Buch lesen: «Das Honecker-Attentat und andere Storys»
DIETER BUB
Das Honecker-Attentat
und andere Storys
Als stern-Reporter in der DDR
Mit Fotografien von Harald Schmitt
mitteldeutscher verlag
Inhalt
Cover
Titel
Über das Buch
Das Angebot
Frühjahr 1979 – Hamburg – Berlin – Gutengermendorf
Die Akkreditierung
Die Bestimmungen
Die neue Adresse im Osten
Stadtflucht und Idylle
Alltag eines Korrespondenten in Ostberlin
Harald Schmitt – der Fotograf
Die Demonstration
Kindheit in der DDR
Besuch in Grünheide
Der 30. Geburtstag
Warten auf Brigitte B.
Erfüllung unter Kontrolle
Landidyll
Freundin und Komplizin
Landleben
Zwischen den Welten
Wiedersehen mit Halle
Umweltverschmutzung in der DDR
Die Enttarnung
Die „Betreuer“ Otto und Ernst
Die Reise nach Prerow
Der „antifaschistische Schutzwall“ und die Mauer
Die grenzenlose Liebe
Der Volkskammer-Abgeordnete
Proteste in Jena
Apollensdorf bei Wittenberg
Volksgesundheit
Prenzlauer Berg
Wilhelms konspirative Träume
Das Fanal aus Gdansk
Deutsches Gipfeltreffen
Havemanns Prophezeiung
Rainer Eppelmann
Wilhelm in der Burgwallstraße
Roberts Vermächtnis
Besuch in Klein-Venedig
„Die große Liaison“
Landausflug
Zeit der Unzufriedenheit und des Umbruchs
Die Voigts aus Rostock
Wilhelm und Müller in einem Boot
Die ČSSR und die Charta 77
Wegelagerer und Fernstraßen
Mit Max Lehmann im Spreewald
Berliner Impressionen
Die Reise nach Basedow
Halle, fünfziger Jahre
Unerwünschte Kunst – erwünschte Kunst
Moskau
Wilhelm, Helsinki und die Folgen
Die Hüter deutscher Geschichte
Altgarz – das Pfarrhaus am See
Dresden – alte und neue Meister
Edda und Wolfgang Herbst
Aktion Schwein
Das Ende der Geduld
Jugend ans Gewehr
Das „Attentat“
Erich Honecker – Biedermann und Apparatschik
Die Ausweisung
Müllers Traum – Wilhelms Rache
Der Abschied
Auf der anderen Seite
Nachrichten „von drüben“
Boulevard-Journalismus
Ankunft in Westberlin
Stasi-Paranoia: Suche nach Erkenntnis
Erosion und Ende
Glück, Zerwürfnis, Versöhnung
Die Agonie und das Ende der DDR
Heimkehr nach Halle
Das Verblassen und die Auferstehung
Wiedersehen mit Klaus
Spuren, Enttäuschung und Glück
Rückkehr und Glück
Nachwort
Dank
Impressum
Fotoserie
Dies ist die Geschichte des stern-Korrespondenten Dieter Bub, der von April 1979 bis Januar 1983 in der DDR akkreditiert war – und nach einem spektakulären Bericht über einen versuchten Anschlag gegen den Konvoi des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker innerhalb von 48 Stunden Ostberlin verlassen musste.
Dieses Ereignis hatte die Staatssicherheit in Bedrängnis gebracht und im Westen für Schlagzeilen gesorgt. Der Ausweisung war eine Reihe von Beiträgen vorausgegangen, die der Stasi bereits zuvor immer wieder missfallen hatten.
Der Korrespondent hatte nicht nur engen Kontakt zu den Systemkritikern Havemann und Eppelmann, sondern berichtete auch über andere Themen, die in der DDR als Tabu galten zum Beispiel über Umweltverschmutzung und Wehrkunde-Unterricht. Bei Reisen nach Osteuropa informierte er sich über die Frauen und Männer der Charta 77 in der ČSSR und die Solidarność-Bewegung in Polen.
Zu den wichtigsten Ereignissen der Zeit in der DDR gehörte für ihn die Begegnung mit einer Frau, die nicht nur zu seiner Freundin, sondern auch zu einer wichtigen Informantin wurde und viele Bekanntschaften ermöglichte. Mit dieser Frau lebt er heute noch zusammen. Beide hatten einen gemeinsamen Bezugspunkt – ihre Erinnerungen an Halle an der Saale. Denn das war und ist das Besondere: der stern-Korrespondent in der DDR hatte seine Kindheit und Jugend in Halle verbracht.
Seine Geschichte ist so auch eine Rückkehr in die Heimat und ein Stück deutscher Vergangenheit, die bis in die Gegenwart wirkt. Die Reportagen aus den Jahren 1977 bis 1981 zeigen eine DDR, Polen und die ČSSR auf dem Weg zum Ende ihrer Existenz unter der Herrschaft der Sowjetunion.
Das Manuskript ist Erzählung und Erinnerung, Realität, Reflexion und Fiktion. Es ist keine Reportage. Es ist eine Geschichte, in der das Erlebte weiterwirkt, eine Erzählung, die bewusst werden lässt, wie politische Ereignisse, denen wir ausgesetzt sind, so vieles bestimmen, wie scheinbare Zufälle Unerwartetes bringen, für Stunden oder für ein ganzes Leben. Die nicht vollständigen Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes – es fehlen Materialien aus Rostock, Stralsund, Jena und Halle – umfassen 1.600 Seiten. Zu den Reportagen, die im stern erschienen sind, gibt es im Archiv die Fotos von Harald Schmitt, der ab 1975 in der DDR akkreditiert war, Dokumente aus einem fernen und doch vertrauten Deutschland, Bilder, die einzigartige Erinnerungen sind.
Dieter Bub verwendet in seinem Buch den Namen Dieter Müller (um auch Fiction-Passagen einfügen zu können), unter dem er bis 1956 vor seiner Flucht aus der DDR in Halle gelebt hatte. Für die Behörden in der DDR war er, bevor seine Identität von der Staatssicherheit entdeckt wurde, nur unter dem Namen Bub bekannt.
Das Angebot
Der Anruf war überraschend gekommen. Ein Termin in der Chefredaktion des stern.
„Wollen Sie für uns nach drüben, nach Ostberlin?“, fragte Koch. „Sie kennen sich dort doch aus. Und wir suchen einen Nachfolger.“
Müller kannte Koch vom Studiogespräch am Morgen. Koch war ein angenehmer Interviewpartner gewesen, präzise klare Antworten. Er hatte sich mit Koch verabredet, war zu ihm in den „Affenfelsen“ an der Alster gefahren, einen stufenförmig ansteigenden Bürobau, nur tausend Meter vom Sender entfernt. Koch hatte sein Büro im fünften Stock und war zusammen mit Schmidt einer der beiden Chefredakteure – er der Mann für Politik, Schmidt für Unterhaltung und Kultur.
Henry Nannen, „der Alte“, der Erfinder der Illustrierten nach dem Krieg, residierte im siebten Stock, widmete sich immer weniger dem Heft. Er war des Berufs nach Jahrzehnten überdrüssig. Ein Blatt zu machen, jede Woche neu, die beste Illustrierte des Kontinents, in Konkurrenz zu Augstein vom „Spiegel“, dem aggressiven Herausforderer im Chilehaus, hatte seinen Reiz verloren. Henry, der kräftige Grauschopf mit dem Gespür für Geschichten, Stimmungen, Entwicklungen, Wünsche, hatte alles erreicht. Er war noch Herausgeber. Seine große Leidenschaft waren Bilder – Gemälde des Impressionismus und Expressionismus. Er sammelte, suchte fieberhaft und gab ein beträchtliches Vermögen dafür aus.
Koch und Schmidt, die beiden Neuen an der Spitze, sind ein interessantes Duo, der eine spielt den Feingeist, ist ein bemerkenswerter Kenner klassischer Musik und ihrer Interpreten und hat bereits eine Karriere als Blattmacher hinter sich – Chefredakteur der Hör zu und der Hamburger Morgenpost. Er kleidet sich elegant und teuer, liebt gute Weine, erkundigt sich vor Interviews nach den Vorlieben seiner Gesprächspartner, um sie so mit ihren Lieblingszigarren, bevorzugten Cognacs oder Whiskys zu überraschen. Die beiden mögen sich nicht besonders, gehen sich aus dem Weg, beschränken ihre Kontakte auf die notwendigen Absprachen bei den Konferenzen.
Koch, der zupackende Macher, nicht eloquent sondern direkt, mit Gespür für attraktive Geschichten. Koch verstellt sich nicht, entscheidet und fordert Entscheidungen. Der schlanke Vierziger, blond mit kurz geschnittenem Haar, Harris-Tweed-Jackett, blaues Hemd, Karokrawatte, Cordhose, empfängt Müller auf flapsige Art, nicht hamburgisch, bleibt hinter seinem Schreibtisch sitzen, lässig, sagt: „Das hat mir gefallen, das Gespräch bei Ihnen. Danach habe ich mich über Sie erkundigt. Sie waren häufiger drüben. Ein Kenner der Verhältnisse dort.“
„Drüben?“, fragt Müller. „Was meinen Sie?“ Er weiß, was Koch meint.
„In Ostberlin, bei unseren Brüdern und Schwestern, das ist drüben.“
„Immer wieder, wenn sich die Gelegenheit bot: Ostseewoche in Rostock, Leipziger Messe, das Festival des politischen Liedes, die Händelfestspiele in Halle. Ja!“
„Können Sie sich vorstellen, für uns dorthin zu gehen, nach drüben?“, fragt Koch. „Wollen Sie das machen?“
Er wollte, er wäre ohnehin dorthin gegangen, für das Radio als Hörfunk-Korrespondent. Die endgültige Entscheidung darüber sollte in wenigen Wochen getroffen werden.
„Was erwarten Sie?“, fragt er.
„Alles“, sagte Koch.
„Alles, was alles?“, fragt Müller.
„In den vergangenen beiden Jahren war im Heft fast nichts über die Zone zu lesen.“
„Die Zone?“, fragt Müller und weiß um die Verachtung Kochs für die DDR.
„Dieses Land DDR, das bei uns ziemlich in Vergessenheit geraten ist“, sagt er.
„Weil es niemanden interessiert?“, fragt Müller.
„Ich weiß nicht, ob es jemanden interessiert. Sie sollen dafür sorgen, dass es die Leute interessiert. Sie kennen sich doch aus!“
Müller: „Soweit das möglich ist, vieles ist nicht möglich. Es gibt strenge Bestimmungen, Einschränkungen, keine freie Berichterstattung.“
„Die gibt es weder in Moskau noch in Peking – und trotzdem berichten wir darüber“, sagt Koch. „Sie müssen die Geschichten finden, ohne Rücksicht.“
Müller: „Ohne Rücksicht auf was?“
Koch: „Ohne Rücksicht auf Vorschriften. Sie bekommen alles, was Sie benötigen. Wohnung in Ostberlin, Dienstwagen, ein Firmenkonto, steuerfreies Gehalt. Sie können über alles berichten – außer über langweilige Verlautbarungen. Und Sie können Reisen, wohin Sie wollen – nicht nur innerhalb der DDR, nach Warschau, Prag, Budapest, auch nach Moskau.“
Koch ist in den vergangenen Jahren als Mann in Bonn häufiger nach Washington und Moskau geflogen. Die DDR hat ihn nicht interessiert. Er stellt sich das Land als klein, muffig, langweilig vor. Müller sagt zu.
Nannen empfängt ihn, freundlich, distanziert, Zustimmung und Glückwunsch.
Müller wird den Leuten von Deutschland I vorgestellt worden. Deutschland I, der Bereich Politik, für den Heiner Bremer verantwortlich ist, ein guter Analytiker, Anhänger Willy Brandts und Egon Bahrs mit ihrer deutsch-deutschen Entspannungspolitik, dazu als Redakteur bei D1 Ulrich Rosenbaum.
Mit dem Anruf von Koch erfüllte sich ein lang gehegter Wunsch. Er könnte ein Ziel erreichen, dem er sich seit Jahren durch intensive Beschäftigung und Berichterstattung genähert hatte. Er wollte zurückkehren. Unter allen Möglichkeiten war es die reizvollste Aufgabe. Das scheinbar Fremde war ihm vertraut wie nur wenigen.
Er hatte sich der Minenfeld-Grenze und der Elbe dahinter immer weiter genähert: eine Rückkehr in Schritten. Er war auf dem geteilten Fluss unterwegs gewesen, war an Bord der Zollboote aus dem Westen den grauen Schiffen der NVA begegnet. Er hatte am „Tag der deutschen Einheit“, am 17. Juni, mit ehemaligen Bewohnern und Politikern von Gedenkveranstaltungen in Zicherie berichtet. Zeugnisse der Teilung: Hinter dem jenseitigen Ufer der Elbe die Anlagen – Betonmauern vor verfallenen Bauerngehöften, die Bewohner ins Innere des Staates umgesiedelt – Wachtürme, Minenfelder, Hundelaufanlagen, Metallgitterzäune mit Selbstschussanlagen. Er hatte Reportagen über die Dörfer und Kleinstädte entlang der Grenze zwischen Elbe und Harz aufgenommen, den „Eisernen Vorhang“, den „antifaschistischen Schutzwall“ beschrieben.
Frühjahr 1979 – Hamburg – Berlin – Gutengermendorf
Montag, morgens um halb acht auf dem Land in Brandenburg. Brigitte B. wartet mit ihrer Tochter Angelika an der Haltestelle. Die Siebenjährige ist müde, ist immer müde, ein Abend- und Nachtkind, ein Späteinschlafkind. Der Schulbus wird das Mädchen abholen und mittags wieder zurückbringen. Die Familie, er Film-Dramaturg in Potsdam, sie Restauratorin, lebt auf dem Dorf, in den Kleveschen Häusern bei Gutengermendorf, nördlich von Oranienburg, Richtung Gransee, sieben Gehöfte, in Ellipsenform angeordnet, fernab der Hauptstadt und fern der Parolen.
Klein-Venedig, Rahnsdorf, am Stadtrand von Berlin: Bernhard Wilhelm macht sich in seinem Wartburg auf den Weg ins Außenministerium, früh unterwegs nach einem angenehmen Wochenende, Bootstour mit der Familie über den Dämeritzsee nach Erkner, Grillabend am Wasser, Tatort, Westfernsehen.
Keine besonderen Vorkommnisse, alles nimmt seinen sozialistischen Gang. In den Sonntagszeitungen aus der BRD Frankfurt und Hamburg, FAZ und Springers Welt und Bild am Sonntag keine Hetze gegen die DDR, besser, die DDR findet nicht statt. Auch im Spiegel nichts über die Deutsche Demokratische Republik. Seit Wochen nichts. Aussicht auf einen ruhigen Wochenanfang. Routine – Auswertung der Berichte der Genossen zur Überwachung der Korrespondenten, keine Erkenntnisse. Sie waren mit Ausnahme von Marlies Menge von der Zeit alle zu Hause in Westberlin oder der BRD. Überblick über Veröffentlichungen vom Wochenende, Vormittagskonferenz. In der Kantine wird es Soljanka und Schweinebraten geben.
In der geräumigen Wohnküche im dritten Stock der Hansastraße in Hamburg-Eppendorf, fünf Minuten vom Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks entfernt, blättert der Radiojournalist Dieter Müller in den wichtigsten Tageszeitungen – der Süddeutschen, der FAZ, der Rundschau, der Welt, dem Abendblatt und in Bild, registriert Aufmacher, Überschriften, überfliegt Artikel, liest Kommentare, hört die Nachrichten seines Senders und die letzten Berichte des Frühmagazins, das um neun Uhr endet. Müller ist so gut vorbereitet für seine Sendung, in fünf Stunden, den Kurier am Mittag.
Bernhard Wilhelm schätzt die ruhigen Wochenenden in der Politik mit ihrer Ereignislosigkeit. Sie versprechen gemächliche Arbeitstage, wenngleich die Beschaulichkeit vergangener Jahre mit den neuen internationalen Verbindungen des Landes, der Anerkennung der DDR, dem Einzug der Botschafter aus aller Welt mit ihrem Gefolge und über einhundert akkreditierten Journalisten zu Ende ist. Der Preis der Kontakte sind Aufmüpfigkeiten von Kritikern, Pfarrern, Schriftstellern, Malern, selbst Schauspielern, Jugendlichen, die Gesetze missachten, aufbegehren, sich unzulässig äußern, dabei gerade die Nähe von Diplomaten und Korrespondenten suchen. Der Staat reagiert, überwacht, lädt vor, schüchtert ein, sperrt ein, verweist Feinde des Sozialismus des Landes.
Die Restauratorin Brigitte B. sitzt im Garten ihres Bauernhauses, das die Familie kostenfrei von der LPG, dem volkseigenen Großbauernbetrieb, zur Verfügung gestellt bekommen hat. Ihr Mann ist mit dem knatternden Zweitakter nach Babelsberg unterwegs. Sie trinkt Kaffee – aufgebrüht – genießt die Ruhe, den Garten mit den blühenden Obstbäumen, den weiten Blick über die Wiesen, bevor sie sich einem barocken Taufengel zuwendet, der, auf dem Boden einer Dorfkirche entdeckt, von ihr sorgfältig gesäubert und gesichert wird. Sie wird erst später das Leben Müllers verändern und das Leben der anderen in Müllers Familie, das Leben seiner Frau, seiner Kinder, seiner Schwiegereltern, die noch meinen ihre Tochter sei in guten Händen.
Dieter Müller stellt die sieben Themen für seine Sendung zusammen, sieben Themen in einer halben Stunde, die Welt auf sieben Berichte zusammengeschrumpft, ausgewählt nach politischer Dringlichkeit, Berichte aus Washington und Moskau, eine Katastrophe, ein Kulturereignis – Paris, Wien, London, Salzburg, New York – ein Studiogespräch. Er entscheidet sich, den Chefredakteur des stern, Peter Koch, einzuladen, der in dieser Woche eine große Dokumentation über die Annäherung zwischen Ost und West im Heft publizieren wird.
Zehn Uhr: Müller passiert die Gänge und Treppen aus seinem Büro im ersten in den zweiten Stock, erläutert sein Programm in der Vormittagskonferenz, Zustimmung, ohne Widerspruch, danach die Vorbereitungen, Absprachen mit dem Producer – Geruch von Morgen-Cognac, der Sekretärinnen-Duft von Chanel. Das Band zu einem Beitrag aus dem Iran wird abgehört und freigegeben. Flirt mit der Cutterin. Nichts Besonderes. Routine mit Kaffee, Zigaretten, Telefongesprächen.
Bernhard Wilhelm wusste seine Möglichkeiten zu nutzen. Eigentlich nur passabel begabt, war er fleißig, schlau, pfiffig, heiter, anpassungsfähig, beredt. Mit diesen Eigenschaften, geschickt eingesetzt, ließ sich viel erreichen, bei Lehrern, in den Jugendorganisationen, an der Universität, in der Partei.
Wilhelm schätzte seine Chancen ab, entwickelte eine Strategie, verfolgte sein Ziel. Eine Karriere in der SED schied aus, weil sie ihm mit ihrem Schulungs- und Versammlungs-Ritualen zuwider gewesen wäre. Sie entsprach nicht seinem Naturell, seiner Neigung zu eher lockerer Konversation und seiner Fähigkeit zur Formulierung. Er entschied sich für den Journalismus, der selbst unter dem klaren Parteiauftrag vielerlei Möglichkeiten bot. Bereits mit vierzehn gestaltete er Wandzeitungen, wurde Chefredakteur der Schülerzeitung, schrieb erste kleine Beiträge für die Junge Welt. Seine Aufnahme ins „Rote Kloster“, den Studiengang für Schriftsteller und Journalisten in Leipzig, war der erste Schritt.
Brigitte B. mit ihrer Tochter auf dem Land
Dieter Müller und Bernhard Wilhelm hätten sich begegnen können – wenn Müller geblieben wäre, geblieben im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn er nicht, aus bourgeoisen Haus, vom als erstrebenswert propagierten Sozialismus abgewichen wäre, wenn sich jemand seiner angenommen hätte. Einige Parallelen hatte es in beiden Biografien gegeben. Müller verfasste als Vierzehnjähriger Gedichte und zwei Artikel über den Besuch einer sowjetischen Jugendgruppe in einem Heim in der Nähe des Schrebergartens am Krokusweg, die er an die Redaktion der Freiheit in Halle schickte. Sie wurden veröffentlicht, der Autor erhielt neben einem Honorar die Aufforderung, als „werter Volkskorrespondent“ Neues einzusenden. Daraus wurde nichts, der 17. Juni veränderte die Ansichten des jungen Autors, der ohne diesen Volksaufstand vielleicht nach dem Abitur ebenfalls im „Roten Kloster“ eingezogen wäre.
Brigitte B. und ihr Mann entschieden sich für das Land als Ort der Möglichkeiten in der Enge; fort aus der Bevormundung, die ihnen ihre Freiheit ließ, die Halbemigration, das Arrangement, wie es viele gewählt haben.
Draußen, vor den Toren der Stadt, nördlich von Löwenberg, links und rechts der F7 bilden sie die Gemeinschaft der Aussteiger oder Halbaussteiger – der Grafiker, der Kinderbuchautor, der Jazzposaunist, der Dokumentarfilmer, der Theaterregisseur, der Maler, der Dramaturg, ein Schauspieler und sie, die Restauratorin. Sie sind unauffällig, genügsam und fügsam, keine Aufbegehrer, sondern nur die üblichen Systemmeckerer, die auf Genehmigungen für Auftritte, auf Papier, auf Filmmaterial, die immer auf etwas warten.
Die Akkreditierung
Als die Hamburger Chefredaktion ihn in Ostberlin als Korrespondenten anmeldet und das Gremium im Außenministerium über den Antrag berät, gibt es keine Bedenken. In den Unterlagen der Staatssicherheit finden sich die Abschriften von Berichten und Kommentaren für den NDR. Beiträge über die Weltjugendfestspiele vermitteln den Eindruck von einem Fest globaler Völkerfreundschaft, von der Solidarität mit Unterdrückten, vom Kampf gegen Ausbeutung und Diktaturen. Eindeutig Müllers Sympathien für die Verfolgten aus Chile, für die Demonstranten in Westberlin. Sein Dossier weist ihn als Linken aus, der aus Protest nach dem NATO-Doppelbeschluss aus der SPD ausgetreten ist, als Kritiker Amerikas und Gegner des Vietnamkrieges, als einen Spätachtundsechziger.
In den Unterlagen befinden sich Manuskripte über die Weltjugendfestspiele, von Besuchen der Ostseewochen in Rostock, Leipziger Messen, von Festivals des politischen Liedes – mit einem süffisant ironischen Ton. Sie werden erst viel später seine Identität als Republikflüchtling erkennen, der unbemerkt wenige Jahre vor der Akkreditierung die Gelegenheit zu einem heimlichen Klassentreffen genutzt hatte. Sie bescheinigen dem Neuen nach Durchsicht der Unterlagen durchaus Sympathien für die DDR und eine kritische Haltung gegenüber den Konservativen in der Bundesrepublik.
Ausführlich die Dokumentation einer Reportage auf der Insel Rügen und in Stralsund.
Zu MÜLLER wurde bekannt, dass er keiner Partei angehört. Nach seinen Angaben steht er der SPD nahe und befürwortet deren Programm. Er erkennt den Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR an und sieht deren positive Seiten für die Entwicklung zwischen beiden deutschen Staaten. Des Weiteren erkennt er die daraus sich ergebenden Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten der BRD in der DDR an.
In Binz waren die Genossen der Staatssicherheit nach der Teilnahme an den Diskussionen der Hamburger Studenten mit einer ausgewählten FDJ-Delegation wieder in ihre Zentrale nach Stralsund zurückgekehrt. Sie hatten versäumt, die Stunden nach den Gesprächen und dem Abendessen zu überwachen. Die Westdeutschen trafen sich in der Kneipe gegenüber der Jugendherberge mit einheimischen Jugendlichen, seltener Westbesuch, Reden bis in die Morgenstunden über die Veränderungen in Westdeutschland durch die Bewegung der Achtundsechziger-Generation, die sich aufgemacht hatte verkrustete Strukturen aufzubrechen und die Gesellschaft zu verändern. War die DDR nicht auch, auf andere Weise, erstarrt? Diese Nächte, nach denen niemand, auch der Wirt nicht, anschließend ein Protokoll verfasste, diese Nächte einer unkontrollierten Begegnung waren die Ausnahme.
„Dass wir hier nicht raus können, das isses“, schimpft Jochen. „Wir wollen doch gar nicht abhauen, wir würden ja wiederkommen“, meint Peter.
„Stell’ dir vor, Dänemark ist ganz nah, selbst mit der Luftmatratze haben es ein paar geschafft.“
„Ein zwei Stunden mit der Fähre. Einen Tag und dann wieder zurück. Mehr nicht“, ergänzt Jochen.
„Was willst du da? Die warten gerade auf uns. Mit unserer Mark, die nichts wert ist“, mischt sich Angelika ein. „Selbst in Bulgarien sind wir doch nur Deutsche zweiter Klasse, wenn wir da überhaupt hindürfen.“
„Sie lassen euch nicht reisen, weil sie euch nicht trauen. Sie fürchten, ihr würdet abhauen.“ Hatte Müller damals erklärt.
„Stimmt wahrscheinlich.“
„Na klar.“
„Wir sind eben noch keine gefestigten sozialistischen Persönlichkeiten.“
So ging es nächtelang. Runde um Runde.
Danach bekam er Post. Gesine wünschte sich ein Autogramm von Roland Kaiser. Müller war kein Roland Kaiser-Fan und vergaß die Bitte. Gesine wartete, ahnte nicht, dass sie eines fernen Tages Roland Kaiser erleben sollte, live.
Wann immer es ging, war er zurückgekehrt, in dieses Land, das zu Deutschland gehörte und doch so weit entfernt war. Er hatte, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Minderung der Gefahr gegenseitiger Vernichtung jede Gelegenheit zu Reisen in die DDR genutzt, war so zu einem Spezialisten für deutsch–deutsche Fragen geworden, hatte von Hamburg und Westberlin aus die Beziehungen zwischen beiden Staaten kommentiert.
Müller machte sich keine Illusionen über seine Arbeit. Er hatte im Sender als Experte für deutsche Fragen gegolten, weil er sich die erforderlichen Grundkenntnisse über die Geschichte und die Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten erworben hatte, weil er sich über Viermächteabkommen, Besucherregelungen, Transitvereinbarungen, Helsinki, Grundlagenvertrag und deren Akteure, soweit sie bekannt waren, informiert hatte, weil er einen Teil dieser Geschichte selbst erlebt und immer wieder beobachtet und kommentiert hatte. Im Gegensatz zum Großteil seiner Kollegen wusste er, wer zur Gruppe Ulbricht gehört hatte, kannte er die Geschichte der Zwangsvereinigung von KPD und SED, die Namen und Funktionen von Grotewohl, Sindermann, Hilde Benjamin, Honecker, Mittag, Herrmann, Hoffmann und Axen. Er konnte zuordnen, abwägen, kommentieren. Er verdankte viele Kenntnisse dem WDR-Publizisten Peter Bender.
Müller berichtete wie alle anderen über Ansätze zu einer vermeintlichen Liberalisierung, über Verbesserungen von Warenangebot und Gastronomie, kommentierte mit Wohlwollen Tendenzen, die der Öffentlichkeit nur vorgegaukelt wurden. Zur Strategie der Staats- und Parteiführung gehörte es, ihre Schändlichkeiten vergessen zu machen, den 17. Juni, den Bau von Mauer und Grenzanlagen die Bereitschaft zum Einmarsch nach Prag, die Verfolgung, Bestrafung und Einkerkerung Andersdenkender, die Tötung von Flüchtlingen mit Waffen und Minen. Erst jetzt, nachdem er wirklich hier angekommen ist, wird ihm das Ausmaß von Unrecht und Menschenverachtung bewusst.