Lattenschuss

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Lattenschuss
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Das Runde und das Eckige. Lebensbestimmende Formen.

Vielleicht die Wesentlichsten.

Dirk K. Zimmermann

Lattenschuss

Kicker auf der Couch

Roman

Autor: Dirk K. Zimmermann

Originalausgabe September 2015

Covermotiv: © Dirk Zimmermann

Umschlaggestaltung: 211entertainment

Die Handlung des Romans ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Impressum

© 2015 Dirk K. Zimmermann

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-7375-3355-3

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1

Die Pille. Die Kirsche. Das Ei. Das Ding. Das Leder. Der Ball ist rund. Das Spiel dauert neunzig Minuten. Elf Freunde müsst ihr sein. Geht raus, spielt Fußball. Flach spielen, hoch gewinnen. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Plattitüden. Treffen das Thema doch nur am Rande. Das war alles viel komplizierter. Das sollte ich entdecken.

Ich habe mich eigentlich nie sonderlich für Leibesübungen interessiert. Bockspringen. Ringe. Reck. Am Seil zur Hallendecke hinaufklettern. Barren. Weitsprung. Fünfzig-Meter-Lauf, Hundert-Meter-Lauf. Dauerlauf. Öde! – Wie sagte Nachbar Koller noch, als wir auf der Straße ein Schwätzchen hielten und zwei Jogger schweißüberströmt an uns vorbeiliefen? – „Die stressen sich wieder.“ Koller war ein ehemaliger Kneipenwirt, sollte man vielleicht wissen. Sport war schon für ihn okay. Einarmiges Reißen. Damit meinte er das Führen eines Bierglases zum Mund. Augensprint. Bedeutet, im Bezahlfernsehen Fußball gucken. Zungen-akrobatik. Fachsimpeln. Aber eben keinen Stress, sondern Genuss.

Soweit ich weiß, sind in seiner Gaststätte Zur Eiche nur zwei Stammgäste an einem Herzinfarkt gestorben. Vom Stuhl gesackt. So mir nichts, dir nichts. Koller wollte den plötzlichen Herztod von keinem der beiden auf ein mitreißendes Fußballerlebnis zurückführen. Obwohl beim ersten, einem SC-Fan, der Sensenmann kurz nach einem Mittwochabend-Spiel vorbeikam und der Herr sich aufregte, weil die 4:1-Niederlage durch zwei unberechtigte Rote Karten gegen seine Mannschaft hervorgerufen worden sei; der zweite, ein FC-Fan, am Sonntagnachmittag das Zeitliche segnete, beim siebten Frust-Pils und Doppelkorn, kurz nachdem der FC mit 4:0 von der Sportvereinigung deklassiert worden war. Der Herztod-Gast hatte nur eineinhalb Stunden zuvor noch auf der Tribüne gestanden, die Fäuste dem Schiedsrichter wutentbrannt mit hochrotem Kopf entgegenreckend. Drei Strafstöße gegen den FC. Allesamt selbstverständlich Fehlentscheidungen. Da ist man auf hundertachtzig. Und dann ... Herzkasper!

Ludus. Das Spiel. Meiner Meinung nach wird es immer dann besonders interessant, wenn Sport gleich Spiel ist, und ein Ball dabei im Zentrum der Aktion steht. – Die Arena. Die Zuschauer. Die Gladiatoren zum Wettkampf bereit.

Ich war mal ein kleiner Gladiator gewesen. Ich hatte in der C-Jugend mit dem Fußballspiel begonnen. Als Verteidiger. Warum wird man Verteidiger? Weil der Trainer einem nur zutraut, das Spiel zu zerstören. Zumindest mein Trainer dachte so.

In der B-Jugend und in der A-Jugend war ich dann Mittelfeldspieler. Nicht die Nummer zehn. Die Nummer acht. Zentrale Schaltstelle. Früher bedeutete das was. Die Nummer. Heute ist das ja egal, ist alles ein Nummernsalat geworden. Aber früher wusstest du, die zehn, das ist der Spielmacher. Ich war Kreismeister mit den A-Junioren. Das war ganz nett gewesen. Die Mädchen aus der Nachbarschaft oder welche, die man von der Schule her kannte, kamen manchmal zum Spiel und guckten zu wie wir tricksten und kämpften. Mehr kämpften. „Man muss über den Kampf zum Spiel finden“, sagte unser Trainer immer. „Tugenden entdecken.“ Es fiel mir schwer an Tugenden zu glauben, wenn ich die Schienbeine beim Pressschlag bersten hörte. „Du darfst nicht zurückziehen“, hieß es im Training. „Wer zurückzieht, der verletzt sich!“ – Dann das nächste Spiel. Kurz vor der Halbzeit. Der Ball tickte nach einem weiten Abschlag des Torhüters auf, sank gen Erdboden, der gegnerische Verteidiger und unser Stürmer preschten heran, zielten, zogen das Schussbein mit voller Wucht durch, der eine traf den Ball, der andere den Ball auch, aber ein ganz kleines bisschen später als sein Kontrahent. Der zu spät gekommene Fuß rutschte über die Kugel hinauf zum Schienbein des Gegenspielers und – Knack! Paralysierte Schmerzensschreie. Trage. Rettungswagen. Chöre von den Rängen: Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen.

Brot und Spiele.

Ich habe mit achtzehn Jahren aufgehört Fußball zu spielen. Bin aus dem Verein ausgetreten. In eine andere Stadt gezogen. Habe mich für andere Dinge interessiert. Bin nur ab und zu mal ins Stadion gegangen. Mit Freunden. Currywurst essen. Ein Bier trinken. Das Gekicke anschauen. Mitfiebern. Meistens Stehplatz. Manchmal Sitzplatz. Fußball ist ja auch die schönste Nebensache der Welt, sagt man.

Sie wurde allerdings zur Hauptsache. Einige Jahre später. Nach meiner Zeit an der Universität. 1990. Ich hatte mein Psychologiestudium erfolgreich absolviert und eine Praxis im Sauerland eröffnet. In einem kleinen Ort, Vierthal, dreißigtausend Einwohner, direkt an der Lenne gelegen. Es praktizierten dort: Drei Zahnärzte, zwei Gynäkologen, drei Allgemeinmediziner, ein Chirurg, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, ein Augenarzt. Und ab sofort ein Psychologe, meine Wenigkeit, mit Namen Albert Wallmann, Anfang dreißig. Meine Praxis war mickrig. Ein Vorraum, ein Gesprächsraum, ausgestattet mit einem Tisch, zwei Stühlen und zwei Sesseln, einer alten abgewetzten Ledercouch.

Man kann sich denken, ein zugezogener Seelenklempner und die robusten Sauerländer. Wer soll da schon in die Praxis kommen? Zappelige Kinder. Vielleicht. Irgendwann mal. Der Anton mit dem Augentick. Den man in der Stadt den Blinzler nannte. Bei ihm hatte alles Pointe. Auf dem Markt sagte er der Obstverkäuferin die Äpfel seien aber schön knackig und kniff dabei ein Auge. Weil seine Nerven es so wollten. Daraufhin bekam er direkt eine geschallert.

Anton war mein Klient. Hinzu kamen Rosel mit dem Putzfimmel und Wilfried mit dem Waschzwang. Das war’s. Nach gängigen wirtschaftlichen Kalkülen macht einem die Werbebranche ja vor, wie es gehen muss, wenn eine Dienst-leistung nicht sonderlich nachgefragt wird. Man muss Interesse und Begehrlichkeiten dafür wecken. War ich leider nicht der Typ dazu. Aber ich bemerkte, dass es in der Stadt unheimlich viele Brillenträger gab und wusste durch ein Pläuschchen beim Metzger, als ich mir mittags ein Fleischwurstbrötchen einverleibte, dass die Stadt, besser gesagt, die Bevölkerung von Vierthal, ein beinahe pandemisches Problem mit der Angina tonsillaris – also der Mandelentzündung – hatte, welches dazu führte, dass der ansässige Hals-Nasen-Ohren-Arzt im Eilverfahren Mandeln entfernte und gerade erst nach seiner frisch gekauften nagelneuen Mercedes-Limousine auch noch die Villa Ulmenhain sein Eigentum nennen durfte. Man muss die Gunst der Stunde nutzen. Diese Quintessenz schien mir Vierthal zuzurufen.

Mein Einstand als Psychologe stand im Jahr 1990, dem Jahr in dem Deutschland Fußball-Weltmeister wurde – Sie entsinnen sich, unser Andi Brehme verwandelte im Endspiel gegen Argentinien sicher den entscheidenden Elfmeter zum 1:0 – unter einem schlechten Stern. Als Pionier fernab neurotischer Urbanität schien ich bereits im Ansatz zu scheitern. Ich wusste nicht, wie ich die Miete zahlen sollte, hatte meine Mutter angerufen und sie zum wiederholten Male anzupumpen versucht, diesmal erfolglos, ich sei enterbt, mit diesem herzlosen Satz beendete sie das Telefongespräch, als Detlef Dudel in meine Praxis kam.

Ich kannte ihn von Fotos aus dem Lokalblättchen. Detlef, Trainer von Rot-Weiß. Spitzname: Der Schleifer. Von den Unabsteigbaren. Kreisliga C. Tiefer ging es nicht mehr, denn danach kam nur noch vom Spielbetrieb abmelden.

Detlef trug Kutte, also Trainingsanzug. Sein kantiges Haupt zierte ein extrem kurzer Bürstenschnitt am Oberkopf, hinten reichte ihm das dunkelbraune Haar hinab bis auf die Schultern. Er war ein Typ Marke Pitbull. Kleiner, fester Bierbauch. Eisblaue Augen. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig. Detlef war nervös, begrüßte mich hastig, setzte sich mit einem Rumms. „Herr Wallmann, dass ich hier bin, ist mit Eins-V-S abgesprochen. Eigentlich komm’ ich, weil Eins-V-S es so will. Na ja, klar, ich will es auch, sonst wäre ich ja nicht hier.“

Er holte, ohne meine Reaktion abzuwarten, einen braunen DIN-A-5 großen Umschlag aus der Trainingsjacke und legte ihn vor mir auf den Tisch.

„Herr Dudel ...“

„Detlef, sagen Sie ruhig Detlef, oder auch Schleifer. Sagen sie ja alle.“

„Gut ... Detlef. Was möchten Sie mit mir besprechen?“

Detlef schielte an mir vorbei auf die Zimmerwand, auf das Acrylgemälde des tosenden Niagara-Falls.

„Wir, also, das hat unser Erster Vorsitzender auch gemeint, wir wollen diese Saison angreifen. Wir wollen nicht, dass alles immer den Bach runtergeht ...“

„Ich soll Ihre Mannschaft psychologisch betreuen? In der kommenden Saison ...“

Detlef schnaufte, als ob er einen mehrere Kilometer langen Knie-Hebel-Lauf hinter sich gebracht hatte.

 

„Jawoll. Es geht bald wieder los, wir haben schon den neuen Spielplan, und, weil unsere Jungs, ich mein’ die Jungs vom Kaiser Franz, ich mein’, weil wir Weltmeister sind, da wissen wir ja jetzt mehr als je zuvor, dass der Traum wahr werden kann.“

Ich runzelte die Stirn. „Sie wollen Meister werden ...“

„Jawoll.“

„Wie waren denn die Platzierungen in den letzten drei Jahren?“

„Nicht so besonders“, druckste Detlef herum.

Ich schaute ihn auffordernd an.

„Letzter, Drittletzter, Vorletzter.“

„Man darf träumen. Aber ...“

Detlef beugte sich vor, legte die geballten Fäuste auf den Tisch. „Der Kaiser sagt auch, Fußball wird im Kopf entschieden. Meine Jungs, die können alle Fußball spielen. Mindestens so gut wie die anderen Mannschaften, die sich ganz oben in der Tabelle tummeln werden ...“

„Dennoch ...“, wollte ich widersprechen.

„In der Birne, da hapert’s. Und deswegen bin ich ja auch hier. Ich brauche Ihre Hilfe.“

Er löste eine Faust und schob mit seinen wulstigen Fingern den Umschlag näher zu mir hin.

„Wir haben gesammelt. Unter den Spielern, den Mitgliedern, der Rudi, unser neuer Sponsor, hat was springen lassen, sogar der Pastor hat reingebuttert. Das muss aber unter uns bleiben. Sonst heißt es nachher, die Kirchensteuer wird verschleudert. Ehrenwort?“

Ich nickte mechanisch. „Sie möchten ein Fußball-Wunder wahr machen?“

„Der Glaube kann Berge versetzen, sagt der Pastor immer, aber bis jetzt hat sich kein Hügel auch nur einen Millimeter bewegt. Die meisten Leute halten Sie für einen Quacksalber, aber der Anton hält große Stücke auf Sie.“

„Der Anton ...“

„Ja, der Anton hat ’ne Dauerkarte bei uns.“

Ich schaute auf den Umschlag.

„Was ist da drin?“

„Fotos vom Team, Namen der Spieler, der Spielplan. Geld. Fünfundzwanzigtausend in bar. Wir haben uns erkundigt, was so eine Therapiestunde kostet. Wir sind neunzehn. Wir hoffen, dass es für die Saison reicht. Mehr Kröten haben wir nicht.“

Er blickte mich an wie ein Dackel, der zum Jäger aufschaut um dem Hasen hinterherjagen zu dürfen.

„Haben Sie neue Spieler eingekauft?“

Detlef sah mich durchdringend an, grinste. „Wir haben uns informiert. Sie waren mal Fußballer. Aber das ist wohl schon zu lange her.“

„Wieso?“

„Wir können keine großen Transfersummen bezahlen, die drei neuen Spieler sind sozusagen ablösefrei zu uns gekommen. Stopp. Einer hat was gekostet. Zwei Kästen Bier.“

Ich lächelte. Er lächelte.

„Also gut“, sagte ich. „Probieren wir es. Aber bedenken Sie bitte, ich kann nicht zaubern!“

Detlef atmete auf. Tausende Tonnen der Last schienen von seinen Schultern zu fallen.

„Herr Wallmann, danke, Hammer, einfach genial. Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Angst ich vor unserem Gespräch hatte. Das war schlimmer als jeder Truppeneinsatz im Gefechtsgraben.“

Ich horchte auf. „Bundeswehr?“

Detlef nickte. „Berufssoldat, Hemer, zehn Jahre. Jetzt bin ich Postbote. Bezirk Ost.“

Ich zog den Wust Papier aus dem Umschlag, trennte die Fotos und weißen Blätter mit handschriftlichen Notizen (feinsäuberlich festgehalten waren darauf neben dem Spielplan die Abschlusstabelle und die kompletten Spielergebnisse der Vorsaison) von den Geldscheinen. Ich öffnete die Schreibtischschublade, nahm den Quittungsblock heraus, zählte das Geld, füllte einen Beleg aus und übergab ihn an Detlef Dudel. Detlefs Gesichtsausdruck wechselte von hochjauchzend auf zu Tode betrübt.

„Wann kann ich die erste Therapiestunde bekommen?“

„Sie?“, fragte ich ungläubig.

„Ich. Ich erreiche doch meine Mannschaft nicht mehr. Was ich sage, das wird nicht umgesetzt.“

„Hm ...“, brummte ich. „Ich schaue mir erst die Mannschaft mal an, ich meine die Fotos und so.“

„Das Training startet nächste Woche“, sagte Detlef.

„Kommen Sie übermorgen. Am frühen Abend. Gegen sieben“, erwiderte ich.

Detlef war einverstanden.

Während er hinausging, sah ich die weiße gefilzte Schrift auf seiner roten Trainingsjacke. Rot-Weiß, wie lieb ich dich.

Ich brachte das Geld zur Bank. Aß zu Mittag eine Gulaschsuppe mit Brötchen beim Metzger und nahm mir dann die Fotos vor. Wer waren die neunzehn Menschen, die es stark zu reden galt? Die Halt brauchten in den Schlachten um das runde Leder.

Bei den Bildern handelte es sich um Portraits. Auf der Rückseite standen Alter, Name und Spielposition sowie die Telefonnummer zu jeder Person. Manchmal auch der Beruf. Ich hätte mir einen detaillierten Steckbrief gewünscht, aber es war zumindest ein Anfang.

So ging ich die Ablichtungen durch. Die erste Bekanntschaft mit meinen Schützlingen. Ich kann das noch so genau nachvollziehen, weil ich jüngst die Notizbücher der Sitzungen auf dem Dachboden gefunden habe und dabei auf die eingeklebten Fotos und meine handschriftlichen Anmerkungen stieß. Ich bin der Ansicht, dass meine aus der Erinnerung gespeiste Schilderung dieser Saison 90/91 nur unzureichend den inneren Wirrwarr und Tumult der Spieler wiedergeben würde. Deshalb werde ich im Folgenden die Notizen aus der jeweils ersten Sitzung, oder, falls die Gespräche auf Tonband mitgeschnitten und transkribiert wurden, diese hier wiedergeben. Denn sie sind das Dokument dessen, was den Fußball, die beteiligten Frauen und Männer, diese wunderbare Sache des Spiels, die Hintergründe, das Essentielle, wirklich beschreibt. Und nicht nur aus dem Gedächtnisprotokoll: Anpfiff. Halbzeit. Schluss ist, wenn der Schiedsrichter pfeift. Abpfiff. Und dazwischen: Abstoß, Freistoß, Tor, Anstoß, Ecke, Tor, Foul, Gelbe Karte, Rote Karte, Auswechslung, Seitenwechsel, Elfmeter, Tor, Ballgeschiebe. Gerenne. Ansturm rechts. Ansturm links. Pfiffe, Buhrufe, Jubel, Geschimpfe und Gezeter. Siegestaumel. Oder was auch immer in der Art. Fußlümmelei und die Reaktionen darauf halt.

Und so lautete der Rot-Weiß-Kader für diese mit immensen Hoffnungen verbundene Spielzeit 90/91, vor der die deutsche Fußballnationalmannschaft im Sommer weltmeisterlich großen emotionalen Auftrieb im ganzen Land verbreitete:

Wie bekannt, Detlef Dudel, 42 Jahre, Trainer, Postbote. Spitzname: Der Schleifer. Dann Physiotherapeut und Zeugwart Otto, 52 Jahre, Akkordausbeiner, genannt „Pille“. Torhüter Kalle, 28 Jahre, genannt „Die Hand“; Markus, auch „Macke“, 29 Jahre, Abwehr und defensives Mittelfeld (zur Not); Pommes-Uli, Verteidiger, 24 Jahre, Schlosser; „Kiste“ Malte, 22 Jahre, KFZ-Mechaniker, Stürmer; Armin, 26 Jahre, genannt Blondie, Abwehrspieler, Friseur; Wolfgang, 32 Jahre, Spitzname: die Schnecke, Libero; Uwe, 20 Jahre, „die Klette“, Waldarbeiter, Verteidiger; Jochen, 29 Jahre, Spitzname: „Horny“, Mittelfeld; „Bomber“ David, landläufig „Mister Busch“, 24 Jahre, Stürmer, Tankstellenwart; Ali, Mittelfeld, 21 Jahre, Elektriker; Tino „aus dem Osten“, Mittelfeld, 30 Jahre, Fernmeldetechniker; Oliver, auch „Knaller“ genannt, 25 Jahre, kaufmännischer Angestellter im elterlichen Entsorgungsbetrieb Schluss und Weg damit!, Stürmer; Heinz, 27 Jahre, genannt „Der Stinker“, Abwehr, Ersatzspieler; „Reserve-Charly“, eigentlich Karl, EDV-Analyst, Abwehr und Mittelfeld, 31 Jahre; Dennis, 21 Jahre, Student der Wirtschaftswissenschaften, Mittelfeld; Birte, 23 Jahre, „das Törtchen“, Abwehr, Bäckerin; „Rakete“ Mario, 26 Jahre, Gabelstaplerfahrer, auch „Turbo“ genannt, Angriff. Er kam für zwei Kisten Pils vom TuS. Läuft die hundert Meter in elf Komma eins Sekunden. Ohne Ball.

Das waren sie also, die neunzehn Menschen, die das Rot-Weiß-Team ausmachten. Die gewillt waren, am Ende der Saison ganz oben in der Kreisliga-C-Tabelle zu stehen. Um es vorwegzunehmen: Ich bin niemals auf dem Sportplatz gewesen. Bei keinem einzigen Spiel. Keine Kabinen-, Bank- oder Seitenliniencoachings. Ich habe alle neunzehn Teammitglieder ausschließlich in meiner Praxis empfangen und beraten. Die wenigsten von ihnen saßen mir frontal auf dem Stuhl gegenüber, so wie es beim Erstgespräch mit Detlef Dudel der Fall gewesen war. Die meisten lagen auf der Couch, während ich mit ihnen sprach.

Wie diese ersten Sitzungen verliefen, habe ich recht präzise festgehalten. Machen Sie sich also selbst ein Bild.

2

Vor Saisonbeginn. Vor dem Trainingsauftakt.

Erste Sitzung mit Spielerin Birte, 23 Jahre, Bäckerin, Verteidigerin.

„Hallo, das ist aber eine Überraschung ...“

„Der Detlef hat gesagt, er hat heute Abend seine erste Sitzung mit Ihnen und ich hab’ nachgedacht und ich bin der Meinung, es ist besser, wenn ich zuerst mit Ihnen rede.“

„Warum?“

„Ich bin eine Frau und die Burschen aus der Mannschaft, die haben nicht so große Antennen. Ich meine, gefühlsmäßig. Und weil ich die Erdbeertörtchen fertig hatte und nicht mehr hinter die Theke muss, bin ich schnell rüber zu Ihnen. Ich hoffe Sie haben Zeit ...“

„Hab’ ich. Nehmen Sie doch bitte Platz.“

„Cool, danke. Können wir nicht du sagen? Sie gehören doch jetzt zu Rot-Weiß dazu!“

„Gern. Albert.“

„Ich bin Birte. Nicht Zuckerschneckchen. Nicht Törtchen oder Knackarsch. Einfach Birte.“

„Wer sagt denn so was?“

„Na die Jungs aus dem Kader. Nicht die Neuen, aber die anderen. Da krieg ich ’nen Hals. So eine Krawatte.“

„Die nehmen dich nicht ernst ...“

„Ganz genau, besonders der Horny, der Jochen. Dabei hat der nur Angst um seinen Posten als Läufer. Der Schlappschwanz. Was der an Pensum bringt, pack’ ich allemal.“

„Entschuldige, Birte, dass ich so unverblümt frage, aber du

bist sehr gutaussehend, von der Figur zierlich würde ich beinahe sagen. Ich kenne mich nicht so aus, aber, wie kommt es, dass du in der Männermannschaft spielst.“

„Bei allem Respekt, Albert, aber Frauenfußball ist nicht. Nicht für mich. Dieses Weichspüler-Gebolze kann ich nicht ab. Ich hab ’ne Genehmigung, dass ich in der Herrenmannschaft mitmachen darf. Extra vom Vorstand losgetreten, weil, in mir steckt rot-weißes Blut. Mein Ur-Opa Friedrich hat schon für Rot-Weiß gespielt. Er war Mannschaftskapitän. Er ist Meister geworden. Meine Mutter hat die Kapitänsbinde und die Siegermedaille von ihm in ihrem Schlüpfer vor den Russen versteckt, als der Krieg aus war. Vielleicht auch vor den Amis und den Tommys. Und als Ur-Opa gestorben ist, hab’ ich die Binde bekommen. Das war sein letzter Wille. Ich hab’ Schweißbänder draus gemacht. Und ich trag’ die Dinger jeden Sonntag. Außerdem, wer sagt, dass Spielerinnen Wuchtbrummen sein müssen, die eine Visage zum Reinschlagen haben.“

„Du bist ja Abwehrspielerin. Wie oft kommst du zum Einsatz?“

„Bisher ist meine Spezialität rechts draußen. Bankhocken. Der Dudel bringt mich ja zum Verrecken nicht. Ich habe noch nie gespielt! Der Dudel bölkt durch die Gegend ohne Ende, führt sich dabei auf wie ein Feldmarschall, aber in Wirklichkeit hat der Eier aus Gummi. Das sag’ ich dir. – Ich spiel’ die anderen im Training auf ’m Bierdeckel schwindelig. Und? Nutzt nix. Chefchen sagt, Zweikampf, das ist nichts für mich. Die gehen auf die Knochen, dann greifen sie dir in den Schritt und an die Brüste. Oder verstehen die Anweisung ‚hautnah decken‘ falsch. Sollen sie mal. Werden sie schon sehen, was sie davon haben. Außerdem, meine Möpse sind mit ’nem Sport-BH weggesperrt. Das kannst du von Schneckes, Charlys und Heinz’ Biertitten nicht behaupten. Aber das zählt dann nicht, wenn ich denen das vor den Kopp knalle.“

„Den Frust kann ich verstehen, aber gibt es denn nicht noch viel mehr Hindernisse, so unter Männern?“

„Hindernisse? Du meinst den Pimmelchen beim Duschen begegnen? Okay, Bomber hat ’ne Fleischpeitsche, aber der Rest, das ist doch Hausmannskost, so zwischen Gewürzgurke und Minisalami. Und ich hab’ vier Brüder. Die glauben, ich wäre nichts gewohnt. Wir sind doch ein Team! Und da geht das doch wohl nicht, dass die Typen wegen mir, solange ich mich abbrause, die Hosen anbehalten. Ich mein’, die anderen verbiegen sich. Und das Ende vom Lied: Ich dusche alleine, weil ich blank ziehe und dann kommt der ganze andere Rest. – Ich find’, die machen ein Aufsehen für nichts.“

„Was muss sich denn deiner Meinung nach noch ändern?“

„Oh, ’ne ganze Menge! – Manche sind viel zu eitel, die wollen Schaulaufen machen. Schönwetterfußballer. Grätschen nicht, wegen der Asche, die ihnen den Hintern aufreißt. Manche kleben sich echt mit Pflaster die Brustwarzen ab, bevor sie das Trikot anziehen. Weil sie sonst wundgescheuert sind. Kein Wunder, dass der Trainer ausrastet. – Und dann, ich mach’ keinen Kopfball! Dudel brüllt mich immer an, du Nulpe, mach’ hier nicht auf Barbie. Ran an den Ball mit dem Kappeskopp.“

 

„Warum köpfst du denn nicht?“

„Eklig. Es reicht der Dreck am Ball, der Stirnschweiß von den anderen Köppen. Aber unser Keeper, der Kalle, der ist echt ein Ferkel. Der spuckt auf seine Handschuhe. Macht griffiger, sagt er. Dann hält er die Pille und wirft sie ab. Und bei der nächsten Flanke hab’ ich die Rotze von dem Kalle an der Stirn kleben. Ohne mich. Außerdem, wo ich schon dabei bin, ich bin nicht für alles zu haben. Schweißgeruch, Knofi, das kann ich gut ab. Die Jungs müssen ja auch ertragen, wenn ich nach Mocca-Buttercreme oder Kokosnusstorte rieche. Aber bei den penetranten Mentholdämpfen von der Sportlersalbe, den stinkenden Abflüssen, dem andauernden Muskelkater und Dudels bekloppten Trainingsbesprechungen krieg’ ich einfach die Pimpernellen.“

„Trainiert er zu hart? Sind die Besprechungsergebnisse nicht klar formuliert?“

„Ich sag mal so. Sauerland – Powerland. Kennst du die Hymne nicht? Detlef, der hat noch nicht kapiert, was Trainersein eigentlich bedeutet. Er ist ein herrischer Platzanweiser, wenn du mich fragst. Mehr nicht. Hab’ ich ihm schon gesagt, aber er hört nicht drauf. Machst du nix. Ich hab’ ihm das schon oft gesagt, ehe wir auf Tournee gehen, du musst da dran was ändern, aber macht er nicht. Nützt nix, was willst du machen. Ein Beispiel: Er sagt, wir müssen fit werden, in Form sein. Fitti, Fitti schreit er übern Platz und dann geht’s los. Warmmachen, unterm Geländer durchkriechen, übers Geländer springen. Sprinten, Dauerlauf, Steigerungslauf. Mit Bleiwesten, mit Medizinbällen. Liegestütze, Bockspringen. Entenlauf. Wieder Ehestandsbewegungen. Übungen mit dem Ball: Passen, Dribbeln, Flanken, Torschuss. Null Abwechslung. Das ist was für Bananenbieger. Und dann immer mit Schmackes, nur immer mit Wumms. So ein Vollpfosten, bei allem Respekt. Der Littbarski oder der Häßler, die sind ungefähr so groß wie ich und wiegen auch nicht viel mehr. Kuck mal, wie die mit dem Ball umgehen. Die streicheln den Ball, die lupfen. Das ist toll. Der Ball muss sich wohlfühlen, dann kommt er auch an und geht am Ende rein. Außerdem: Wir sind nicht nur die Hannesse vom Schinder. Wir brauchen auch hin und wieder ’ne Pause, wollen auch mal Spaß inne Backen haben. Was kommt dann vom Boss? Na gut. Veranstalten wir einen Kinoabend mit Grillen. Eigentlich nicht schlecht, die Idee. Aber was macht er draus? Er verlangt, dass wir mit ihm Pump ab das Bier grölen und zur Filmauswahl stellt er Rocky und Stirb langsam. Der Dudel schiebt ’nen Affen auf Bruce Willis. Dabei lief auch Pretty Woman. Richard Gere ist aber auch der Bringer. Nicht nur der Bruce Willis. Hab’ ich Dudel gesagt. Hab’ ihm von Ein Offizier und Gentleman erzählt. Wollte er nichts von hören. Machst du nichts. Alles in allem: Null Entertainment. Das Training ist kacke. Und die Jungs haben auch keinen Bock auf so ein Gestrieze. Aber das kommt im Oberstübchen von dem Dudel nicht an. Die Kollegen sagen auch nichts. Ich glaub’, das kommt, weil sie Männer sind. Hätte ich nicht eine angeborene Rot-Weiß-Leidenschaft, dann könnte er mich mal kreuzweise. – So, das ist mal das. Und dann muss das mit den Beleidigungen aufhören, diesem Machogehabe. Wie die untereinander sprechen, das ist doch nicht zum Aushalten. Na, du Sackratte. Was meinst du? Fiedeln wir heute den Hampelmännern von der Fortuna die Bude voll? Oder sagt Macke zu Wolfgang: Wieso bist du eigentlich so dick, du fette Qualle? Sagt der, immer, wenn ich auf deiner Alten herumgeturnt habe, gibt’s danach ein halbes Schwein auf Toast. So ein Gequake. Einige sagen statt Törtchen oder Zuckerschneckchen zu mir Seestern. So können sie ihre Olle nennen. Ein hirnloses Vieh, was erlauben die sich eigentlich. Aber wie hab’ ich gekontert? Ich hab’ denen einen Schienbeinquetscher vom Feinsten verpasst. Keinen Muck haben die gemacht. So was wird ja totgeschwiegen, weil, Dudel sagt, über Schmerzen spricht man nicht. Die steht man durch. Wasch- und Jammerlappen spielen woanders. Nicht bei uns. Stimmt. Die Jungs von anderen Vereinen haben ja auch nichts zu jammern. Die stehen ja auch nicht ganz unten. Ist aber ganz gut so mit dem Schweigen. Männer sind ja so leidend, wenn sie was haben, dann sind die wie kleine Kinder. Im Winter spielen die mit Handschuhen. Aus Angorawolle. Mit Strumpfhosen unter der Buchse. Und dann? Schnüpfchen. Halsweh. Hüsterchen. Die Lazarettis können einem ganz schön auf ’n Sack gehen. – Und, was ich noch vergessen hab’: Die Trainingsbesprechungen. Dudel sagt da jedes Mal: Wir wollen gewinnen, immer, auch wenn wir die Schlechteren sind. Ich glaub’, es geht in seinen Appel nicht rein, dass er in unseren Gehirnwindungen nicht festsetzt, dass wir gewinnen wollen, sondern, dass wir es einfach nicht draufhaben. Er glaubt, er wär’ von Genialität umweht. Die Methode ist genau die Richtige. Keinen Blassen hat der, wenn du mich fragst. Tschuldigung, aber das regt mich total auf. Und dann, oh, wenn ich nur dran denke, bringt mich das auf hundertachtzig, er sagt immer, elf Freunde müsst ihr sein. Wir sind aber neunzehn Leute. Was ist also mit den anderen acht? Die sind Luft? Gehören nicht dazu. Sind zu Huschi-Buschi im Kopf, um zu den elf Freunden zu gehören. Lass dir gesagt sein, es wäre besser gewesen, wir hätten uns den Club der toten Dichter angesehen, statt Stirb langsam. Und zur Taktik kann ich nur eines sagen: Die Jungs sind wie kurzsichtige Dribbelakrobaten. Die wollen den Ball ins Tor tragen. Distanzschüsse. Gibt es nicht! Kann Chefchen sagen sooft er will, schießt doch mal aus der zweiten Reihe. Das geht ein Ohr rein, anderes Ohr wieder raus.

So und jetzt? Wenn wir durch sind, zisch’ ich gleich auf jeden Fall mal zwei Bierchen und dann hau’ ich mich in die Falle.

Anmerkung: Fortlaufende Termine für Birte einrichten!

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?

Weitere Bücher von diesem Autor