Herausforderungen der Wirtschaftspolitik

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Mehr geistige Vielfalt! Mehr Streit!

Die Gesellschaft, also wir alle und am besten jeder selbst zuerst, wird kluge Gedanken brauchen, um zu erkennen, wie zukünftig die Wertschöpfung der Gesellschaft und die Verteilung des Wohlstandes beschaffen sein sollten.10

Damit verbunden sein werden Forderungen von Zwangsenteignungen Superreicher (was auch immer superreich bedeutet), der Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (von dem Dutzende sich stark unterscheidende Versionen kursieren) und hoffentlich davor eine in Breite und Tiefe qualifizierte Diskussion, die sich zentralen Fragen unseres Gemeinwesens widmet. Dazu werden die Rolle des Staates und damit verbunden die von der am University College London tätigen Ökonomin Mariana Mazzucato wieder gestellte alte Frage „Wie kommt der Wert in die Welt?“11 gehören müssen.

Hier ist zu hoffen, dass wir in Zukunft mehr geistige Vielfalt und echte konstruktive Diskussion erleben werden. Aus den Universitäten, nicht nur in Deutschland, kam hier in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig Nützliches oder gar Innovatives. Dies ist leicht erklärbar, da junge Nachwuchswissenschaftler für „Außenseitertheorien“ keine Fachzeitschriften zur Publikation finden, i.a. keine externen Finanzmittel (Drittmittel) erschließen und damit auch keine Karriere machen (mehr dazu in Kapitel 4).

Das für den Verfasser dieses Textes schlagendste Argument für die Behauptung, dass sich die Ökonomie, die bei aller Mathematisierung eine Sozialwissenschaft ist, aktuell in keinem guten Zustand befindet, ist empirisch begründet: Sowohl in Chicago als auch in Frankfurt, Riga, Ulaan Bator und Shanghai sind die verbindlichen Lehrwerke der Volkswirtschaftlehre zumeist die beiden (guten!) Bücher „Macroeconomics“ und „Economics“ von Gregory Mankiw. Mit anderen Worten: Von Chigaco über Frankfurt nach Shanghai werden die Studenten der Volkswirtschaftslehre auf eine fast identische – und damit notwendigerweise beschränkte – Art und Weise ausgebildet bzw. geprägt.

Tatsächlich traf der Ausbruch der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 und ihr anfänglicher Verlauf die weltweite Community der Volkswirte völlig unvorbereitet: Weder wurde die Finanzkrise von namhaften Experten vorhergesagt noch waren Notfallpläne verfügbar; die Politik – in Deutschland die Bundesregierung mit Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück – musste sich allein „durchkämpfen“. Nicht überraschend hat dies die Wertschätzung der Volkswirtschaftlehre nicht nur bei Kanzlerin Angela Merkel nachhaltig geprägt.

Einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung zur akademischen „Monokultur“ – zu Problemen mit Monokulturen informieren Sie sich dort, wo sie herkommen: aus der Landwirtschaft – haben die großen amerikanischen Lehrbuchverlage, die ihre Ableger in allen hinreichend großen Märkten von Deutschland bis China haben. Hochschullehrer erhalten Freiexemplare von Büchern (von denen natürlich erwartet wird, dass sie den Studenten empfohlen werden) und dazu werden – für den Hochschullehrer natürlich kostenfrei – zusätzliche Materialien wie Powerpointpräsentationen, Übungsaufgaben mit Lösungen und didaktische Hinweise gestellt. Dies ist übrigens keine Klage oder gar eine Anklage der Verlage. Deren Geschäftsmodell funktioniert nur, weil es an den Universitäten genug Leute gibt, die sich gern bei ihrer Arbeit „helfen“ lassen. Wie es zu dieser „Monokultur“ kommen konnte und warum u.a. die Encyclopaedia Britannica und der Brockhaus praktisch verschwunden sind, wird in den Kapiteln 4 und 11 mit Verweis auf die elementaren Prinzipien der Kostentheorie erörtert.

In den vergangenen Jahrzehnten ist auf fast allen Ebenen der westlichen Gesellschaften die Fähigkeit zum konstruktiven Streit weitgehend verloren gegangen. Zudem geriet die Methode der Dialektik (hier im Sinne des Lösens von Gegensätzen im Denken) fast völlig in Vergessenheit.

Wir müssen somit auch noch verstehen lernen, dass Wissen nicht nur geschaffen wird, sondern dass es auch verloren geht.12 Dass genau dies nicht flächendeckend geschieht, ist Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenwissenschaften, wollen sie eine Existenzberechtigung bewahren.

Eine echte Diskussion muss schlussendlich nicht mit einer „Einheitsmeinung“ enden: Zwei der ganz Großen der ökonomischen Zunft, John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek, vertraten zeitlebens unterschiedliche ökonomische Theorien und damit auch Gesellschaftskonzepte; beide wollten jedoch den Kapitalismus nach der schweren Depression ab 1929 „retten“ und beide begegneten sich zumeist mit Respekt. Sie unterschieden sich, wenn man dem britisch-amerikanischen Ökonomen Roger E. Farmer, folgt, weniger als gemeinhin behauptet: Farmers Antwort auf die Frage Keynes oder Hayek? lautet Keynes und Hayek!13

Zudem hat die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen im Westen in den vergangenen Jahrzehnten auf allen Ebenen rapide abgenommen. Niall Ferguson, einer der renommiertesten lebenden westlichen Historiker, sieht darin einen wesentlichen Grund für die im Titel seines im Jahr 2012 veröffentlichten Buches „Der Niedergang des Westens“ ausgedrückte These. Dies betrifft Eltern, die die Schulen als verantwortlich an allem ihren Nachwuchs betreffenden Übel sehen, Manager, die hohe Gehälter und Abfindungen kassieren, aber für Fehlentwicklungen in ihren Unternehmen nicht zuständig sind, u.v.m. Auf die deutsche Bundespolitik übertragen bedeutet das, dass „unangenehme“ Entscheidungen über Jahrzehnte an das Bundesverfassungsgericht und die Europäische Zentralbank „abgeschoben“ wurden.

Zentrale Thesen

John Maynard Keynes, dem wir in diesem Buch noch des Öfteren begegnen werden, wird das Bonmot „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie?“ zugeschrieben. In dem Ihnen vorliegenden Buch wird die zentrale These verfochten, dass notwendige Voraussetzungen für eine insgesamt hohe gesellschaftliche „Lebensqualität“ in einer komplexen Gesellschaft, die auf einem hohen Grad an Arbeitsteilung beruht, eine hohe allgemeine Bildung der Bevölkerung, nicht zu große Ungleichheit in Vermögen und Einkommen und die Fähigkeit, Fehler nicht nur zu erkennen, sondern zu korrigieren, sind. Hier können und müssen wir in Zukunft mehr von anderen Ländern lernen, und das betrifft nicht nur Dänemark oder die Schweiz, sondern ebenso China mit seinem konkurrierenden Gesellschaftsmodell. Verkomplizierend kommt heute hinzu, dass es auf Grund der fortgeschrittenen Spezialisierung in jedem Teilfachgebiet nur wenige echte Experten gibt, die dann auch noch zum Teil deutlich unterschiedliche Gedanken und Empfehlungen entwickeln. Denken Sie hier z.B. an die beiden Professoren der Virologie Christian Drosten und Alexander Kekulé, die ab Februar 2020 mehrere Monate lang quasi omnipräsent in deutschen Talkshows und Broadcasts waren und die zwar oft, aber nicht immer zu den gleichen Schlussfolgerungen bzw. Interpretationen kamen. Stellen Sie sich dann vor, in der Situation der Bundeskanzlerin oder des Gesundheitsministers zu sein, und rasch Entscheidungen treffen zu müssen. Folgen Sie Professor Kekulé oder Professor Drosten? Oder gar dem Chefepidemiologen der schwedischen Gesundheitsbehörde Anders Tegnell, der eine qualitativ andere, offenere Strategie zur Bewältigung der Corona-Krise empfahl? Ausführungen zu den beiden fundamentalen Fehlern, das Falsche zu tun oder das Richtige nicht zu tun, finden Sie im Exkurs zu Kapitel 2 und in Kapitel 8.

Stellen Sie sich nun unabhängig von der Corona-Krise vor, Sie wären Mitglied des Deutschen Bundestages und sollten sich (rasch!) eine Meinung zum Atomausstieg, zur Gentechnologie, zur NSA-Problematik, zum Grexit und/oder Brexit, zu den Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien oder den zukünftigen Beziehungen zu Russland bilden und danach mit Ja oder Nein über von der Regierung vorgeschlagene Entwürfe abstimmen. Ihre Meinung wird dann anschließend in ein Votum übersetzt, welches wiederum Auswirkungen auf die Geschicke Deutschlands, der EU und (vermutlich auch mindestens kurzfristig) auf Ihr eigenes berufliches Fortkommen nehmen kann.

Das Beste, was Ihnen (bzw. dem Staat) in dieser fiktiven Situation passieren kann, sind hoch qualifizierte loyale Berater oder Staatsangestellte (die natürlich auch Fehler machen können), auf die Sie sich verlassen können. Völlig unabhängige Berater gibt es natürlich nicht, aber das gut bezahlte und geachtete Berufsbeamtentum ist sicherlich eine „vernünftige“ Art und Weise, Berater und Administratoren, die „nicht zu abhängig sind“, an einen Staat und damit an ein Gemeinwesen zu binden. Diese Aussagen können Sie übrigens bereits aus der Gedankenwelt des zweifellos einflussreichsten Philosophen der Menschheitsgeschichte ableiten, dem vor ca. 2500 Jahren lebenden Konfuzius. Wir werden Konfuzius nicht nur in Kapitel 13, das China gewidmet ist, wiederbegegnen.

Ein Plädoyer für das Studium der Wirtschaftsgeschichte

Aus der Mikroperspektive stellt sich die Betrachtung von Wendepunkten in der (Wirtschafts-)Geschichte äußerst schwierig dar. Während die Just-in-Time Produktion bereits in den 1970er Jahren von Toyota (als Toyota nur in Japan produzierte) eingeführt wurde, scheint mit dem Auftauchen von Computern, die leistungsfähig genug waren, um größere praktische Probleme zu lösen, in den 1980er Jahren eine echte technologische Wende eingeleitet worden zu sein. Hier begann also, lange vor dem inflationären Gebrauch des Wortes disruptiv, Quantität in Qualität umzuschlagen.

Mathematische Laien können kaum eine Vorstellung von der „Mächtigkeit“ vieler realer Probleme haben, die erst durch leistungsstarke Computer (zumeist leicht und auch noch schnell) lösbar geworden sind. So wurde Harry Markowitz für seine Arbeiten zur Portfolio Selection (auf deutsch in etwa optimale Kombination von risikobehafteten Anlagen) aus dem Jahre 1952 im Jahre 1990 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft geehrt. Bis zum Auftauchen entsprechender Rechentechnik war seine Arbeit weitgehend „nette Spielerei“, erst in den 1980er Jahre konnte sie praktisch angewandt bzw. umgesetzt und damit überprüft werden. Anfang der 2000er Jahre führte eine Arbeit zur Optimierung der Raum- und Stundenplanung an großen Gymnasien noch zu einem Doktorgrad der Wirtschaftswissenschaft an der FU Berlin. Eine Lösung dieses Problems sollte heute gut in einer Bachelorarbeit hergeleitet werden.

 

Nachdenken darüber, ob und inwieweit es Zusammenhänge zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion und damit des Ostblocks und der Technologierevolution, die bereits einige Jahre zuvor im Westen eingeleitet wurde und die Ende der 1980er Jahre rasant Fahrt aufnahm (Stichwort Moore’s Law14), kann nicht Gegenstand der hiesigen Erörterungen sein. Tatsache war aber, dass der Zugang zu Millionen neuen potenziellen Kunden und neuen natürlichen Ressourcen bei dem gleichzeitigen Technologiesprung der Rechenleistung für westliche Firmen zeitlich zusammenfielen. In diese Zeit fällt die sprunghafte Entwicklung weltweiter Lieferketten. (Vorhergehende erfolgreiche Versuche internationaler Arbeitsteilung im größeren Maßstab datieren wiederum auf die frühen 1970er Jahre, als Singapur, Hongkong und Taiwan billige Kleidung und Spielzeuge nach Nordamerika und Westeuropa zu exportieren begannen. Zu genau dieser Zeit kamen übrigens die ersten Containerschiffe in Gebrauch. Mehr dazu in Kapitel 6.)

Jedes (wirtschaftswissenschaftliche) Modell ist eine vereinfachte Darstellung der Realität, das im Allgemeinen entweder darauf zielt, Vergangenes zu erklären und/oder Zukünftiges (hinreichend gut) zu prognostieren. Wir werden die Entwicklung des Welthandels in Verbindung mit den Konzepten der Opportunitätskosten und der komparativen Vorteile in Kapitel 5 und im Exkurs zu Kapitel 8 mit Hilfe des Ricardo-Modells des internationalen Handels diskutieren, eines Modells, das uns, weil es so einfach ist, erlaubt, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Es wird uns bei der Gewinnung zahlreicher qualitativer Einsichten helfen; warum wir Schuhe tragen, die in Bangladesch gefertigt wurden, wie es zum Rust Belt in den USA gekommen ist und auch warum es in Osteuropa zur Zeit viel zu wenige Ärzte gibt. In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mit den vier Grundfreiheiten der EU, dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen beschäftigen müssen.

Über fünf Jahrzehnte war die Globalisierung, verstärkt durch den Eintritt Chinas in die Weltwirtschaft, der Treiber des Welthandels. „Billiglohnländer“ zogen Produktionsstätten an, und die Industrie verlagerte die Fertigung auf viele Standorte. Die arbeitsteilige Spezialisierung der Weltwirtschaft der vergangenen zwei Jahrzehnte basierte dabei wesentlich auf sogenannten komparativen Kostenvorteilen. Substanzielle Puffer waren in den Optimierungsmodellen nicht vorgesehen (wofür nicht die Mathematiker verantwortlich gemacht werden sollten). Tatsächlich haben wir nicht nur bezüglich der Arzneimittelherstellung – Ende Februar 2020 wurde z.B. bekannt, dass wesentliche Grundstoffe aus China und Indien nicht geliefert werden konnten – verstehen müssen, dass wir es mit der Just-in-Time-Methode und der Abschaffung kostenträchtiger Lager übertrieben haben. Das heißt ganz sicher nicht, dass wir zukünftig wieder Lager und Vorräte wie zu Großmutters Zeiten anlegen werden; ganz sicher aber werden die Produktionsmodelle in Zukunft mehr Wert auf Robustheit legen. Genau diese Schlussfolgerung – Stichwort Ausschaltung systemischer Risiken – wurde nach der vorherigen Krise auch auf das Weltfinanzsystem gezogen. Dass in der westlichen Welt einiges überreizt wurde und „dass es so nicht weiter gehen könne“, erkannte der Frontmann der US-amerikanischen Manager, J. P. Morgans CEO Jamie Dimon, übrigens bereits einige Jahre früher.15[1]

Den Blick nach vorn

Europas große Stärke und Schwäche zugleich im Vergleich zu den USA und China war und ist seine Heterogenität. Es wird vielerorts nicht nur eine unterschiedliche Rechtstradition gepflegt, in den großen europäischen Staaten Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien enstanden historisch sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Rolle des Staates in der Gesellschaft. Dezentralität oder Diversität kann im europäischen Kontext aber nur dann einen Vorzug darstellen, wenn es ein einigendes Band gibt. In weniger turbulenten Zeiten waren dies die europäischen Werte (mehr dazu gleich in Kapitel 1), die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität beruhten.

Auch wenn die öffentliche Debatte über die Zukunft der Europäischen Union und der Eurozone diese Konsequenz nur in wenigen Momenten anklingen lässt: Wir werden uns mittelfristig mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit entweder in einer (Teil-)Fiskalunion wiederfinden oder die Eurozone und mit ihr die Europäische Union wird an den existierenden und sich verstärkenden Fliehkräften zerbrechen. Spätestens diese Erkenntnis sollte uns dazu bewegen, ein deutlich verstärktes Interesse am Wohlergehen unserer Nachbarn im erweiterten Sinne zu entwickeln. Schadenfreude jeder Art (oft die süd- und südosteuropäischen Länder betreffend) ist hier nicht nur unangebracht, sondern frei nach Frankreichs legendärem Polizeiminister Joseph Fouché schlimmer als ein Verbrechen, sondern ein Fehler. Denken Sie an John Donnes Gedicht.

Tatsächlich lässt insbesondere der Mangel an Solidarität lange vor der Corona-Krise langfristig wenig Gutes für die EU ahnen. In den vergangenen Jahren haben hochrangige EU-Beamte China – mit triftigen Gründen – als systemischen Rivalen bezeichnet, der oft unfair konkurriere und der versuche, den europäischen Integrationsprozess durch den Einsatz von „Trojanischen Pferden“ zu untergraben. Tatsache ist, dass China über die Belt and Road Initiative (BRI) und das 17 + 1 Format in Brüssel (im Unterschied zu Russland) indirekt mit am Tisch sitzt, Tatsache ist aber auch, dass sowohl Italien als auch der EU-Aspirant Serbien ihre erste substanzielle Hilfe bei Seuchenausbruch aus China und danach aus Russland und nicht von einem ihrer europäischen Partner erhielten. Als die europäischen Partner begannen, Hilfe zu organisieren, war die Frage der Macht der Bilder bereits beantwortet. Dies ist gerade deshalb erwähnenswert, weil die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland bis zur Corona-Krise als langfristig positiv stabil galten.

In diesem Text werden Sie Verweise auf eine Vielzahl von Denkern finden, in zeitlicher Reihenfolge bei den Philosophen Lao-Tse, Konfuzius und Platon beginnend und über die Philosophen John Locke und Immanuel Kant hin zu Vertretern der Nationalökonomie (ein alter schöner Begriff für die Volkswirtschaftslehre) wie Karl Marx, John Maynard Keynes, Milton Friedman, Walter Eucken, Nicholas Georgescu-Roegen und weiter zu zeitgenössischen Denkern aus verschiedensten Wissensgebieten wie Robert Skidelsky und Daniel Kahneman (Ökonomie und Psychologie), Peter Watson (Wissenschaftsgeschichte), Christopher Clark, Ian Morris, David Landes und Noah Yuval Harari (Geschichte), Hans Christoph und Mathias Binswanger, Hans-Werner Sinn, Thomas Straubhaar und Peter Bofinger (Ökonomie und Politikberatung), Hal Varian (Ökonom und Google-Vorstand), Joseph Stiglitz (Ökonom und Regierungsberater), Boris Palmer (Politiker), Dirk Müller (Unternehmer und Publizist), John Hattie (Bildungsforscher) und Paul Collier (Migrationsforscher) kommend. Verbindend bei allen zitierten Denkern ist der Wille, eine Gesamtschau von Mensch und Gesellschaft zu entwickeln. Wenn Ihnen ein oder mehrere Autoren dieser unvollständigen Referenzliste unpassend bzw. „anstößig“ erscheinen, sollten Sie sich vor Augen halten, dass man nur seriös bewerten darf, was man selbst gelesen hat.

Wie wir sofort sehen, befinden wir uns hier in einem kaum auflösbaren Dilemma. Wissenschaftliche Sitte ist der Verweis auf Originalquellen: Tatsächlich habe ich nur sehr wenige ernstzunehmende Wissenschaftler in meinem Berufsleben kennengelernt, die mit Aussicht auf Glaubwürdigkeit behauptet haben, alle zitierten Referenzen auch nur eines einzigen Artikels, den sie geschrieben hatten, vollständig im Original gelesen zu haben. Kaum überraschend haben also nur sehr wenige „normale“ Menschen sowohl Zeit als auch Nerven, sich durch alle oder auch nur wenige zitierte Originaltexte „zu kämpfen“. Der Gebrauch von Sekundärquellen basiert also in mehrerlei Hinsicht auf Vertrauen: Hat der Autor überhaupt verstanden, was er gelesen hat (vorausgesetzt, er bezieht sich nicht auf noch jemand anderes, der das Originalwerk angeblich gelesen hat), zitiert er richtig und nicht aus dem Zusammenhang gerissen, usw.16

Fundamentale Ausführungen und Fragen, in welcher Art von Welt wir zukünftig leben wollen, sind sowohl technischer als auch ethischer Art (siehe Kapitel 10 zur Digitalisierung). Auf den ersten Blick jedenfalls scheinen autoritäre Staaten wie gerade China besser in der Lage zu sein, z.B. auf Seuchen zu reagieren. Wenn Freiheit im Sinne einer „goldenen Regel“ dadurch charakterisiert ist, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet, dann bedarf es bei uns im Westen zur Bekämpfung von Krisen aller Couleur grundsätzlich nicht mehr als die Durchsetzung entsprechender Gesetze und Anordnungen, die entweder bereits existieren oder die rasch verfasst werden können. Je „unvernünftiger“ die Menschen sind, umso mehr werden sie aber das Autoritäre in den westlichen Gesellschaften befördern.

Prognosen in den Sozialwissenschaften haben im Gegensatz zu den Naturwissenschaften die Eigenschaft, dass sie Einfluss auf das Verhalten der Menschen und Institutionen haben. Wenn eine Gefahr also erkannt bzw. eine Entwicklung prognostiziert ist, kann etwas dagegen getan werden. Wünschen wir uns also viele schlechte Vorhersagen, die nicht eintreten werden, weil wir sie nicht eintreten lassen.

Diskutiert wurde im Sommer 2020, dass der „Corona-Schock“ eine Entwicklung hin zu einem bipolaren Macht- und Weltwirtschaftssystem mit den USA und China als Blockanführer beschleunigt. Hier sollten bei uns alle Alarmglocken läuten. Die Europäische Union ist trotz des Austritts Großbritanniens Anfang 2021 mit ca. 450 Millionen Menschen einer der reichsten Teile der Welt und es ist nicht wirklich einsehbar, warum wir zukünftig Anhängsel der USA oder Chinas werden sollten. Wie schon der Brexit die verbleibenden Staaten der EU zusammenrücken ließ, ist zu hoffen, dass der USA-China-Konflikt den gleichen Effekt haben wird. Dies und der Bestand der EU sind fraglos keine Selbstläufer, sowohl die USA als auch China sammeln ihre Truppenteile.

Wir werden uns also nach den besten Monaten für die Umwelt seit gefühlten Ewigkeiten wieder mit Fragen der Klimakrise (die besser als Umweltkrise bezeichnet werden sollte) und der Energiewende, der Bildungs-, Einkommens- und Verteilungsgerechtigkeit und der individuellen Freiheitsrechte sowie der zukünftigen Beschaffenheit der Europäischen Union beschäftigen müssen. Fragen, inwieweit das Bruttoinlandsprodukt und a priori mit ihm verbundene Wachstumsraten ein vernünftiges Maß für die wirtschaftliche Prosperität darstellen, werden nachdrücklicher gestellt werden müssen. Wir werden uns also fragen müssen, ob unser Lebens- und Arbeitsstil, auf allen Ebenen, angemessen ist. Der Staat bzw. seine Wirtschaftspolitik kann und muss hier meiner Überzeugung nach entscheidende Anreize zur Steuerung von individuellem „vernünftigen“ Verhalten liefern.

Krisen bringen immer auch Krisenbewältiger hervor; sie sind das Elixier für außergewöhnliche Lokalpolitiker (denken Sie z.B. an Helmut Schmidts Reaktionen auf die Hamburger Sturmflut im Jahre 1962) und lokal verwurzelte Unternehmer. Wie wäre es hier zum Beispiel mit Oskar Schindler (dem aus „Schindlers Liste“)?

Wir werden, überall auf der Welt, Menschen sehen, die Verantwortung übernehmen und von deren Existenz vorher zumeist nichts oder wenig bekannt war. In einer echten Krise kann man nicht bluffen. Nehmen Sie Ihr Leben also, soweit Ihnen dies gegeben ist, in die eigenen Hände und übernehmen Sie Verantwortung für sich und andere.

Wo Menschen sind, kann es keine absolute Objektivität und Neutralität geben. Ich habe mich, soweit es mir möglich war, bemüht, neutral zu beschreiben und zu berichten und damit grob dem aus dem Rechtsstudium bekannten Gutachterstil zu genügen. Jedem der 15 Hauptkapitel habe ich aber einen Exkurs angefügt, in dem ich diese Strenge teilweise aufgegeben habe, da ich der Überzeugung bin, dass ein brauchbares Buch über Wirtschaftspolitik eine emotionale Komponente haben muss.

Ich würde mich, obwohl ich seit mehr als zwei Jahrzehnten als Wirtschaftswissenschaftler arbeite, immer noch als „ökonomisch bewanderten Mathematiker“ bezeichnen. Eine formale Ausbildung ist in der modernen Volkswirtschaftslehre nicht unbedingt von Nachteil: Im Laufe meines Lebens bin ich aber, wie viele Menschen vor und sehr sicher auch nach mir, zu der Überzeugung gelangt, dass die aktuelle Ökonomie „übermathematisiert“ ist; dass aber andererseits die Rolle von Mathematik und Statistik als Hilfsmittel zum Verständnis der Gesellschaft unzureichend entwickelt sind. Ein Vorteil eines Seiteneinsteigers ist, dass sein Blick kritischer und auch klarer sein mag. Ohne den Kapitalisten Friedrich Engels hätte es kein Kommunistisches Manifest gegegeben und dem Anfang September 2020 jung verstorbenen Anthropologen David Graeber verdanken wir wesentliche Erkenntnisse zur Rolle des Geldes und der Schulden in der Geschichte der Zivilisationen.

 

Ich bin weder studierter Philopsoph noch Historiker, sondern schreibe hier auch über Dinge, von denen ich „nicht zertifiziert“ etwas zu verstehen glaube. Da alles mit allem zusammenhängt, bräuchten wir vermutlich Dutzende Autoren für einen Text wie diesen, um formale Angriffe auszuschließen. Das Buch könnte dann immer noch lausig sein! Es fällt mir somit leicht, zuzugestehen, dass alle Fehler, die dieses Buch beinhaltet, mir allein zuzurechnen sind.