenen Jahrzehnten hat es in den entwickelten westlichen Gesellschaften einen Trend zur Individualisierung gegeben mit der Folge, dass Selbstverwirklichung und Kommunikation gegenüber materiellem Vermögen an Bedeutung gewonnen haben.
Verantwortungsethik vs. Gesinnungsethik
EthikEthik ist die Lehre von den Normen menschlichen Handelns. Die Ethik befasst sich somit mit der Begründung der moralischen Regeln. Keine Ethik kommt an der Tatsache vorbei, dass zur Erreichung „guter“ Zwecke mitunter sittlich bedenkliche bzw. gefährliche Mittel mit der Folge von „Nebenwirkungen“ eingesetzt werden müssen.
Ethisch orientiertes Handeln kann grundsätzlich unter zwei prinzipiell gegensätzlichen Maximen stehen. Es kann gesinnungsethisch oder verantwortungsethisch sein. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man unter einer gesinnungsethischen Maxime handelt, in der „die Welt“ für „das Übel“ verantwortlich ist, oder unter der verantwortungsethischen, dass man in persona bzw. als Institution für die Folgen seines Handeln verantwortlich ist (vgl. insbesondere Max Webers „Politik als Beruf“ sowie Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“).
Gesinnungsethik geht oft – wenn auch nicht immer – mit tiefem religiösen Glauben oder pseudo-religiösen Weltbildern wie im Kommunismus einher.
Tatsächlich werden diese „Reinformen“ von EthikEthik nie unverfälscht durch Personen in Politik und Wirtschaft gelebt (mal ganz abgesehen von den Entscheidern, denen ethische Maximen ebenso egal sind wie einem Teil der von ihnen „Regierten“).
In der neueren Vergangenheit sind in der „großen Politik“ neben dem Inder Mahatma Gandhi und dem allseits bekannten Häftling, späteren Präsidenten und schließlich der Identifikationsfigur Südafrikas Nelson Mandela als Gesinnungsethiker der ehemalige chilenische Präsident Salvador Allende zu nennen. Allende zog es 1973 während des Putsches von General Augusto Pinochet vor, zu sterben, als von seinen Überzeugungen und den von ihm (auch selbst) erwarteten Handlungen abzurücken. Der Putsch in Chile im Jahre 1973 ist ein Lehrstück in internationaler (Wirtschafts-)Politik, über das es sich bezüglich des Verhaltens der damaligen Großmächte USA und Sowjetunion als auch der beiden Deutschlands zu bilden lohnt.
Langfristig wenig erfolgreich als „Gesinnungsethiker“ war Zar Alexander II., der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland die Leibeigenschaft abschaffte und damit das Ende des russischen Zarenreichs innerhalb von weniger als 60 Jahren einläutete. Hier passt das Bonmot „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“.
Obwohl dies sehr vereinfacht, wurde und wird der 2015 verstorbene ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, oft mit Verweis auf Karl Popper und Max Weber, die er vor, während und nach seiner Bundeskanzlerschaft vielfach zitierte, als der klassische Verantwortungsethiker dargestellt. Legendär sind Helmut Schmidts publizierte Reflexionen zum Kampf Rote Armee Fraktion (RAF) gegen den (west-)deutschen Staat und die Reaktion des deutschen Staats, vertreten durch Helmut Schmidt.
Eines der lesenswertesten Bücher zum Thema Ethik und Politik sind die „Selbstbetrachtungen“ von Marc Aurel, der vor mehr als 1800 Jahren nicht nur ein großer Philosoph war, sondern hautberuflich lange Zeit unter schwierigsten Bedingungen (Stichworte Antoninische Pest1 und Einfälle von Germanenstämmen) fast zwanzig Jahre lang als römischer Kaiser recht erfolgreich ein Großreich regierte.
Lassen Sie uns hier einen Schritt zurückgehen. Der durch seine dreibändige Keynes–Biografie bekannt gewordene englische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky führt diesbezüglich aus: „Mit der Überzeugung, gut und schlecht würden intuitiv erkannt, waren Keynes und [sein Lehrer] Moore Erben einer philosophischen und religiösen Tradition, die immer mehr an Boden verlor. Heute haben Gesellschaften Gepflogenheiten, aber keine Ethik. Die Gepflogenheiten sagen uns, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir etwas tun, aber nicht, ob das, was wir tun, auch wert ist getan zu werden. […] Die liberale Gesellschaft ist im Wesentlichen eine Prozess- und Transaktionsgesellschaft. Ihre Werte sind zweitrangige Werte, die der Regelung von politischen und sozialen Beziehungen dienen, damit Konflikte zwischen konkurrierenden Wertvorstellungen, Religionen und ethnischen Zugehörigkeiten möglichst vermieden werden. Vieles davon fällt unter das Etikett TugendethikEthik [Hervorhebung von mir], aber ausgeklammert bleibt die Frage. Wozu dient das Leben?“[10]
Die simple GegenüberstellungMarktwirtschaftsoziale von MarktwirtschaftMarktwirtschaft vs. Planwirtschaft (beide Idealformen gibt es praktisch nirgendwo auf der Welt) oder DemokratieDemokratie vs. Diktatur (die es so beide ebenso nicht in Reinform gibt), weiter simplifiziert in „gut“ und „schlecht“, bringen uns hier nicht weiter.
Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland erinnert definitorisch übrigens nicht mal entfernt, und dies ist keine Wertung, an eine idealtypische Lehrbuchmarktwirtschaft. Denken Sie hierbei z.B. an den Länderfinanzausgleich, den Mindestlohn, Krankenkassen- und Rentenzuschüsse aus Steuermitteln, HartzIV-Arbeitslosengeld u.v.m. (siehe auch Kapitel 8).
Während China (richtigerweise) Staatskapitalismus bescheinigt wird, ist unser Reflexionsniveau bezüglich Deutschlands oder der USAUSA sprachlich und gedanklich seltsam beschränkt. Wie wir in den folgenden Abschnitten, nicht nur denen zu den Sozialversicherungen und den Finanzmärkten, sehen werden, ist es schlicht eine Frage der Perspektive, ob wir die modernen westlichen Volkswirtschaften als Staatswirtschaften mit privatwirtschaftlichen Merkmalen bezeichnen oder umgekehrt.
Die bereits erwähnte Ökonomin Mariana Mazzucato zeigt z.B. in ihrem Buch „Das Kapital des Staates“, dass Wertschöpfung auch und gerade in den USA vom StaatStaat ausgeht. Das Raumfahrtprogramm, die Rüstung, BiotechnologieBiotechnologie, Internet, GPS u.v.m. wurden durch die Bereitstellung von Infrastrukturen der Grundlagenforschung, öffentliche Subventionen und eine diskrete Steuerpolitik vom US-Staat initiiert.
Echte unabdingbare konstituierende Merkmale einer Marktwirtschaft gibt es jedenfalls wenige. Weder sind private Finanzinstutionen zwingend noch das Privateigentum an Wohneigentum, das es z.B. im „Musterkapitalismusland“ Singapur praktisch nicht gibt.2 Argumentationen werden üblicherweise darauf aufgebaut, dass Demokratie und Marktwirtschaft einander bedingen und dass Staaten, die auf demokratischen Prinzipien beruhen, Distanz zu Märkten haben. Das ist pauschal weder in Deutschland noch in den USA noch sonst irgendwo der Fall (vgl. Kapitel 6 und den Exkurs zu Kapitel 14).
Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass nicht nur die Außen- und Menschenrechtspolitik wertegetrieben ist, sondern dass dies ebenso für die Wirtschaftspolitik gilt. Es lohnt in diesem Zusammenhang, sich genauestens zu überlegen bzw. klarzumachen, worauf wir hinsichtlich unseres Gesellschaftsmodells stolz sind (es gibt zahlreiche positive Antworten) und was DemokratieDemokratie ferner tatsächlich bedeutet.
Aufgabe zur Selbstreflexion:
Versuchen Sie, die für Sie fünf wichtigsten „Güter“ einer Gesellschaft im allgemeineren volkswirtschaftlichen Sinne zu benennen (z.B. Eigenschaften, die mit Demokratie zusammenhängen, oder Demokratie ganz allgemein, öffentliche Sicherheit, Funktionsfähigkeit des Rechtssystems, Öffnungszeiten der Supermärkte, Qualität der Fußballnationalmannschaft usw.) und ihre subjektiven Wahrnehmungen auf einer diskreten Fünferskala von „trifft ganz zu“ bis „trifft überhaupt nicht“ auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, China und die USA (auch wenn Sie nicht alle diese Länder selbst besucht haben) anzuwenden und ermitteln Sie nachfolgend die Summen der absoluten Abstände. Das Ergebnis wird Sie vermutlich überraschen!
In dem großartigen Buch des englischen Wissenschaftshistorikers Peter Watson „Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne“ merkt Watson als Kommentar zur Entstehung der altgriechischen Demokratien an: „Aber wenigstens verdeutlicht es, dass das, was wir im 21. Jahrhundert als Demokratie ansehen, in Wahrheit eine Wahloligarchie ist.“[11] Diese Aussage, über die es sich nachzudenken lohnt, bezieht sich nicht auf Russland oder China, sondern auf „unsere“ westlichen Demokratien. Noch besser sollte es der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter gewusst haben, als er 2015 – vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten! – festhielt: „Jetzt ist [das politische System der USA] nur noch eine Oligarchie, in der unbegrenzte politische Bestechung das Wesen der Nominierung zum Präsidenten oder der Wahl zum Präsidenten ausmacht. Und das Gleiche gilt für die Gouverneure, US-Senatoren und Kongressabgeordneten. Jetzt haben wir gerade eine Subversion unseres politischen Systems erlebt, als Lohn für Großspender, die Gefälligkeiten für sich selbst wollen, erwarten und manchmal auch bekommen, nachdem die Wahl vorbei ist.“[12]
Wir – jeder von uns – haben per se die Angewohnheit, Wertungen zu treffen, ohne die Voraussetzungen zu hinterfragen. Interessante Ausführungen dazu und vieles mehr finden Sie im gut lesbaren Buch des einzigen Nichtökonomen, der bisher den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten hat: in Daniel Kahnemans „Schnelles Denken, langsames Denken“. Sehr verkürzt und salopper, frei nach dem englischen Philosophen John Locke ausgedrückt: Die wahren Verrückten sind diejenigen, die auf den falschen Voraussetzungen basierend die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Im davor liegenden Bereich der WirtschaftstheorieWirtschaftstheorie sind es die Konstrukte des homo oeconomicus, der Rationalität, des Wettbewerbs und der Regulierung, die in der vorherrschenden volkswirtschaftlichen Lehrbuchliteratur zumeist quasi-axiomatischen Charakter besitzen (die Forschung ist hier zum Teil allerdings schon deutlich weiter).
Die klassische Lehrbuchargumentation steht nicht nur im Widerspruch zu dem, was Sie täglich wirtschaftlich erleben. Ein intellektueller Vordenker der sogenannten Libertaristen, Peter Thiel, wird unter anderem derart zitiert: „Kreative MonopolMonopole ermöglichen neue Produkte, von denen alle profitieren. WettbewerbWettbewerb bedeutet keinen Profit, für niemanden.“ Weiter: Monopole haben „einen schlechten Ruf“ jedoch nur, „weil Wettbewerb eine Ideologie ist.“[13]
Literaturtipp:
Zur qualitativ gleichen Schlussfolgerung, wenngleich auf anderen Wegen, kommt der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger. Ausgangspunkt von Binswangers Überlegungen ist die Beobachtung, dass der Preismechanismus für (eine gewisse) Effizienz sorgt, wenn Markt und Wettbewerb zusammenfallen. Markt und Wettbewerb sind aber verschiedene Dinge, die sich keinesfalls bedingen. So gibt es im Sport zumeist Wettbewerb, aber keinen Markt und Kartelle oder Monopole kontrollieren einen Markt, auf dem kein Wettbewerb herrscht. In seinem Buch „Sinnlose Wettbewerbe: Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“ aus dem Jahre 2010 legt Binswanger dar, dass gerade Kennzahlensysteme, die im Hochschulbereich und im Gesundheitswesen angewendet werden, zumeist das Gegenteil dessen bewirken, was sie tatsächlich bewirken sollen. Indem hoch qualifizierte Ärzte und Universitätsprofessoren permanent nachweisen müssen, dass sie erfolgreich tätig sind, werden sie nicht nur Teil einer BürokratieBürokratie, sondern sie haben vor allem weniger Zeit für ihre eigentliche Kerntätigkeit zur Verfügung. Aus der Tatsache, dass Teilaspekte von Qualität messbar sind, folgt nicht, dass Qualität als Ganzes messbar ist! Um zu entscheiden, ob etwas insgesamt gut ist oder nicht, gibt es zumeist nur ein „Gefühl“ (vgl. wiederum Erkenntnisse des altchinesischen Philosophen Menzius, auf die in Kapitel 13 kurz Bezug genommen wird).
Binswanger verweist darauf, dass Albert Einstein heute nie mehr Professor hätte werden können (wie zahlreiche andere Geistesriesen in der Mathematik und Physik ebenso nicht): Er zeigt, dass der permanenten Kontrolltätigkeit bzw. der Kennziffernverwendung ein bedenkliches Menschenbild zugrunde liegt, das vereinfacht besagt, dass Menschen nur auf Zuckerbrot und Peitsche reagieren. Aus der Tatsache, dass vielleicht 5% oder 10% der Richter, Ärzte oder Lehrer faul sind, werden die verbleibenden 90% oder 95% von ihrer Organisation mit einem „mechanisierten Misstrauen“ konfrontiert, das oft die Freude an der Arbeit verdirbt. Intrinsische Motivation oder Freude kommt in diesem System nicht vor. Ohne Freude an der Arbeit sinkt aber die Qualität geistiger Arbeit.
Letztlich wird mit Verweis auf Kennzahlensysteme versucht, persönliche Verantwortung zu reduzieren, da Entscheidungen, so falsch sie ex post gewesen waren, (pseudo-)objektiv begründet wurden. Gerade im Gesundheitssystem wurden Ziel (Menschen gesund machen) und Nebenbedingung (die Kosten dafür dürfen nicht aus dem Ruder laufen) bisweilen ins Groteske vertauscht. Karitative Dinge wie Blutspenden wurden durch bezahlte Blutspenden ersetzt, welche insgesamt durch eine schlechtere Blutqualität als zuvor charakterisiert waren usw., usw.
Es ist eine Folge der unveränderlichen Grundprinzipien der Ökonomie, dass Industrien bzw. Produkte, die durch hohe Fixkosten (die zumeist und dann zum größten Teil Sunk CostsSunk Costs sind) und niedrige variable Kosten charakterisiert sind, zur Bildung von temporären Monopolen tendieren müssen. Dies kann u.a. hervorragend in den ersten beiden Kapiteln des vor mehr als 20 Jahren erschienen Buches „Information Rules“ von Hal Varian und Carl Shapiro nachgelesen werden.
Eine Konsequenz dieser technologischen Entwicklung ist, dass einzelne Unternehmen finanziell und intellektuell (!) derart mächtig geworden sind, dass es selbst größeren Staaten schwerfällt, mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln. Ende 2021 betrug die Marktkapitalisierung des auf 40 Werte erweiterten DAX’ ca. 2.000 Mrd. Euro und damit nicht einmal die Marktkapitalisierung von Apple oder Microsoft. Zudem machten diese beiden Unternehmen mit Amazon, Google und Facebook im wichtigsten US-Börsenindex S&P 500 ca. ein Viertel der gesamten US-Marktkapitalisierung aus.[14]