Bevor die Welle bricht

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Bevor die Welle bricht

Dirk Harms

Buchbeschreibung:

DDR,Ostseeküste, Siebziger Jahre. Wer oder was setzte den unbequemen Ex-Matrosen und Leuchtturmwärter Toralf so unter Druck, dass er schließlich konspirative Treffen auf dem Turm zuließ? Lag es daran, dass er die schnell abgeschlossenen und zum Teil vertuschten Ermittlungen nach dem dramatischen und rätselhaften Untergang des Tankers BÖHLEN anzweifelte? Als Freund und Kollege von Hans Kowalski, einem der Vermissten, hegt er die Vermutung, dass sein Freund noch lebt und weckt so in dessen Hinterbliebenen erneut Hoffnungen und Schmerz.

Vor dem Hintergrund des Schiffsunglückes im Oktober 1976 vor Westfrankreich, bei dem der DDR-Tanker sank, liefert das Buch einen Einblick in das politisch stark geprägte Leben der einfachen Leute jener Zeit.

Über den Autor:

Dirk Harms, Jahrgang 1965, bloggt und schreibt seit frühester Schulzeit Gedichte, Kurzgeschichten und arbeitete u.a. zwischenzeitlich als Lokalredakteur bei einem Online-Nachrichtenmagazin und einer Tageszeitung.

Bevor die Welle bricht

Dirk Harms

1. Auflage, 2019

© 2019 Dirk Harms – alle Rechte vorbehalten.

Dirk Harms

Tychsenstr.6

18059 Rostock

autordirkharms@web.de

https://verstival.wordpress.com

Bevor die Welle bricht
Ein Roman von Dirk Harms

Dirk Harms

Tychsenstr.6

18059 Rostock

Telefon:

E-Mail: autordirkharms@web.de

01

An diesem Morgen fand die Dämmerung nahezu kein Ende. Es war, als habe sich die Nacht mit einer dicken Wolkendecke zugedeckt und sich so aufs Bleiben eingerichtet. Weit im Osten, am äußersten Zipfel des Himmels, lugte das erste Blau vorsichtig über den Horizont. Lars Schubert sah es und schloss das Schlafzimmerfenster wieder. Die kühle Morgenluft würde ihm guttun, wenn er sich gleich auf den Weg zu seiner neuen Arbeitsstelle begab. Erst langsam kam er zu sich, weswegen er sich wieder aufs Bett setzte und mit dem Gedanken spielte, einen Augenblick stillen Daliegens zu genießen. Die Zeit aber drängte, wollte er nicht gleich mit Unpünktlichkeit in sein Berufsleben starten. Gähnend erhob er sich und sah sich um. Sein Blick fiel auf Lisa. Die Art, wie sie dalag und schlief, ließ ihn lächeln. Ja, sie würden nun glücklich werden. Auf einmal wusste er es genau.

Gestern waren sie zusammen hier angekommen. Damit erfüllte Lisas Mutter Ingeborg ihrer Tochter endlich die oft vorgetragene Bitte, in Vaters kleines Elternhaus einziehen zu dürfen. Er hatte ihr das malerisch gelegene Fischerhäuschen vererbt. Ihre Mutter wollte sie um keinen Preis ausziehen lassen, auch wenn sie noch Nesthäkchen Jonas zu versorgen hatte, Lisas kleinen Bruder. Allzu strikt und heftig fiel daher ihr Protest aus. Es war wieder eine der endlosen Debatten gewesen, wie Mutter und Tochter Kowalski sie ständig wegen dieses Themas geführt hatten - bis Lisa ihren festen Freund Lars Schubert eines Tages mit nach Hause gebracht hatte.

Ingeborg Kowalski sah langsam ein, dass sie die jungen Leute nicht aufhalten würde. Über kurz oder lang verlassen Kinder nun mal das Elternhaus. Vor zwei Tagen hatte sie schweren Herzens nachgegeben - immerhin stand dem netten jungen Mann an Lisas Seite eine Karriere als Finanzkaufmann im Kombinat Schiffbau bevor. Also sollten sie um Gotteswillen in das kleine Haus nach Dünow am Sundhaff ziehen, welches nur wenige Kilometer entfernt darauf wartete, wieder bewohnt zu werden.

Als Lars einige Minuten später in der Küche mit dem Teekessel Kaffeewasser aufbrühte, kam ihm das alles wieder in den Sinn. Ingeborg hatte ihn willkommen geheißen und schien ihn zu mögen, aber warum sollte sie deswegen ihr einziges Kind gehen lassen? Dann aber geschah etwas, mit dem er nicht rechnen konnte: Ingeborg Kowalski gab nach. Freudestrahlend überbrachte Lisa ihm die frohe Botschaft, und mit neu erwachtem Elan zogen sie binnen weniger Tage in das Haus am Sundhaff.

Halb vor Müdigkeit, halb in Gedanken versunken starrte Lars auf das dünne Fähnchen aus Wasserdampf, das aus dem Teekessel aufstieg. Der Deckel mit der Pfeife lag neben dem Herd. So wurde Lisa nicht unnötig gestört. Trotzdem erschien sie in der Tür und blinzelte ihn verschlafen an.

„Musst du schon los?“

„Ja, ich will nur noch einen Kaffee.“

„Ist doch noch dunkel, oder?“

Lars lächelte sie an. Sie sah zum Anbeißen aus. „Ich glaube, die Sonne hat heute einen Auslandstermin. Jemand aus dem Süden wird ihr ein gutes Angebot gemacht haben“, scherzte er.

Lisa grinste verlegen und winkte ab.

„Obwohl: Sie kann gar nicht am Himmel sein, wenn ich sie doch hier bei mir habe“, fuhr er fort und küsste sie auf die Stirn. Sie nannte ihn lächelnd einen Süßholzraspler. Daraufhin erklärte Lars gestikulierend und wortreich, wenn es schon nirgends Zucker zu kaufen gebe, dann müsse es eben Süßholz sein. Lisa, noch immer etwas müde, legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen. Er solle nicht so reden, oder das wenigstens niemanden hören lassen, flüsterte sie ihm lächelnd ins Ohr.

„Ist doch wahr“, verteidigte er sich und goss das heiße Wasser aus dem Teekessel in den Kaffeepott. „Gestern habe ich lange im Konsum angestanden und dann? Ausverkauft. Kein Zucker mehr. Ist das nicht bitter? Es ist doch bescheuert. Immer wird alles entweder exportiert, oder waggonweise nach Berlin gekarrt. Was solls: Dann trinke ich den Kaffee eben mit Süßstoff. Improvisieren hat unsereins ja inzwischen gelernt.“

Lisa küsste ihn auf die Wange. „Kein Zucker mehr – klar, dass du dann sauer warst.“ Er knuffte sie. „Sei nicht so doppeldeutig, Liebling. Das muss man ernst nehmen.“

„Viel Erfolg heute, Schatz. Ich hab noch Zeit und leg mich wieder hin“, entgegnete sie. „Für den nötigen Ernst fehlen mir noch mindestens zwei Liter Schlaf.“

„Wie wäre es stattdessen mit einem Liter Kaffee?“, versuchte Lars es noch einmal. Lisas Antwort war ein langes Gähnen, gefolgt von einem Kopfschütteln. Sie deutete ein Winken an und schickte sich an, die Küche zu verlassen.

Sein neidischer Blick blieb von ihr unbemerkt. Bald kann ich wieder ausschlafen, dachte Lars und schlürfte seinen Kaffee. Und Zucker werden wir auch zur Genüge haben. Er musste im Betrieb nur einen einwandfreien Start erwischen: Wenn er prima einschlug, würde er eine vernünftige berufliche Perspektive haben. Das Kadergespräch hatte ihn zuversichtlich gestimmt und seinen Ehrgeiz geweckt.

Ein Shiguli folgte Lars, als der vor das Haus trat und sich in Bewegung setzte. Das Fahrzeug hielt Abstand und fuhr im Schritttempo. Er bemerkte es nach einer Weile und sah sich um. Der Wagen bog mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße ein. Was sucht so ein Bonzenauto hier, dachte er eben noch, wunderte sich aber nich lange, zumal es dann plötzlich verschwand. Hatte er sich getäuscht, oder war das eben ein Berliner Kennzeichen gewesen? Er entschied sich, dem keinerlei Bedeutung beizumessen.

In diesem Moment kam sein Bus und hielt an der einhundert Meter entfernten Haltestelle, also nahm Lars die Beine in die Hand.

„Ein Erwachsener nach Strandfelde!“ Der Busfahrer kassierte ihn ab, händigte ihm den Fahrschein aus und stutzte plötzlich.

„Na? Hier kann man gut Urlaub machen, was?“

„Jaja, stimmt schon. Aber ich wohne hier.“

„Aha? Schon lange? Hab dich noch nie gesehen hier, Junge.“ Lars grinste. „Offiziell erst seit gestern. Bei Lisa – ähm, Frau Kowalski.“

Hier in Dünow an der Küste des Sundhaffs kannte und grüßte man sich, hatte Lisa ihm erzählt. Fremde und Neuankömmlinge blieben hier nicht lange unentdeckt. Nur deshalb hatte Lars es nicht bei einem flüchtigen Gruß bewenden lassen.

Der Busfahrer wurde einen Moment lang nachdenklich. „Tjaja, schlimme Sache das, mit dem Vater von ihr, war schon seltsam, damals. Wäre er nicht nach dem Unfall auf See ertrunken, man hätte meinen können, er sei in Brasilien geblieben. Von der Handelsflotte war ja niemand an der Rettungsaktion beteiligt, soweit ich mich erinnere.“

„Frankreich. Die BÖHLEN sank vor Frankreich letztes Jahr“, korrigierte Lars. Lisa trauerte noch immer um ihren Vater Hans, auch ihre Mutter kämpfte oft mit den Tränen, wenn das Thema zur Sprache kam. Umso mehr wusste Lars es zu schätzen, dass sie ihre Tochter nun gehen ließ. Beide hatten ihm immer wieder von der Havarie des Tankers auf hoher See erzählt.

 

Der Öltanker war auf dem Rückweg aus Venezuela vor der westfranzösischen Küste von der Fahrrinne abgekommen. Nachdem eine nächtliche Grundberührung dem Schiffsrumpf eine erhebliche Beschädigung zugefügt, der Kapitän die Fahrt aber dennoch fortgesetzt hatte, nahm die BÖHLEN Kurs zurück auf die offene See, weg von der nahegelegenen Küste. Schließlich war der schwer zu manövrierende Tanker leck geschlagen und am folgenden Tag gesunken. Presseberichten zufolge waren Hilfsangebote zumindest von einem französischen Schiff seitens der BÖHLEN unbeantwortet geblieben. Einerseits löste diese skandalöse Entscheidung Entsetzen und Fassungslosigkeit aus, andererseits lag die politische Argumentationsweise des Kapitäns und des geretteten ersten Offiziers zunächst auf der Hand: Keine Hilfe vom Klassenfeind! Ölteppich hin, Menschenleben her. Nebenbei spielte auch die Angst des Kapitäns vor Konsequenzen eine Rolle. Als endlich ein Hilfsangebot per Funk kam, bestand er darauf, kein Risiko zu übernehmen und stellte diesbezüglich unübliche finanzielle Bedingungen. Seine seltsamen Bestrebungen, das Risiko der Rettung nicht tragen zu müssen, verhinderten ein frühzeitiges Eingreifen letztlich. Erst nach dem Untergang des Tankers half die Besatzung jenes Schiffes, dem der Kapitän das Risiko aufhalsen wollte. Elf Offiziere konnten gerettet werden.

Außer ein diskretes Traueranschreiben mit verlogener Lobhudelei für den treu ergebenen Hans Kowalski, der für sozialistische Errungenschaften sein Leben heldenhaft einsetzte, gab es für die Kowalskis fortan keine Auskünfte und kein Lebenszeichen mehr.

Die Ermittlungen, wenn es denn welche gab, schienen unter allerhöchster Geheimhaltung vollzogen zu werden.

Ausschließlich westliche Medien überschlugen sich damals mit Spekulationen, Vorwürfen und Berichten über den gigantischen Ölteppich, der den Fischern in Venezuela und Frankreich das Fischen für Jahre unmöglich machen sollte. Kein Westfernsehgucker kam an diesen anklagenden Nachrichten über kurz oder lang vorbei.

Die wenigen Überlebenden mussten unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Medien langwierige Befragungen über sich ergehen lassen.

Es kursierten verleumderische Gerüchte, wie eine sozialistische Zeitungsmeldung eines Zentralorgans vom Jahresanfang 1977 betonte. Dabei sei der Versuch offensichtlich, in diffamierender Weise die Schuld dem Kapitän zu zuschieben.

Über die Todesopfer erfuhr man nichts. Man blieb dabei, Lisas Vater sei niemals gefunden worden, aber die ganze Familie einschließlich Lars bezweifelte, dass jemals an der Unglücksstelle eine Suche in der Gewässerzone des Klassenfeindes stattgefunden hatte, abgesehen von der Rettungsaktion in den Stunden nach dem Unglück. Abertausende Liter Öl trieben jetzt im Meer - wie sollten da Bergungsarbeiten möglich gewesen sein? Für die Hinterbliebenen hinterließ diese Art und Weise eine schmerzliche Ungewissheit, getragen von einer Trauer, die sich nie wieder legen würde, so lange sie lebten.

Die Umschreibung des Hauses gemäß dem Testament von Hans Kowalski auf seine Tochter Lisa erwies sich als problemlose Lappalie ohne Formalitäten. Aus gutem Grund, denn man wusste um das Schicksal der Familie Kowalski und fürchtete, es könne auch von anderen Hinterbliebenen Nachforschungen und unbequeme Fragen geben.

Außerdem glaubten die notariellen Stellen, die Stasi, das Seefahrtsamt, und das Kombinat für Seeverkehr und Hafenwirtschaft, somit habe die Familie Kowalski den Tod ihres Oberhauptes endgültig akzeptiert und würden keine lästigen Fragen mehr stellen. Eine entsprechende Auflage lag als schriftliche Erklärung in dreifacher Ausfertigung an jenem Tag für die neue Hauseigentümerin zur Unterschrift bereit.

Lisa unterschrieb bereitwillig, wusste aber, dass das für sie nicht verbindlich zählte. So eine lächerliche Unterschrift bedeutete gar nichts.

Jetzt, wo Lars über das alles so nachdachte, während er auf dem Weg nach Strandfelde zu seiner neuen Arbeitsstelle die Landschaft vor dem Busfenster vorbeigleiten sah, wurde ihm klar, dass Lisa und sein kleiner Schwager in spe Jonas ebenso wie Ingeborg seine Hilfe und Unterstützung brauchten. Er war nun der Mann in der Familie Kowalski. Wie auch immer, er würde er sich die größte Mühe geben.

Die Straße führte unweit des alten Leuchtturmes entlang. Lars sah ihn durch das Busfenster und folgte dem wandernden Lichtkegel des Leuchtfeuers mit den Augen in Richtung Ostsee, soweit es die Morgendämmerung zuließ. Für einen Moment lang verspürte er Fernweh. Sein Chef, der Abteilungsleiter in der Finanzbuchhaltung eines Außenhandelsbetriebes, welcher dem Kombinat Schiffbau angeschlossen war, hatte ihm offenbart, er könne sogar Reisekader werden, wenn er sich dessen würdig erweise. Ohne Übertreibung seien Vertragsabschlüsse für Schiffe weltweit möglich, sogar im NSW. Über den fragenden Blick von Lars hatte Walter Klein sich herzlich amüsiert.

„Sie haben noch viel zu lernen, Genosse. Das bedeutet nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet. Also es gibt auch dahin mitunter Dienstreisen, weil Absprachen zu treffen, Verhandlungen zu führen und Prozesse abzustimmen sind.“ Er hüstelte, drückte seine Zigarette in dem übervollen Aschenbecher auf demTisch aus, ohne sich hinzusetzen und knöpfte sein Jackett zu. „Entschuldige mich, ich habe jetzt einen Termin.“ Plötzlich duzte er Lars, da er eben wie er glaubte, als Kumpel zu ihm gesprochen hatte. Walter Klein wollte nicht der ständige einhundertprozentige Autoritätsmensch sein, für den ihn immer alle hielten, daher tat er so etwas öfter. Während sich die Kollegen untereinander ausnahmslos duzten, egal ob Genosse oder nicht, verkehrte er in der Chefetage, wo es offiziell keine Duzbrüderschaften geben durfte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er das geändert und für frischen Wind gesorgt.

Lars war noch mit Kleins Worten beschäftigt. Reisen wohin das Herz begehrt, was für ein Luxus in dieser Zeit. Natürlich würde er Lisa mitnehmen, wenn es ging. Sicher, es waren Dienstreisen, aber etwas Freizeit müsste doch drin sein. Sie würden dann bessere, wärmere Strände kennenlernen als den hiesigen in Dünow am Sundhaff, und es gäbe Südfrüchte bis zum Abwinken - Bananen, Ananas, sogar Kokosnüsse. Sie waren jung, das Leben lag vor ihnen. Verdammt nochmal, irgendwohin würde es sie schon führen, dieses Leben...

Handelsattaché zu werden, war nicht nur deshalb sein Ziel: Lars mochte andere Sprachen und war interessiert an fremden Menschen und Kulturen. Schon in seinen ersten Jahren war er, getrieben von einer kindlichen, unbedarften Neugier gern auf andere Menschen zugegangen, hatte ihnen Löcher in den Bauch gefragt oder einfach zugehört, wenn sie aufregende Geschichten zu erzählen wussten. Umso weniger konnte er jemals glauben, dass er zeitlebens im Land bleiben sollte. Das war seiner Meinung nach unlogisch. Es hieß doch immer, die DDR werde weltweit anerkannt. Die Medien berichteten von friedlichen Beziehungen in alle Himmelsrichtungen: Kuba, Sowjetunion, Chile, Vietnam, Angola. Irgendjemand würde ihm bei Gelegenheit mal diesen unzeitgemäßen Widerspruch erklären müssen. Fernweh – das war es wohl, was auch Lisas Vater auf die See gezogen haben musste. Gern hätte er ihn noch kennengelernt.

02

Lautes Klopfen. Lisa kam nur langsam zu sich. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich orientiert hatte: Es war Morgen, sie lag im Bett, und jemand klopfte an das Zimmerfenster. Ihr Schlafzimmer lag im Parterre des kleinen rethdachbedeckten Einfamilienhauses. Dieses Klopfen riss sie aus dem Tiefschlaf. Nachdem Lars gegangen war, hatte sie von ihm geträumt - bis eben.

Eine Gestalt ging auf der unfertigen Terasse unter ihrem Fenster auf und ab, und jemand sprach. Was gesagt wurde, verstand Lisa nicht. Erneut folgte ein Klopfen an die Scheibe, unnachgiebig und fordernd. Das schien wichtig zu sein. Die Fensterläden, fiel ihr ein, ich habe sie gestern nicht geschlossen. Allmählich besann sie sich, zog die Gardinen beiseite, öffnete das Fenster und sah zwei Männer in Trenchcoats, einennicht mehr ganz jungen und einen älteren mit weißen Haaren und Nickelbrille. Die Herren blickten mit ernsten Gesichtern zu ihr empor.

„Lisa Kowalski?“

Der Weißkopf mit den verglasten Augen klang barsch. Sein militärischer Tonfall verschlechterte Lisas Laune.

„Ja, was ist los?“

„Wir müssen Sie dringend bitten, mitzukommen. Sie haben drei Minuten.“

„Wer sind Sie? Ich habe keine Zeit.“

„Doch, haben Sie. Ihr Arzttermin ist erst gegen elf Uhr. Der Herr Schuster ist nicht da. Wir werden Ihre Aufmerksamkeit nicht lange in Anspruch nehmen, denke ich.“ Das hatte der Jüngere gesagt, der einen etwas freundlicheren aber ebenso reservierten Eindruck auf Lisa machte. Ihr wurde unheimlich zumute. Warum wussten die so gut Bescheid? Auf einmal fiel der Groschen: Die waren von der Stasi. Aber was wollten die von ihr - und von Lars Schuster, ihrem Freund? Scheinbar hatte sie keine Wahl. Wenige Augenblicke später fand sie sich in einem Fiat Shiguli wieder. Die Männer verließen mit ihr die Halbinsel.

In rasantem Tempo ging die Fahrt nach Breitlingen, einer kleinen Stadt an der breitesten Stelle des Flusses Warnow, der unweit des Sundhaffs in die Ostsee mündete. Lisa kam langsam zu sich. Sie fragte sich, wieso diese Männer nicht an die Terrassentür neben dem Fenster geklopft und dort Einlass begehrt hatten, War sie in ihrem Bett ihnen beim Blick ins Fenster aufgefallen, trotz der Gardine? Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Würde ihr etwas zustoßen? Sie hatte doch nichts getan und nichts zu verbergen. Und Lars? Sie glaubte, ihn zu kennen. Unsinn, vor ihr hatte er keine Geheimnisse. Was aber, wenn doch?

Die Stille war unerträglich. Nicht einer der Männer klärte sie auf. Sie schwiegen und stellten keine Fragen. Weder der Alte hinter ihr, noch der Jüngere, der am Steuer saß.

In Breitlingen bogen sie in eine kleine Straße ein und betraten einen Altneubau mit Mietwohnungen. Es war die Hausnummer 33, auf die sie zusteuerten. Sie gingen durch den Hausflur über einen schmalen Hinterhof. Der Jüngere schloss eine spärlich eingerichtete Kellerwohnung auf. Ächzend fiel die massive Holztür ins Schloss. Hier hätte Lisa höchstens einen Schuppen für Geräte vermutet. Wahrscheinlich war genau das der Trick. Der Weißkopf bot Lisa ohne Umschweife einen Platz an. Er kniff seine bebrillten Augen zusammen und beobachtete sie misstrauisch. Der Alte schien genau auf ihr Verhalten zu achten, als suche er nach Anzeichen für Unsicherheit, Schuldbewusstsein oder Angst.

Lisa wünschte, Lars wäre hier und stünde ihr bei. Ihr waren diese Mantelträger zuwider, die im Leben Anderer herumschnüffelten und glaubten, Gott spielen zu können. Noch nie hatte sie mit ihnen Kontakt gehabt - bis jetzt.

Der Alte kam zur Sache.

„Wem gehört das Haus, indem sie mit Herrn Schuster wohnen?“

Lisa dachte eine Sekunde lang daran, mit der Frage zu kontern, ob sie das nicht längst wüssten, besann sich aber. Ihre Angst war zu groß dafür.

„Um mich das zu fragen, sind wir hierher gefahren? Das gehörte meinem Vater. Er hat es mir vererbt.“

„Ihr Vater hieß Hans Kowalski, richtig?“

„Entschuldigung, wenn ich das frage, aber... wer sind Sie, was geht Sie das an?“

„Major Schröder, Ministerium des Innern, bitte sehr!“ Der Alte hielt ihr einen Klappfix unter die Nase. Warum sagt der nicht MfS, Ministerium für Staatssicherheit, dachte Lisa.

„Genossin Kowalski, es wird besser sein für alle Beteiligten und besonders für Sie“, begann nun der andere Mann, der ihr vom Genossen Schröder als Peter Schulze vorgestellt worden war. „wenn Sie sich etwas aufgeschlossener und kooperativer geben.“ Seine Stimme klang unterdrückt, fast flüsternd und wirkte um so eindringlicher.

"Aber ich bin keine Genossin."

„Das ist auch so ein Punkt. Sehen Sie, ihrem Freund steht eine große Zukunft und eine tolle berufliche Perspektive bevor. Wenn Sie daran teilhaben wollen - ich meine, wirklich teilhaben, dann sollten Sie uns zeigen, dass Sie zu unserem Land und unserer Partei stehen. Meinen Sie nicht?“

„Es gibt aber mehrere Parteien, oder?“ Sofort bereute Lisa ihre Frage. Sie hatte nicht provozieren, sondern Zeit gewinnen wollen.

 

„Also, Genossin ... Frau Kowalski, der Herr Schuster arbeitet bereits gut mit uns zusammen. Soll das alles umsonst gewesen sein? Wollen Sie ihm die Zukunft verbauen?“ Der Alte wartete die Wirkung seiner Worte ab und versuchte, in Lisas Gesicht zu lesen. Sie schüttelte den Kopf.

„Lars? Der arbeitet nicht für Sie, unmöglich.“

„Das spricht für ihn, dass Sie davon nichts wissen.“ Die beiden Herren wechselten einen vielsagenden Blick. Lisas Herz fing erneut an zu rasen. Wie würde das hier enden? „Ich machs kurz. Wir legen Ihnen dringend ans Herz, über einen Parteieintritt nachzudenken. Wenn Sie sich als Kandidatin der SED bewähren und unser Angebot einer verantwortungsvollen, konspirativen Mitarbeit annehmen, soll es Ihr Schaden nicht sein.“ „Das will ich nicht.“ Lisas Widerspruch kam prompt, klang aber zögerlich. Der jüngere Mann beugte sich vor und legte seine Hand auf Lisas Unterarm.

„Nein, nein. Denken Sie gut drüber nach. Sie entscheiden über Ihre und Herrn Schusters Zukunft. Wie gesagt: Er hat sich schon entschieden. Nun ist es an Ihnen. Oder wollen Sie wirklich für ihre zukünftige kleine Familie ein Leben voller Trennungen und Unannehmlichkeiten heraufbeschwören?“ „Wir werden Sie das nächste Mal fragen, wie Sie sich entschieden haben.“ Major Schröder stand nach diesen Worten auf, für ihn schien alles gesagt worden zu sein. „Also habe ich Bedenkzeit?“ „Wir sind keine Unmenschen. Natürlich verstehen wir, dass Sie Zeit brauchen. Es sind Dinge zu regeln, Entscheidungen zu überdenken. Überlegen Sie gut. Ach was, ich bin sicher, wir werden uns verstehen.“ Das klang nicht so versöhnlich, wie es sollte. Deswegen ergänzte der Mann namens Schulze die Äußerung des Majors mit der Frage, ob sie Lisa irgendwo absetzen könnten.

So würde dieses überraschende Treffen für sie mit einem positiven letzten Eindruck enden, glaubte er.

Lisa wollte nur ungern im Ort dabei gesehen werden, wie sie aus einem ominösen Auto stieg. Daher gab sie als Zielort nicht Dünow, sondern die nächstgelegene größere Kreisstadt Strandfelde an. Bis zum Arzttermin war noch Zeit, deshalb würde sie entweder im Deichpark spazieren gehen oder am Bahnhof in der MITROPA einen türkischen Kaffee trinken. Andere Geschäfte und Kioske hatten so früh am Morgen noch geschlossen. Das Geschehene hatte sie ziemlich aufgeregt. Sie musste sich sammeln, die Gedanken ordnen. Lars. Immer wieder dachte sie an ihn. Eine quälende Ungewissheit vernebelte ihr die Sinne. Wie gut kannte sie ihren Freund? Hatten diese Typen überhaupt mit ihm gesprochen? War ihr Lars, den sie immer für ehrlich, optimistisch und prinzipientreu hielt, am Ende weich geworden? Wenn ja, dann mussten sie ihn unter Druck gesetzt haben. Aber wenn nicht, dann hatten sie ihr gegenüber geblufft. Nein, sie würde nicht an ihm zweifeln. Das schafften diese Typen nicht.

Mechanisch stieg sie in die Straßenbahn zum Bahnhof und grübelte weiter. Plötzlich presste sie die Nase gegen die Fensterscheibe - da draußen, war das nicht Lars? Er stand neben einem Lada mit vier Frontscheinwerfern. Das war das schnelle, limitierte Modell, wie hochrangige Funktionäre es fuhren. Stasileute, Regierungsbeamte, Offiziere. Lisa wusste es von ihrem Vater. Er hatte ihr beigebracht, scharf und genau zu beobachten und immer dem Instinkt zu vertrauen. Im Vorbeifahren sah Lisa, wie ihr Freund die Hand eines kultiviert wirkenden älteren Herren schüttelte, lächelte und mit ihm in das Fahrzeug stieg. Was hatte das alles zu bedeuten? Sollte ihr gerade beginnendes eigenes Leben unter einem schlechten Stern stehen? Eine innere Unruhe bemächtigte sich Ihrer. Sicher würde Lars ihr das heute beim Abendbrot erklären. Welche Rolle dieser Mann auch spielte - er konnte alles sein: Kollege, Vorgesetzter, Mentor, Führungsoffizier. Sicher aber war er ein Genosse.

Laut klingelnd ratterte die Bahn der Endhaltestelle am Bahnhof entgegen. Jeglichen weiteren Gedanken an eine Zusammenarbeit mit den Mantelträgern verschob Lisa angesichts eines großen dampfenden Kaffees. Die Mitropa-Gaststätte war menschenleer um diese Tageszeit.

„Warten Sie auf einen der Züge?“, wollte die freundliche Kassiererin wissen. Sie bekam nur ein Kopfschütteln und ein angedeutetes Lächeln als Antwort.

„Aah, verstehe: Sie holen jemanden ab, nicht wahr?“

„Ja … ähm, nein. Kann ich trotzdem hier meinen Kaffee … ?“

„Aber Frollein, natürlich! Hier müssense nicht vorab reservieren. Wir haben zwar nicht viel, aber Platz haben wir hier reichlich!“

Lisa nickte der Frau hinter der Kasse zu und setzte sich an einen freien Zweiertisch.

Neben der Eingangstür bemerkte sie einen nicht mehr ganz jungen Mann, der in einer Zeitung las und in einem Glas Tee rührte. Wie sie führte der Fremde kein Gepäck mit sich. Kraftfahrer ist er, vermutete sie, und dem Anzug nach zumindest kein Arbeiter.

Er rührte im Teeglas und schaute ihr plötzlich mit stechendem Blick direkt ins Gesicht. Kühl, fast drohend musterte er sie einen Moment, bevor er sich wieder der Zeitung zuwandte. Dieser Wimpernschlag hatte genügt, um Lisa eine Gänsehaut zu bescheren. Der kennt mich, glaubte sie plötzlich. Vorher hatte Lisa nie einen Gedanken daran verschwendet, dass sie für das MfS von irgendeinem Interesse sein könnte. An diesem Morgen im Auto der zwei Stasileute hatte sie das erste Mal darüber nachgedacht.

Nun, da sie hier ihren Kaffee trank wusste sie, dass Misstrauen fortan ihr ständiger Begleiter sein würde.