Buch lesen: «Gier auf der Waagschale»
Inhaltsverzeichnis
– I –
BLAUES BLUT
– II –
EIN FREIHERR ALS RICHTER
– III –
DAS RICHTERAMT
– IV –
EIN HAI IM FISCHBECKEN
– V –
ALENA
– VI –
DER ABSTURZ
– VII –
DER SCHWANZ DES TEUFELS
– VIII –
DER BÜßER UND SEIN BEICHTVATER
– IX –
NEUE BESEN KEHREN GUT
– X –
POST IM ADVENT
– XI –
IM STILLEN WEINGARTEN
– XII –
UNTERSUCHUNGSHAFT
– XIII –
ZU GRÖßEREM BESTIMMT
– XiV –
EIN ALTER FEIND
– XV –
DER PROZESS
– XVI –
DER LOKALAUGENSCHEIN
– XVII –
WIE MAN SICH ERSCHIESST
EPILOG
Prim. i. R. Med. Rat. Prof. Dr. Dietmar Steinbrenner
Copyright
Narzissten werden nicht geboren, sondern gemacht!
Narzissten leiden an Empathiemangel, neigen zu
Übertreibungen, Lügen, Täuschung und Selbsttäuschung.
Mit Kritik und Zurückweisung können sie nicht umgehen,
fallen dann entweder in Depression oder werden aggressiv.
Sie sind überheblich, arrogant und ausbeuterisch anderen gegenüber.
Pathologische Narzissten können dadurch
sogar zu Mördern werden.
Bei der Lektüre dieses Buches werden Sie auf einen
pathologischen Narzissten stoßen, dessen Kindheit ihn
zu dem gemacht hatte, was er war, denn er wurde nicht
als Narzisst geboren.
Etwas stimmte nicht mit dem dicklichen Mann, der Ende November 1983 das Eiles betrat, seinen Hut abnahm und kurz innehielt. Der seine Augenlider fest aufeinander presste und den abgestandenen Zigarrenrauch tief einatmete, so als hätte er seit einer Ewigkeit keinen richtigen Atemzug mehr genommen. Der sich kurz in dem Wiener Caféhaus umsah und jedes Möbelstück und selbst die Rauchschwaden ungewöhnlich lange musterte, wie um sich zu vergewissern, dass er nicht in eine andere Dimension abgerutscht war. Herrn Karl fiel es sofort auf, dass da irgendetwas nicht stimmte. Er kannte den Stammgast schon seit Jahren, er kam regelmäßig ins Eiles, setzte sich immer an den gleichen Tisch und bestellte immer das Gleiche: ein Glas Sherry Oloroso. Normalerweise war der Mann immer sehr zielstrebig und gefasst. An diesem Morgen sah er zum ersten Mal so aus, als würde er möglicherweise einen Doppelten bestellen. Der Mann nickte ihm kurz zu, marschierte direkt zu seinem Stammtisch in einer Ecke des Cafés, setzte sich seufzend nieder, lockerte seine Krawatte und fuhr sich über den kahlen Kopf. Auch das machte Herrn Karl stutzig, so viel Emotion hatte der Mann in all den Jahren noch nie gezeigt. Normalerweise wartete Herr Karl immer ein paar Minuten, manchmal auch zehn, bevor er die Bestellungen von neuen Gästen aufnahm. Er wollte sie ankommen lassen und nicht sofort belästigen. Das Eiles war schließlich keine Rennbahn und schon gar kein Wirtshaus. Diesmal ging er aber gleich zu seinem Gast, sah er doch so durstig aus.
„Schwere Nacht gestern? Das Gleiche wie immer?“, fragte er lapidar. Die prompte Bedienung schien den blassen Mann, der sich gerade mit geschlossenen Augen die Schläfen rieb, zu überraschen. Er schrak hoch und lächelte unsicher.
„Was? Nein. Also, ja. Einen Oloroso bitte.“
Herr Karl nickte so ausführlich, dass er sich fast verbeugte. Der Mann sah etwas ungepflegter aus als sonst. Auch das war untypisch. Auf dem Revers seines Sakkos konnte Herr Karl einen eigenartigen Fleck erkennen.
„Einen Doppelten?“, wollte er sich empathisch zeigen.
„Nein danke.“
Der Kellner nickte und ging wieder Richtung Theke. Hätte Herr Karl die Gedanken dieses Mannes lesen können, hätte er die Gründe für dessen fahriges Verhalten gewusst, wer weiß, hätte er an diesem Abend nachgebohrt, den Mann genauer unter die Lupe genommen, vielleicht hätte er vielen Menschen einiges an Kopfschmerzen erspart. Aber das kam ihm gar nicht in den Sinn. Wo kämen wir da hin, wenn sich ein anständiger Bürger in einem Wiener Caféhaus nicht mehr entspannen kann?
So saß der blasse Mann wenig später mit einem Glas Sherry Oloroso in der Hand da, starrte aus dem mit schweren, vergilbten Vorhängen verhangenen Fenster neben seinem Tisch auf das Schneetreiben hinaus und wälzte seine Gedanken. War er zu weit gegangen? Nein, sein ganzes Leben lang hatte er sich gegenüber niederträchtigen Neidern und gemeinem Gesindel behaupten müssen. Damit war jetzt Schluss, ab jetzt würde ihm niemand mehr streitig machen, was ihm zustand. Dafür hatte er gesorgt. Er hatte dafür sorgen müssen! Hätten sie ihn nicht alle so weit getrieben, hätten sie ihn nicht bis zum Letzten herausgefordert, dann hätte es gar nicht erst soweit kommen müssen.
– I –
BLAUES BLUT
Viele Menschen haben nach den Ereignissen in den Jahren 1983 und 1984 versucht, diesen blassen Mann besser zu verstehen. Doch um zu verstehen, wie es dazu kam, dass er an diesem verschneiten Dezembertag im Eiles saß, musste man zuerst Hildegard Chvala verstehen. Sie war gerade zwanzig Jahre alt gewesen, als sie nach dem zweiten Weltkrieg eine Stelle als Schreibkraft am Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien ergattert hatte. Nach ihrem Abschluss an einer für ihren Geschmack zweitklassigen Handelsschule und einer kurzen Zeit als Angestellte bei einer Großhandelsfirma hätte sie auch eine Stelle als Sekretärin in einer beliebigen Wiener Anwaltskanzlei als einen Aufstieg empfunden, aber der Justizpalast war für sie wie ein Lottogewinn. Sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wohl. Sie fühlte sich, als wäre sie endlich angekommen. Ihr Vater, der selbst Vorarbeiter in einer Weberei war, war damals sehr stolz auf sie.
„Du brauchst etwas Sicheres“, hatte er immer gesagt, „schau doch, dass du zum Staat kommst.“
Nun hatte sie seinen Wunsch erfüllt, und dementsprechend groß war seine Freude, als Hildegard ihm strahlend von ihrem neuen Arbeitsplatz erzählte. Aber die Sicherheit und die gute Bezahlung, die Beamten damals zugutekamen, waren für sie zweitrangig. Für sie war diese Stelle mehr als das. Hildegard hatte sich in ihrem Leben schon immer fehl am Platz gefühlt. Die ärmlichen Verhältnisse, in denen sie mit ihren Eltern und Großeltern aufgewachsen war, hatten in ihr schon früh ein Verlangen nach mehr geweckt. Ihr neuer Arbeitsplatz bei Gericht bestätigte nur, was sie schon immer von sich gedacht hatte: Hildegard war zu Besserem bestimmt. Sie fühlte sich wohl, wenn sie am Morgen die Stufen zum Haupteingang des Justizpalastes hinaufschritt, vorbei an den zwei gewaltigen, steinernen Löwen, hinein in die riesige, marmorgetäfelte Eingangshalle. Schon das erste Mal, als Hildegard die prächtige Statue der Justitia sah, die in der großen Halle am Kopf einer massiven Treppe thronte, fühlte sie sich zu der steinernen Göttin der Gerechtigkeit hingezogen. Das ganze Gebäude strotzte vor Macht und Größe, und genau hier gehörte Hildegard Chvala hin. Sie wurde mit Begeisterung ein Teil der Gerichtsmaschinerie, in der täglich über die Klagen dutzender ihrer Mitmenschen verfügt wurde. Und dabei spielte sie eine wesentliche Rolle. Damit der Gerechtigkeit täglich genüge getan werden konnte, brauchte es damals ein regelrechtes Heer an Stenografinnen und Maschinschreiberinnen. Sie tippten Reinschriften, sorgten für ordentlich geführte Akten, erledigten den Schriftverkehr, führten Verhandlungskalender, kurzum: Sie hielten den gesamten Apparat am Laufen. Hildegard nahm ihre Aufgabe sehr ernst, und so wurde sie rasch zu einer geschätzten Hilfskraft am Landesgericht. Die Anerkennung, die ihr die wichtigen Herren Anwälte und Richter für ihre akribische Arbeit erbrachten, schmeichelte ihr. Noch mehr aber genoss sie die Ehrfurcht, die ihr die normalen Bürger in den Hallen der Justitia entgegenbrachten. Wenn sie sicheren Schrittes durch die Gänge marschierte, konnte sie die Beklommenheit in den Gesichtern der Wartenden sehen und fast spüren. Hier wurde über die Klagen der Menschen entschieden, ja geurteilt! Und Hildegard war ein Teil dieses Urteilsprozesses. Sie hatte es mit zwanzig Jahren zur erhabenen Amtsperson geschafft.
Nur wenige Jahre, nachdem Hildegard Chvala als Schreibkraft angefangen hatte, lernte sie ihren künftigen Mann kennen. Sie wurde auf einen unauffälligen, eher zurückgezogenen Gerichtsrat namens Wolfgang Freisinn-Wartenau aufmerksam. Er war Ende vierzig, kaum mittelgroß und hatte beileibe nicht die Maßfigur eines Herzensbrechers, aber er war gebildet und konnte durchaus lustig sein. Außerdem gefiel ihr sein adeliger Name, auch wenn er in republikanischen Zeiten auf dem Papier zu einem Doppelnamen mit Bindestrich verkommen war. Von Liebe hätte Hildegard vermutlich nicht gesprochen, dennoch fanden die beiden zueinander. Innerhalb eines Jahres heirateten Hildegard und Wolfgang. Sie zog zu ihm in die geräumige Altbauwohnung im dritten Wiener Gemeindebezirk, die er von seinem Vater zum spottbilligen Friedenszins übernommen hatte, und schon zehn Monate später wurde die Ehe mit einem Sohn gesegnet. Ganz in der Tradition des österreichischen Beamtenadels taufte ihn Hildegard auf Franz-Josef. Von diesem Moment an war ihr Glück vollständig. Nicht einmal der unerwartete Tod ihres Mannes ließ sie zwei Jahre später länger als einige Wochen trauern, so sehr konzentrierte sie sich auf ihren Sohn. Um sich dem Kleinen voll und ganz widmen zu können, kündigte Hildegard mit dreißig Jahren am Landesgericht. Als adelige Witwe eines Richters würde es ihr an nichts mangeln. Sie würde Franz-Josef zu einem außergewöhnlichen Menschen erziehen. Er würde all das werden, was sein Vater niemals war: ein brillanter Jurist, der angesehenste Richter im ganzen Justizpalast, eines Tages vielleicht sogar Gerichtspräsident.
Was Kindererziehung anging, gab es schon immer verschiedenste Ansätze. Manche Eltern versuchen, ihre Kinder von dem Moment an, an dem sie unsere Welt betreten, als eigenständige Menschen zu behandeln. Sie versuchen, ihre Talente zu fördern, ohne sie zu drängen, wollen ihnen über ihre Ängste hinweghelfen, ohne sie zu zwingen. Hildegard Chvala gehörte nicht zu diesen Eltern. Sie formte ihren Sohn von Anfang an wie ein Stück Ton. So wie sie es sah, war die Angelegenheit einfach: Ein Säugling war ein leeres Blatt Papier. Alles, was es brauchte, um diesen neuen Menschen zu einem produktiven, fleißigen und hochwertigen Mitglied der Gesellschaft zu machen, war die richtige Füllfeder, die richtige Hand. Ein billiger Kugelschreiber konnte auch auf teurem Pergament nur Schund produzieren. Eine feine Feder aber konnte auch auf billigem Papier Unschätzbares zaubern. Eltern vermittelten ihren Kindern schließlich die ersten und prägendsten Eindrücke. Sie waren die Götter, denen die Kleinen Glauben schenkten.
Hildegard lebte ihrem Sohn von Anfang an das Leben einer elitären Gesellschaftsschicht vor. Dass dieses Gehabe schon damals antiquiert war, schien ihr immer herzlich egal zu sein. Sie legte großen Wert auf Manieren und ein für einen Adeligen angemessenes Gebaren. Dass Franz-Josef dadurch mit vierzehn Jahren schon eine alte Seele war, zeigte ihren Erfolg. Als der Turnlehrer einmal etwas an seiner sportlichen Leistung auszusetzen hatte, blieb der kleine Bub selbstsicher.
„Das macht nichts, schon bei den Römern haben die Reiter über Fußsoldaten triumphiert.“
Er war strebsam, intelligent und hatte einen außerordentlichen Sprachschatz. Dafür waren ihm Rücksicht und Empathie fremd, betonte seine Mutter doch immer wieder, dass derartige Gefühlsduseleien einen gemachten Mann nur zurückhalten konnten. Dass seine körperlichen Leistungen zu wünschen übrig ließen, war nicht der Rede wert. Sportliche Leistung war ohnehin zweitrangig, wie seine Mutter meinte. „Das braucht dich nicht zu interessieren. Fußball ist etwas für Proleten. Dein Geist ist dein wichtigstes Instrument.“ Der Bub legte schon früh eine gewisse Überheblichkeit an den Tag, die nicht immer ohne Folgen blieb. Eines Tages kam Franz-Josef weinend nach Hause, nachdem ihn der Geografielehrer Herr Rednicek einen kleinen Snob genannt hatte. Er erinnerte sich später noch des Öfteren an die Worte seiner Mutter.
„Menschen unterer Gesellschaftsschichten sind eben neidisch, mein Sohn. Dieser Herr Rednicek ist ja sowieso als mieser Sozi bekannt. Er kommt aus kleinen Verhältnissen, er kann ja gar nicht anders. Ärgere dich nicht.“
Um ihrem Kind ihr Weltbild glaubhaft zu machen, scheute Hildegard keine Lüge. Ihren eigenen Vater, der Vorarbeiter einer Weberei gewesen war, machte sie in Erzählungen zum Abteilungsleiter. Sie selbst war natürlich, wenn sie ihrem Sohn von ihrem Leben erzählte, auch keine einfache Schreibkraft gewesen. Sie hatte die Leitung einer Gerichtsabteilung übergehabt. Alles, was nicht in ihr Selbstbild passte, in ihr neugewonnenes Leben, wurde bedenkenlos geschönt. So zimmerte sich Hildegard Freisinn-Wartenau eine Biografie zurecht, die ihr angemessen schien. Aber so sehr sie sich auch bemühte, ihrem Sohn die kleinen und auch die großen Lügen möglichst glaubhaft zu machen, hie und da fielen Franz mit der Zeit Ungereimtheiten auf. Seine Mutter zu hinterfragen, wäre ihm im Traum nicht eingefallen, also blieb ihm nur ein einziger Schluss. Unliebsame Wahrheiten musste man nicht akzeptieren, sondern verändern. Jeder konnte sich seine Wirklichkeit selbst konstruieren, wenn er es nur geschickt anging.
Hildegard hatte ihren Sohn derart im Griff, dass es auch in dessen Pubertät zu keinen Aufständen kam. Als seine Schulkameraden auf Skikurs fuhren, meldete ihn seine Mutter prompt krank.
„Was willst du denn dort?“, fragte sie ihn damals, „für Polsterschlachten, Alkoholexzesse oder andere Dummheiten bist du doch viel zu reif.“
Er stimmte seiner Mutter zu. Auch als Franz-Josef schließlich mit Auszeichnung maturierte und die Klasse eine Maturareise organisierte, war er nicht mit dabei. Stattdessen fuhr er mit seiner Mutter nach München, um dort eine Woche lang Museen, Theatervorstellungen und Konzerte zu besuchen. Während seine Mitschüler ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht machten, teilte er sich ein Bett mit Mama. Sie war sehr stolz auf ihren gut geratenen Sohn.
– II –
EIN FREIHERR ALS RICHTER
Es war Herbst 1962, als der achtzehn Jahre alte Franz-Josef Freisinn-Wartenau in Wien am Ring aus einer Straßenbahn ausstieg und vor der Hauptuniversität stand. Er wirkte fast ein bisschen verloren, schmächtig und klein vor den großen, geschwungenen Treppen des Haupteingangs. Er war nervös. Was, wenn seine Mutter sich doch geirrt hatte? Wenn das Studium der Rechtswissenschaften doch nicht seine Bestimmung war und er vielmehr zum Tischler geeignet war? Vielleicht hätte er doch den Grundwehrdienst ableisten sollen. Seine Klassenkameraden hatten gemeint, das bilde den Charakter. Er zupfte an der Krempe seines schwarzen Hutes, den ihm seine Mutter zur Matura geschenkt hatte. Unsinn. Mama wusste, was am besten war. Sie hatte bis jetzt noch immer recht behalten. Er sollte dankbar sein, dass Mama ihn davor bewahrt hatte, beim Militär monatelang angebrüllt und gedemütigt zu werden. So etwas war unter seiner Würde. Dass ihm in dem Gefälligkeitsgutachten, das seine Mutter von einem befreundeten Arzt für ihn organisiert hatte, allergisches Asthma attestiert wurde, war ihm zwar unangenehm, aber am Ende hatte es funktioniert, und nur das zählte. Er umklammerte seine Aktentasche fest mit dem rechten Arm, nahm seinen Hut in die linke Hand und betrat die Universität. Zu seinem Wohlwollen fiel ihm sofort auf, dass seine künftigen Kommilitonen ordentlich gekleidet waren. Keiner der anderen jungen Herren war ohne Krawatte erschienen. Hier konnte er nicht falsch sein. Er ging zunächst auf der Suche nach der Fakultät für Rechtswissenschaften etwas unsicher durch die Gänge, fand aber bald einen Lageplan und gelangte kurz darauf zur zuständigen Stelle für Neueinschreibungen. Vor dem Zimmer konnte er hören, wie drinnen ein wahres Gewitter an Tastenanschlägen grollte. Er musste an die Geschichten seiner Mutter denken. Sie hatte ihm oft erzählt, wie viel sie in ihrer Abteilung bei Gericht immer zu tun gehabt hatte. Wie sie einen Raum voller Schreibkräfte bei Ordnung halten hatte müssen. Franz klopfte kurz, dann öffnete er die Tür und trat ein. An einem mit Schreibutensilien und Papier vollgeräumten Tisch gegenüber der Tür saß eine untersetzte Frau mit gekräuselten, aschblonden Haaren und einer dicken, runden Brille. Sie war die einzige in dem Zimmer. Ihre runden Gläser erinnerten ihn an Insektenaugen. Überhaupt glich die Dame einer Gottesanbeterin, die Ellbogen hatte sie nach oben gerichtet und bearbeitete so die Schreibmaschine. Nach ein paar Sekunden unangenehmer Stille sah sie von ihrem Dokument auf, ohne den Kopf zu bewegen. „Was denn jetzt? Brauchen Sie etwas?“
Er räusperte sich verlegen.
„Grüß Gott, ich bin hier, um mich einzuschreiben. Für Rechtswissenschaften“, verkündete er feierlich.
Die Gottesanbeterin sah ihn ungläubig an. „Ja ist schon recht, aber da müssen Sie bitte draußen auf dem Gang hinter den anderen Platz nehmen. Sie werden dann aufgerufen.“
Sie hob den rechten Zeigefinger, ohne die Hand von der Tastatur zu nehmen, und deutete auf den Gang hinaus.
Franz senkte den Kopf und verließ das Sekretariat. Tatsächlich warteten fünf angehende Studenten auf ordentlich aufgereihten Stühlen vor dem Zimmer auf dem Gang. Er war so zielstrebig gewesen, er hatte sie gar nicht bemerkt.
„Tür!“, zischte die Insektenfrau hinter ihm.
Er schloss die Tür behutsam, ging schweigend an den anderen vorbei und setzte sich auf einen der hellbraunen, stoffbezogenen Sessel.
„Ganz schön grantig, die Gute. Nicht wahr?“, raunte sein Sitznachbar.
Franz sah verlegen zu ihm auf. Sein Nachbar hatte dunkelbraune, kinnlange Haare, die gar nicht zu seinem kantigen Gesicht passten.
„Ja, sie scheint etwas ungehalten“, erwiderte er und lächelte gequält.
„Naja, sie sitzt den ganzen Tag hier in dieser Kammer, da muss man ja schlechte Stimmung haben“, sinnierte der Bursche weiter.
Nach einer kurzen Pause beugte er seinen Kopf näher zu Franz, woraufhin dieser etwas zurückwich.
„Wahrscheinlich ist sie einfach unbefriedigt“, raunte er leise.
Franz wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
„Du weißt schon“, der Bursche bewegte zwei Finger in der Luft, als würde er etwas reiben.
Franz sah auf den Boden. „Nein, ich weiß nicht.“
Ihm war nicht klar, wovon sein Sitznachbar sprach, aber er hatte keine Lust mehr, weiter mit ihm zu reden.
„Ungeöltes Getriebe quietscht eben.“
Der kantige Mann lachte leise und klopfte Franz auf die Schulter, der reflexartig zusammenzuckte und den Fremden zornig ansah.
„Das ist wohl wirklich nicht passend. Und lustig ist es auch nicht. Lassen Sie mich in Frieden.“
Die Situation war ihm peinlich, er kannte diesen Mann doch gar nicht. Was, wenn den unverschämten Herren am Ende noch jemand hörte? Der Sitznachbar setzte mit einem Grinsen im Gesicht zur nächsten Bemerkung an, da unterbrach ihn Franz scharf. „Jetzt ist es wirklich genug.“
Der Fremde sah ihn kurz stutzig an, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Das hatte sich Franz anders vorgestellt. Zuerst beflegelt und dann noch vulgär angeredet, und das in der Ausbildungsstätte für die Richter und Anwälte des Landes. Als er später nach Hause kam und seine Mutter am Fauteuil sitzend und lesend im Wohnzimmer antraf, erzählte er ihr nichts von diesen Enttäuschungen. Er erzählte ihr, er sei mit offenen Armen empfangen worden und hätte gleich Freunde gemacht.
Im Laufe des Studiums wurde es für Franz-Josef nicht leichter, was seine Mitmenschen anging. Er fand keinen richtigen Zugang zu seinen Kommilitonen. Die meisten empfand er als frech, vorlaut und grob. Die Fakultät für Rechtswissenschaften hätte man damals nicht gerade einen Hafen für revolutionäres Gedankengut genannt. In diesem Umfeld stellten junge Männer die Welt ihrer Väter kaum in Frage, eher versuchten sie den Familienoberhäuptern nachzueifern. Frauen waren in der Minderheit. Die wenigen Studentinnen, die durch die Gänge der Universität spazierten, trugen Rock und Bluse und wurden den ganzen Tag lang von ihren männlichen Kollegen angeflirtet. Von Studentenprotesten war nichts zu spüren, eher wollten die angehenden Anwälte möglichst schnell zu einem Abschluss kommen, um ihre eigene Karriere starten zu können. Und doch, selbst in dieser konservativen Umgebung stach Franz-Josef hervor. Er gab sich immer etwas zu korrekt, was seine Altersgenossen unter Spaß verstanden, waren für ihn ungehobelte Frechheiten und billiger Gossenhumor. Wenig überraschend kam sein geziertes Gehabe bei anderen jungen Studenten nicht sonderlich gut an. Dazu kam, dass er aussah, als wäre er direkt vom Hof des letzten Kaisers angereist. Hut, Schal, Mantel und Aktentasche hatte er immer bei sich. Sein blasses, rundliches Gesicht wirkte durch seine dicke Hornbrille noch runder. Obwohl er keine Freunde hatte, war er doch schnell jedem seiner Studienkollegen ein Begriff. Sie vermuteten in ihm einen eitlen, besserwisserischen Snob, der sich zu gut für ihresgleichen war. In seinen Augen strahlte er Unnahbarkeit und Überlegenheit aus, weswegen es ihm auch kaum etwas ausmachte, dass ihn Gleichaltrige mieden.
Das erste Jahr ging vorbei, und Franz-Josef hatte sich an der Universität gut eingelebt. Mit seinen Abgaben war er stets pünktlich, bei Vorlesungen war er strebsam und wach. Klubs oder studentischen Vereinigungen blieb er bewusst fern, bei abendlichen Trinkgelagen traf man ihn nie an. Hochmütig blieb er der stolze Außenseiter, schloss keine Freundschaften und litt heimlich unter dem Spitznamen, den man ihm bald verpasste: Franzpepi, die jungfräuliche Greisin. Er tröstete sich damit, dass diese gemeine Verballhornung nur die Erfindung neidischer Proleten sein konnte, denen sein schöner Adelsname ein Dorn im Auge war. Seine Apanage besserte er durch Nachhilfe für Studienversager auf, von denen es genügend gab. Auch die besten seiner Kollegen waren im Vergleich zu ihm höchstens mittelmäßig, und so gab es für ihn immer jemanden zu unterrichten. Mit dem verdienten Geld legte sich Franz-Josef eine Pfeife zu, weil er fand, dass sein rundes Kinn dadurch markanter wirkte. Aber bald verleideten ihm der Tabaksaft im Mund und an den Fingern sowie das ständige Putzen der Pfeife diesen Genuss. Er fand Ersatz im Rauchen von Zigarren, die er sich meist am Abend genehmigte. An Wochentagen rauchte er die preiswerte, heimische Marke Großglockner, und zu besonderen Anlässen wie etwa dem Namenstag seiner Mutter gönnte er sich kubanische Romeo y Julieta. Dazu trank er anfangs, wenn er zuhause in seinem Fauteuil saß, Cognac oder Whisky, hatte aber anschließend immer schreckliches Kopfweh und beließ es schließlich bei einem abendlichen Glas Sherry Oloroso. Grundsätzlich ging es Franz-Josef gut mit diesem Lebenswandel, er war auf bestem Wege, das Jus-Studium in Rekordzeit zu absolvieren. Und doch nagte immer wieder etwas an ihm, wurmten sich nicht zu unterdrückende Bedürfnisse in seine Gedankengänge. Es war an einem lauen Sommerabend 1964, als diese Regungen wieder in seinem Bewusstsein an die Oberfläche kamen. Er saß zuhause in seinem Zimmer und hatte Auszüge aus dem Strafgesetzbuch vor sich auf dem Tisch liegen, daneben ein Glas mit etwas Oloroso und in einem Aschenbecher eine Großglockner. Er hatte die Texte bereits die letzten zwei Stunden studiert und seine Gedanken begannen abzuschweifen. Wenige Tage zuvor war ihm eine Studienkollegin aufgefallen. Zuerst war sie ihm furchtbar auf die Nerven gegangen, weil sie während einer Vorlesung direkt vor ihm gesessen war und ununterbrochen mit ihrer Sitznachbarin getratscht hatte. Er wollte gerade etwas sagen, als sie sich zu ihrer Nachbarin beugte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Dabei war sein Blick auf ihre beträchtliche Oberweite gefallen. Aus seinem Blickwinkel spannte sich die weiße Bluse der jungen Dame gerade so, dass Franz-Josef für einen kurzen Moment die nackte Haut unter dem Gewand ausmachen hatte können. Dieses Bild hatte ihn verstummen lassen, da war der Moment auch schon wieder vorbei und sie hatte sich wieder dem Vortragenden zugewandt. Aber der Anblick ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. So sehr er auch versuchte, keine frivolen Gedanken zuzulassen, konnte er sich doch nicht helfen. Er rieb sich die Augen und versuchte das Bild des Busens aus seinem Kopf zu verbannen. Was für ein Flittchen dieses Mädchen doch sein musste. Auf so etwas musste eine Dame doch achten, das durfte nicht passieren. Er griff nach der Flasche Sherry, füllte das Glas halb voll und trank es in einem Zug aus. Dann stand er abrupt auf, sammelte sein Portemonnaie und seine Taschenuhr ein, ging in den Vorraum und zog sich seinen Burberry Mantel über, nahm seinen Hut und hatte die Hand schon auf der Türklinke, als er aus dem Wohnzimmer die Stimme seiner Mutter hörte.
„Franz-Josef, was machst du denn?“
Er überlegte. „Ich gehe in ein Konzert, Mama.“
Kurze Stille.
„Welches Konzert? Ohne mich? Wir wollten doch erst nächste Woche ins Akademietheater gehen“, sagte seine Mutter etwas leiser und mit hörbarer Enttäuschung in der Stimme.
Jetzt wurde er ungeduldig.
„Ja, du hast recht, aber heute gehe ich mit Kollegen von der Universität.“
Wieder war es einige Sekunden still.
„Ist das ein guter Umgang für dich?“
Für einen Moment nahm er die Hand von der Türklinke und schloss die Augen. Sofort füllte sich sein Kopf mit dem Spalt in der weißen Bluse. Diesmal wusste sie nicht, was am besten für ihn war.
„Mama, ich komme noch zu spät. Ich erzähle dir nachher alles.“
Er öffnete die Tür und ging.
Obwohl es ein angenehmer, lauwarmer Abend war und eine leichte Brise wehte, war Franz-Josef heiß. Sein Kopf war hochrot, das konnte er spüren. Es fühlte sich an, als würde Heizwasser durch seine Adern gepumpt. Er war sich gar nicht sicher, was er eigentlich tat. Das heißt, tief in sich wusste er ganz genau, was er tat und wohin er gerade ging. Nur den Gedanken hatte er noch nicht ausformuliert, wollte er nicht ausformulieren. Wie ferngesteuert marschierte er durch die Straßen Wiens, von seinem Heimatbezirk Landstraße aus bis in die Innenstadt. Er nahm die Welt um sich kaum wahr, rang immer noch mit sich selbst und wollte sich nicht eingestehen, was ihn überkommen hatte. Eine halbe Stunde später stand Franz-Josef vor einem unscheinbaren Gebäude in der schmalen Sonnenfelsgasse. Um diese Uhrzeit war die Gasse menschenleer. Die Gegend kannte er von kleinen Botendiensten zu einer Anwaltskanzlei eine Straße weiter, die er für einen seiner Professoren übernommen hatte. Dabei war er mehrmals tagsüber durch diese Gasse gegangen und hatte es gesehen, das kleine Schild über der dezent verzierten Tür. Josefine stand da in geschwungenen Lettern auf einem weißen Schild, darunter war ein rotes Herz. Von einem seiner Nachhilfeschüler, der ihn wohl mit frivolen Geschichten ärgern wollte, hatte er erfahren, dass das Josefine ein kleines, intimes Puff war.
„Ich sag dir, da wird höchster Wert auf Professionalität, Hygiene und so weiter gelegt, also wirklich eine feine Sache“, hatte sein Kollege noch kichernd hervorgebracht, bevor Franz-Josef ihn zurechtgewiesen hatte.
Die Tür hatte keine Klinke, nur ein Schloss war außen angebracht. Ansonsten erregte sie kein Aufsehen, auf den ersten Blick würde wohl kaum jemand ein Lusthaus dahinter vermuten. Keine Neonfarben, keine Verzierungen aus Falschgold. Franz-Josef sah sich um und lauschte, ob er etwas von drinnen hören konnte. Stille. Er rieb sich seine inzwischen schwitzig gewordenen Hände und starrte auf die kleine Glocke neben dem Eingang. Dann hörte er etwas. Gelächter hinter der Straßenecke zu seiner Rechten, zwei Frauenstimmen, die sich unterhielten. Blitzschnell drehte er sich nach links und ging beinahe im Laufschritt die Straße entlang. Was hatte ihn nur getrieben? Wie konnte er sich von so einem Flittchen nur zu so etwas hinreißen lassen? Er war doch ein kultivierter Mensch! Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Fast war er schon an der Straßenecke abgebogen, da rief ihm eine Frau hinterher:
„Entschuldigung, Moment!“
Er blieb wie ertappt stehen und drehte sich langsam um. Vom anderen Ende der Straße her kamen zwei junge Damen auf ihn zu, eine von ihnen winkte energisch. Als sie bei ihm angelangt waren, erkannte er sie.
„Hab ich’s mir doch gedacht, der Franzpepi!“
Es war die Freundin, mit der das Mädchen mit der weißen Bluse während der Vorlesung geplaudert hatte. Ihre Begleitung kannte er nicht.
„Ah, grüß Gott die Damen! Ist ja interessant, wo man sich so begegnet.“
Er konnte fühlen, wie sein Herz in die Hose sank. Was wenn diese Tratschtante eins und eins zusammenzählen konnte, sie würde bestimmt bei nächster Gelegenheit dem gesamten Jahrgang davon erzählen, dass „Franzpepi“ ein Puffgeher war. Da war er sich sicher.
„Ich hab dich gleich erkannt“, sagte sie und deutete auf seinen Hut.
Er griff sich an die Hutkrempe. „Hm, ja. Ich glaube, wir haben uns im Grunde noch gar nicht vorgestellt“, stammelte er.
Sie schlug sich auf die Stirn. „Entschuldige bitte, du hast natürlich recht. Darf ich vorstellen, das ist meine gute Freundin Eva, sie ist aus Hannover zu Besuch“, sie deutete auf ihre Freundin, woraufhin Franz-Josef seine Hand starr von sich streckte.
„Und ich heiße Marianne.“
Erst jetzt, als er Marianne die Hand schüttelte, fiel sie ihm so richtig auf. Sie war auf den ersten Blick keine klassische Schönheit, aber die Sommersprossen auf ihren hellen Wangen, die ihre blauen Augen untermalten und von rötlich blondem Haar umschmiegt wurden, gefielen ihm.