Opfer Patient

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Medizinrechtlich war das Verhalten des Bereitschaftsarztes eine eklatante Verletzung des hippokratischen Eids. Eine Ferndiagnose bei einem unbekannten Patienten, ohne Kenntnis von Vorerkrankungen und Vorbefunden, ist schlicht unzulässig und verstößt gegen Grundregeln der Humanität.

Man sollte meinen, dass solche Fälle den Entzug der Approbation zur Folge haben. Weit gefehlt: Zuständig dafür sind nicht die Straf- oder Zivilgerichte, sondern Ärztekammern und Berufsgerichte. Das sind erfahrungsgemäß stumpfe Schwerter. Es ist nicht bekannt geworden, ob die Approbation des Bereitschaftsarztes Dr. St. je in Zweifel gezogen wurde. Er war nur gezwungen, seine Praxis aufgrund der Publizität des Falls in eine andere norddeutsche Stadt zu verlegen. Man kann nicht davon ausgehen, dass er aus dem Vorgang gelernt hat. Das Schöffengericht hatte ihm in dem zitierten Urteil noch völlige Uneinsichtigkeit bescheinigt.

Die geplatzte Hauptschlagader

Dr. Robert H., Jahrgang 1963, Privatdozent mit bevorstehender Berufung auf den Lehrstuhl für Experimentalphysik, war ein kerngesunder, sportlich aktiver Mann, ein treusorgender Familienvater von vier Kindern im Alter von elf, neun, fünf und zwei Jahren. In den frühen Abendstunden des 9. Juni 2003, einem Pfingstmontag, hatte er im Keller seines Hauses Bastelarbeiten verrichtet. Er kehrte gegen zehn Uhr abends in seine Wohnung zurück, nachdem er sich mit einem Nachbarn längere Zeit bei offensichtlichem Wohlergehen unterhalten hatte.

Kurz darauf versagten ihm die Beine und er brach in der Wohnung zusammen. Seine hinzugeeilte Ehefrau bemerkte Blässe im Gesicht, Schocksymptome und Schüttelfrost mit kaltem Schweiß auf Stirn und Brust. Der herbeigerufene Rettungswagen traf in weniger als zehn Minuten ein. Der Notarzt, ein Gastroenterologe, fand Robert H. auf dem Fußboden liegend. Er war ansprechbar. Der Arzt fertigte ein EKG an und gab ihm eine Infusion. Nach Messung von Puls und Blutdruck stellte er einen schlechten Kreislaufzustand und eine kreisförmige Blauverfärbung fest. Der Patient klagte über Übelkeit und hatte sich erbrochen. Der Arzt stellte fest, dass er sich eingenässt hatte und in kurzen Abständen über beginnenden Brustschmerz und kurze Luftnot klagte.

Der Notarzt nahm den Patienten zur stationären Behandlung mit. Die Klinik war nur ein paar hundert Meter entfernt, die Fahrt dauerte also nur wenige Minuten. In der Ersten Hilfe entschloss er sich zusammen mit einer diensthabenden Ärztin, Robert H. auf die Intensivstation zu verlegen. Er kreuzte auf dem Einsatzprotokoll unter anderem an, dass »Lebensgefahr nicht auszuschließen« sei. Dieses Berichtsformular wurde zusammen mit dem Patienten dem Arzt auf der Intensivstation übergeben.

Der diensttuende Arzt, ein Facharzt für Innere Medizin, hatte eine Ausbildung in Rettungsmedizin absolviert, war aber nur als Halbtagskraft eingesetzt. Er praktizierte zusätzlich als niedergelassener Arzt für Psychotherapie. Offenbar war er der einzige, auf den man während der Pfingstfeiertage zurückgreifen konnte.

Zur weiteren Diagnostik heißt es im Bericht des Intensivmediziners, dass eine Infusionstherapie mit zwei unterschiedlichen Infusionslösungen durchgeführt wurde. Dadurch sei ein deutlicher Anstieg des Blutdrucks erreicht worden. Der Allgemeinzustand des Patienten habe sich verbessert, er habe aber weiter über Rückenschmerzen und ein Engegefühl in der Brust geklagt. Die Ultraschalluntersuchung des Bauchraums habe keine Auffälligkeiten ergeben, die Hauptschlagader habe sich als unauffällig dargestellt. Nach dem Bericht war auch keine Flüssigkeit im Herzbeutel erkennbar, die Laborwerte waren bis auf eine Erniedrigung des Kaliumspiegels und etwas erhöhter weißer Blutkörperchen regelrecht.

Der Arzt hat also das Herz ohne krankhaften Befund eingestuft und keinen Pericarderguss (Ansammlung von Flüssigkeit im Herzbeutel) festgestellt. Diese Befundung wurde, wie er bei späterer Befragung im Strafprozess erklärte, aufgrund einer »orientierenden« Sonographie (Ultraschalldiagnostik) des Abdomens (Bauches) erstellt. Auf die Frage, was darunter zu verstehen sei, räumte der Arzt ein, er habe den Patienten »abgehorcht«. Damit nicht genug: Die dokumentierte Diagnostik weist aus, dass keine Röntgenaufnahme des Brustkorbs erfolgt ist, obgleich sie dringendst angezeigt war.

Ein Medizinstudent, der im Staatsexamen bei diesem klinischen Bild keine weitere Befunderhebung durch Aufnahmen des Brustkorbs für erforderlich hält, braucht das Examen nicht fortzusetzen. Auf dem Röntgenbild wäre klar zu erkennen gewesen, dass die Hauptschlagader im Thoraxbereich eine deutliche Ausweitung aufwies. Die Diagnose hatte ein sogenanntes Aneurysma (Ausweitung eines arteriellen Blutgefäßes) feststellen müssen. Bei weiteren Abklärungen hätte dann durch kardiale Ultraschalldiagnostik und Computertomographie der Brustorgane der aktuelle Zustand des Aneurysmas eingegrenzt und bestimmt werden können, mit der daraus sich ergebenden Konsequenz, den Patienten sofort zur Notoperation in das nahegelegene Deutsche Herzzentrum zu bringen – ein Transportweg von zwanzig Minuten!

All diese im Hause der Zentralklinik leicht durchführbaren Abklärungen sind aus Unkenntnis oder Gleichgültigkeit unterblieben.

Robert H. überlebte noch die gesamte anschließende Nacht. Bei der Übergabevisite am Morgen des nächsten Tages, etwa um 7.50 Uhr, wurde er schweißig und mit deutlich erniedrigten Blutdruckwerten angetroffen. Er klagte erneut über starke Rückenschmerzen. Die erst jetzt durchgeführte Echokardiographie zeigte das Vorliegen einer das gesamte Herz umgebenden Flüssigkeitsansammlung (sogenannter Pericarderguss) und eine Erweiterung des Querschnitts der Körperschlagader im Abgangsbereich aus dem Herzen auf mehr als fünf Zentimeter an (normal: zweieinhalb bis drei Zentimeter). Eine nun sofort vorgenommene Computertomographie der Brustorgane unter Kontrastmittelgabe bestätigte ein Aneurysma der Aorta mit großem blutigem Herzbeutelerguss.

Der Patient wurde trotz eilig durchgeführter Sofortmaßnahmen kurz darauf instabil und ließ eine starke Erweiterung und Lichtstarrheit der Pupillen erkennen, was typisch für eine inzwischen eingetretene irreversible Hirnschädigung ist. Die anschließenden Wiederbelebungsmaßnahmen wurden nach knapp einer Stunde erfolglos beendet. Der Patient verstarb um 9.20 Uhr.

Dem couragierten Engagement der Ehefrau ist es zu verdanken, dass ihr Gatte obduziert wurde. Aufgrund der Obduktionsergebnisse konnten dann Gutachten in Auftrag gegeben werden. Eine zunächst eingeschaltete Anwaltskanzlei hatte Strafanzeige gegen den Intensivmediziner wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung erstattet, weshalb sich die Staatsanwaltschaft dazu veranlasst sah, das Gutachten eines pensionierten Professors einzuholen. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass Robert H. an einer Aortendissektion (Aufspaltung der Hauptschlagader) verstorben war. Die unterlassene Thorax-Röntgen-Aufnahme in der Diagnostik hätte dafür keine entscheidende Bedeutung gehabt.

Ein daraufhin – nach Anwaltswechsel – erstattetes Gutachten eines renommierten Kardiochirurgen aus der Schweiz ergab, dass der Tod nicht auf eine Aortendissektion, sondern auf einen Riss des Aneurysmas zurückzuführen war. Für die Früherkennung des Aneurysmas hatte die unterlassene Thorax-Röntgen-Aufnahme entscheidende Bedeutung: Auf dem Röntgenbild wäre das Aneurysma leicht zu erkennen gewesen. Der Patient hätte noch in der Nacht im Deutschen Herzzentrum operiert werden können.

Robert H. hätte also den Kollaps am Pfingstmontagabend 2003 überlebt, wenn der auf der Intensivstation tätige Arzt das kleine Einmaleins der Auswertung des ihm präsentierten klinischen Bilds beachtet und eine Thorax-Röntgen-Aufnahme angeordnet hätte. In dem Gutachten des schweizerischen Herzchirurgen heißt es:

»Eine Thorax-Röntgen-Aufnahme wäre obligat gewesen, weil sie mit Sicherheit entweder ein CT [Computertomogramm] oder eine Echokardiographie nach sich gezogen hätte. Zu diesem Zeitpunkt wäre auch der entscheidende Unterschied zwischen einer akuten Aortendissektion und einem chronischen lange bestehenden Aneurysma ins Spiel gekommen. Die hier riesige, chronische Aufweitung der aufsteigenden Hauptschlagader hätte man im Standardbild aber mit Sicherheit nicht übersehen können. Ohnehin hätte man schon aufgrund der klinischen Präsentation des Patienten, d. h. aufgrund seiner Symptome an eine CT und/oder Echokardiographie denken müssen, die dann zweifelsfrei zur richtigen Diagnose geführt hätte.«

Immerhin hat sich der zunächst eingeschaltete pensionierte Sachverständige in der Hauptverhandlung diesem Votum angeschlossen und sein Erstgutachten korrigiert. Aber man bedenke: Hätte die Witwe nicht die Obduktion durchgesetzt und wäre nicht ein zweiter Gutachter hinzugezogen worden, dann hätten ihr und ihren vier kleinen Kindern keine Schadensersatzansprüche gegen das Krankenhaus zugestanden.

»Es kam mir gar nicht darauf an, mit der Obduktion die Voraussetzung für spätere Schadensersatzansprüche zu schaffen«, erklärte Frau H. »Das war mir in diesem Augenblick egal. Ich konnte nur absolut nicht begreifen, dass mein kerngesunder Mann urplötzlich sterben musste, ohne dass man eine Ursache kannte, die man nachvollziehen konnte. Ich wollte unbedingt Klarheit schaffen, und zwar für mich und für meine Kinder. Ich gebe zu, dass mir auch der Aufnahmearzt zu gleichgültig erschien. Ich konnte das nicht hinnehmen. So einfach konnte mein Mann von seiner Familie und dieser Welt nicht verabschiedet werden.«

Das Strafverfahren gegen den Intensivmediziner wurde nach einer Hauptverhandlung von drei Tagen eingestellt gegen die Auflage, 6.000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen und alle Verfahrenskosten zu übernehmen. Die Hinterbliebenen haben diesem Prozedere auf Anraten ihres Anwalts erst dann zugestimmt, als die hinter dem Arzt und dem Klinikum stehende Haftpflichtversicherung sich während des Strafprozesses schriftlich und rechtsverbindlich dazu verpflichtet hatte, Schadensersatzansprüche für Witwe und Kinder in fast voller Höhe anzuerkennen.

 

Um eine geringe Mithaftung wurde hart gerungen. Die Gegenseite hatte argumentiert, dass eine Verlegung von Robert H. ins Deutsche Herzzentrum während der Nacht ein nicht ausschließbares zusätzliches Risiko dargestellt hätte, so dass eventuell schon auf dem Transport oder unmittelbar danach ein kompletter Riss des Aneurysmas hätte eintreten können. Reanimationsmaßnahmen wären dann möglicherweise hoffnungslos gewesen.

Die Witwe hat diesen Kompromiss letztlich akzeptiert. Ein Abstrich von etwa fünfzehn Prozent der Gesamtansprüche war hinnehmbar, weil ihr damit ein vermutlich jahrelanger Zivilprozess erspart blieb. »Auf das Geld kam es mir letztlich nicht an, auch wenn ich mir vor allem während der Nacht den Kopf darüber zerbrach, wie ich meine Kinder durch die Schule und später vielleicht auch durch ein Studium bringen konnte.«

Zur Auszahlung gelangte schließlich im Rahmen eines Vergleichs eine Entschädigung von 310.000 Euro. Damit war die Existenzgrundlage von Mutter und Kindern wenigstens für die nächste Zukunft gesichert.

Noch zwei kurze Anmerkungen zu diesem Fall.

Die Hinterbliebenen konnten ihre Schadensersatzansprüche nur durchsetzen, weil eine Obduktion mit exakter Eingrenzung der Todesursache durchgeführt wurde. In Deutschland wird viel zu wenig obduziert. Andere Länder sind uns da weit voraus, wobei rechtspolitische Forderungen darauf konzentriert sind, Verbrechenstatbestände aufzudecken. Auch Hinterbliebene sollten aber eine Obduktion in Erwägung ziehen, wenn der Verdacht eines Arztfehlers aufkommt. Ohne Obduktion gibt es kaum strafrechtlich oder zivilrechtlich verwertbare Erkenntnisse.

An die Klinikleitungen ergeht die Mahnung, an Sonn- und Feiertagen keine unerfahrenen Therapeuten einzuteilen, zumindest nicht ohne Aufsicht. Bei den zahlreichen Arzthaftpflichtschäden verschiedener Kliniken fällt häufig auf, dass an solchen Tagen Kapazitätsengpässe entstehen. Das mag mit dem Wirtschaftlichkeitsdenken der Verwaltungen zusammenhängen, vielleicht auch mit einem gesteigerten Freizeitbedürfnis von Ärzten und Pflegepersonal. Offenbar gehört der hochrangige Grundsatz »Das Wohl des Kranken ist oberstes Gesetz« der Vergangenheit an.

Der nicht erkannte Herzinfarkt

Auch das nachfolgende Schicksal der Patientin Elisabeth T. ist symptomatisch für die Behandlungsmisere an Sonn- und Feiertagen.

Elisabeth T. wohnt in einer Kleinstadt mit knapp 17.000 Einwohnern. Hier sind 38 Ärzte verschiedener Fachrichtungen zugelassen, etwa genauso viele in den umliegenden Ortschaften. Außerdem gibt es ein Kreiskrankenhaus. Man sollte meinen, dass die Kreisstadt damit über eine ausreichende medizinische Versorgung verfügt.

Das gilt leider nicht für die Wochenenden und die erwähnten Sonn- und Feiertage. Auch am Mittwochnachmittag und an allen übrigen Tagen von sechs Uhr abends bis sieben Uhr früh haben alle Arztpraxen geschlossen. Die medizinische Versorgung wird dann einem Notdienst übertragen, der sich überregional organisiert hat. Das hat zur Folge, dass Ärzte aus der Landeshauptstadt oder aus anderen Ortschaften für die Betreuung zuständig werden, die mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sind und nicht immer die nötige Erfahrung, vielleicht auch Einsatzbereitschaft mitbringen.

An eine solche Notärztin aus der Landeshauptstadt geriet am zweiten Weihnachtstag des Jahres 2005 die 66-jährige Elisabeth T. Sie litt seit den Morgenstunden an Unwohlsein mit stärker werdenden Schmerzen im Oberbauch, verbunden mit gefühlter Abgeschlagenheit, Mattigkeit und Kaltschweißigkeit. Hinzu kam eine bis dahin unbekannte Atemnot. Sie ging zum ärztlichen Notdienst, der an diesem Tag von Dr. Karin S. ausgeübt wurde.

Die Ärztin stellte sich weder mit Namen vor, noch gab sie zu erkennen, welcher Fachrichtung sie angehört. Sie hinterließ auch keine Anschrift, sodass keine gezielte Auskunft über sie eingeholt werden konnte. Den Dienst übte sie in den Räumen einer früheren Schule aus, in denen keinerlei Grundausstattung an apparativer und instrumenteller Versorgung wie EKG, Ultraschallgerät oder ähnlichem zur Verfügung stand.

Elisabeth T. schilderte der Notärztin die Symptome. Dr. S. tastete ihre Bauchgegend ab. Sie habe vermutlich eine Magenschleimhautentzündung, erklärte sie, offenbar habe sie an den Weihnachtsfeiertagen zu viel gegessen. Sie stellte ihr ein Rezept für Tabletten aus. Die Untersuchung dauerte keine fünf Minuten.

Der Ehemann holte die verschriebenen Tabletten aus der Apotheke, die an diesem Feiertag den Notdienst versah. Die Patientin nahm die Tabletten der Verordnung gemäß ein. Eine Besserung verspürte sie nicht. Sie sah aber am nächsten Tag keine Veranlassung, zu ihrem Hausarzt zu gehen. Die Notärztin hatte ihr ja mitgeteilt, sie müsse nur die Tabletten regelmäßig einnehmen, dann werde es ihr schon besser gehen.

Als sich diese Besserung dann doch nicht einstellte, suchte Elisabeth T. nach den Feiertagen, am 2. Januar 2006, ihren Hausarzt auf. Dieser hielt eine weitere Untersuchung für angezeigt und überwies sie an den örtlichen Radiologen. Der schickte sie wegen uneindeutiger Bilder des Thorax (Brustkorb) zum Hausarzt zurück, in dessen Praxis sie regelrecht zusammenbrach. Der Hausarzt veranlasste umgehend ein EKG und alarmierte das Kreiskrankenhaus.

Auf der Intensivstation wurde eine Entzündung des Herzmuskels festgestellt, in dessen Folge sich etwa zwei Liter Wasser in der Lunge angesammelt hatten. Die Diagnose lautete: Herzinfarkt mit weitreichenden und schweren Schäden.

An die Aufnahme im Kreiskrankenhaus schlossen sich zehn stationäre und mehrere Reha-Behandlungen in verschiedenen Kliniken an. Schließlich wurde festgestellt, dass das Herz aufgrund des am 26. Dezember 2005 erlittenen Infarkts und der nachfolgenden Fehlbehandlung so gravierend geschädigt war, dass die Indikation zur Implantation eines Spenderherzens gestellt werden musste.

Für die Transplantation erhielt die Patientin vom Herzzentrum die höchste Dringlichkeitsstufe. Am 14. Mai 2007 wurde ihr dort ein Spenderherz implantiert. Seither erhält Elisabeth T. auf Anordnung des Herzzentrums 29 Tabletten pro Tag (!), mit denen eine Abstoßung des Spenderorgans vermieden, aber auch der Elektrolythhaushalt und die Magenverträglichkeit stabilisiert werden. Die Patientin weiß nicht, wie lange es sich erträglich so weiterleben lässt.

Dieser Fall zeigt zunächst eine erschreckende Unkenntnis in der Diagnostik der Notärztin. Die von der Patientin geschilderten Symptome sind geradezu klassische Indikatoren für einen Herzinfarkt. Das lernt ein Medizinstudent in den ersten Semestern. Da der Notärztin in ihrer kärglich eingerichteten Dienststelle die apparativen Voraussetzungen fehlten, um die gebotene weitere Abklärung vorzunehmen, hätte sie die Patientin in das nahegelegene Kreiskrankenhaus einweisen müssen.

Wie Frau Dr. S. zur Diagnose einer Magenschleimhautentzündung kam, ist nicht nachvollziehbar. Sie hielt sich nicht mit einer Anamnese auf, fragte also nicht, was die Patientin während der Feiertage wann und in welchem Umfang zu sich genommen habe – hier genügte wohl die Assoziation: Weihnachtsfeiertage, Gänsebraten, übergewichtige Patientin und Bauchweh, also zu viel gegessen. Was Kaltschweißigkeit und Atemnot mit Magenschleimhautentzündung zu tun haben sollen, bleibt rätselhaft.

Damit nicht genug: Die Patientin konnte bei Annahme des Anwaltsmandats nicht angeben, welche Ärztin aus welcher Stadt am Zweiten Weihnachtstag als Notärztin fungiert hatte, so dass umfangreiche Recherchen erforderlich waren.

Dabei ergab sich, dass die meisten in der Kreisstadt niedergelassenen Ärzte schon vor mehr als zehn Jahren übereingekommen waren, einen Kollegen aus der Landeshauptstadt damit zu beauftragen, den ärztlichen Notdienst zu organisieren und auf ortsfremde Ärzte zu übertragen. Zu diesem Zweck erscheint in regelmäßigen Abständen eine Anzeige in der örtlichen Presse:

Hausärztlicher Notdienst

Um die Versorgung der Patienten im Stadtgebiet […] außerhalb des Kassenärztlichen Notdienstes auch am Montag, Dienstag und Donnerstag sicherzustellen, haben die in der Kleinstadt tätigen Allgemeinärzte und die hausärztlich tätigen Internisten seit 01. 07. 1997 einen zusätzlichen Notdienst eingerichtet. Dieser Notdienst arbeitet an den genannten Tagen von 18 Uhr bis 7 Uhr am darauffolgenden Tag. Die Rufnummer des diensthabenden Arztes kann über die Anrufbeantworter der jeweiligen Hausärzte in Erfahrung gebracht werden. An den übrigen Tagen kann wie bisher der kassenärztliche Notdienst unter […] erreicht werden. Um sich nicht verschiedene Nummern mit den verschiedenen Dienstzeiten merken zu müssen, wird allen Patienten empfohlen, generell zunächst den Hausarzt anzurufen. Ist dieser nicht erreichbar, erhält man unter dessen Rufnummer genaue Informationen, wie der diensthabende Arzt zu erreichen ist.

Wie sich diese ortsfremde Versorgung der Bevölkerung mit der Präsenzpflicht der in der Kleinstadt niedergelassenen Ärzte und mit den Grundsätzen der Bereitschaftsdienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) verträgt, wird Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein.

Inzwischen wurde in der Sache von Elisabeth T. Klage gegen die Ärztin Dr. S. erhoben. Vorangegangen waren Appelle an die Ärztin, ihre Haftpflichtversicherung zu benennen, um im Interesse der schwerkranken Patientin eine außergerichtliche Verständigung zu versuchen. Die Ärztin hat keine dieser Anfragen beantwortet. Sie hat auch verschiedene gleichlautende Aufforderungen der zuständigen Ärztekammer ignoriert. Das hat sich fortgesetzt in der Reaktion auf die beim Landgericht eingereichte Klageschrift, in der Schadensersatz in Höhe von zunächst 50.000 Euro verlangt wurde. Diese Begrenzung der Ersatzansprüche erklärt sich aus dem Umstand, dass die Patientin mangels Rechtsschutzversicherung die Gerichtskosten und Anwaltsgebühren zunächst selbst aufbringen musste.

Von der Möglichkeit der Klageerwiderung hat die Ärztin keinen Gebrauch gemacht. Sie hat auch weder einen Anwalt ihres Vertrauens eingeschaltet noch eine eventuell hinter ihr stehende Haftpflichtversicherung unterrichtet, so dass das Landgericht schließlich ein Versäumnisurteil gegen sie erließ. Sie wurde dazu verurteilt, die verlangten Schadensersatzforderungen in Höhe von etwa 50.000 Euro zu zahlen und den gesamten materiellen und immateriellen Zukunftsschaden der Patientin zu übernehmen.

Dieses Urteil wurde der Ärztin zugestellt. Sie hatte die Möglichkeit, ab Zustellung binnen zwei Wochen Einspruch einzulegen. Sie hat auch das nicht getan, so dass das Urteil rechtskräftig wurde.

Das Verfahren zur Realisierung der vom Landgericht zuerkannten Schadenersatzansprüche endete mit einem Fiasko. Da die Ärztin auf die Zahlungsaufforderung nicht reagierte, wurde der Gerichtsvollzieher mit der Zwangsvollstreckung beauftragt. Am 12. September 2008 wurde sie im Rahmen eines Vertretungsdienstes in einer Arztpraxis von dem – unangemeldet erschienenen – Gerichtsvollzieher mit der Pfändung konfrontiert. Die Ärztin erklärte in Form einer Eidesstattlichen Versicherung, über keinerlei pfändbare Habe zu verfügen. Die geringen Einkünfte aus dem Vertretungsdienst würden auf das Konto ihrer Mutter überwiesen (um sie der Pfändung zu entziehen). Sie erklärte außerdem, dass sie über keine Berufshaftpflichtversicherung verfüge.

Erstmals ist auf diese Weise publik geworden, dass Ärzte nicht unbedingt eine Berufshaftpflichtversicherung unterhalten müssen, die für Behandlungsfehler aufkommt. Der Abschluss einer solchen Versicherung wird ihnen zwar in den Berufsordnungen und Standesrichtlinien empfohlen, sie sind aber nicht dazu verpflichtet. Weder Gesetze noch Verordnungen, wie zum Beispiel die Approbationsordnung, machen die Zulassung des Arztes zur Ausübung seines Heilberufs vom Nachweis einer Berufshaftpflichtversicherung abhängig. Auch wenn eine solche Versicherung besteht, kann sie vom Versicherer, zum Beispiel wegen Beitragsrückständen, aufgekündigt werden, ohne dass dieser Umstand bekannt wird.

Diese Umgehung der Versicherungspflicht wird inzwischen in Gerichtsentscheidungen mehr und mehr angesprochen, wenn Patienten versuchen, Ärzte für Kunstfehler haftbar zu machen. Der Gesetzgeber ist dringend aufgefordert, eine solche Versicherungspflicht mitsamt regelmäßiger Kontrollen einzuführen. Bei anderen Freiberuflern wie Anwälten, Notaren, Architekten oder Steuerberatern ist dies teilweise längst der Fall. Das neue Patientenrechtegesetz schreibt aber immer noch keine Versicherungspflicht vor.

 

Elisabeth T. ist inzwischen verstorben, weil sie den Belastungen der Herzimplantation nicht gewachsen war. Dr. S. übt ihren Beruf weiter aus, weil sich die Ärztekammer nicht zu einem berufsständischen Verfahren entschließen konnte. Dass sie inzwischen eine Berufshaftpflichtversicherung hat, kann man ihren jetzigen Patienten nur wünschen.

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