Zwang zu töten

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Kapitel 10

Koblenz-Karthause, 10:30 Uhr

Sie kannte Ulf Auer nun seit etwas mehr als einem Jahr. Damals hatte sie als Praktikantin bei der Mordkommission Koblenz an den Ermittlungen zu einem Serientäter teilgenommen, bevor sie für die abschließenden neun Monate zurück an die Polizeischule gegangen war. Direkt nach ihrem Abschluss war sie vor drei Monaten zur Mordkommission zurückgekehrt, nun als fertige Kriminalkommissarin und vollwertiges Mitglied dieser Ermittlungseinheit.

Seit sie Auer kannte, hatte sie ihn lediglich einmal in einem so desolaten Zustand gesehen. Es war damals an einem Tatort gewesen, wo sie die schrecklich zugerichtete Leiche einer Rentnerin hatten betrachten müssen. Dort hatte Auer sich abgewendet, den Kopf gegen einen Baum gelegt und einen Weinkrampf bekommen. Er hatte nie erzählen wollen, warum ihn ausgerechnet dieser Tatort so mitgenommen und aus der Bahn geworfen hatte.

Nun stand er in ähnlicher Stellung in dem Kellerraum, der das Büro des getöteten Werbefachmanns gewesen war. Er hatte den Arm in Kopfhöhe gegen die Wand gelegt, und seine Stirn ruhte auf seinem Unterarm.

Coco wollte nicht neugierig sein, aber sie beobachtete ihren Chef und Mentor genau, weshalb ihr die Tränen, die seine Wangen hinunterliefen, nicht entgingen. Sie überlegte, ob sie ihn ansprechen, vielleicht eine Hand beruhigend auf seine Schulter legen und ihn trösten sollte. Aber da sie nicht wusste, was der Grund für seinen Kummer war, konnte sie ihn auch nicht trösten.

Hilflos blieb sie einfach stehen und blickte fragend zu Gerd Duben. Der zuckte lediglich mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Entweder hatte er genauso wenig Ahnung wie sie, was mit Ulf los war, oder er spielte nur den Unwissenden, um ihr zu signalisieren, dass sie das nichts anging.

Also standen sie lediglich herum, ohne etwas zu sagen. Es handelte sich letztendlich lediglich um zwei Minuten, die ihr aber wie eine kleine Ewigkeit vorkamen.

Auer straffte sich, wischte sich mit dem Ärmel über sein Gesicht und drehte sich dann zu ihnen um.

„Sorry, Leute, tut mir leid, aber ich bin momentan etwas angespannt“, war seine nichtssagende Erklärung.

„Können wir dir irgendwie helfen?“, versuchte Coco ihre Unterstützung anzubieten. „Dich bedrückt doch irgendwas ziemlich, oder?“

„Ach was, halb so schlimm. Ich möchte nicht drüber reden. Außerdem haben wir zu tun.“

Coco runzelte die Stirn und wusste nicht, was sie von diesen Ausflüchten halten sollte. Das war ansonsten nicht Ulfs Art, der auch schon mal persönliche Dinge mit ihr besprach.

„Okaaay“, zog sie ihre widerwillige Zustimmung in die Länge und hoffte, dass er ihre Missbilligung verstand. Vielleicht würde er ja zu gegebener Zeit von selbst darauf zu sprechen kommen, was dieses seltsame Verhalten zu bedeuten hatte. Sie hakte es für den Moment ab und richtete ihre Konzentration auf den vorliegenden Fall.

„Wie wollen wir vorgehen? Ich denke mal, wir sollten diesen Doktor Rossbacher zu unserem Opfer befragen. Vielleicht ist er ja bereit, uns ein wenig unter die Arme zu greifen.“

Ihr entging nicht, dass Ulf bei der Nennung des Namens wiederum zusammenzuckte.

„Gute Idee, ganz meine Meinung“, sagte er im nächsten Moment mit wieder fester Stimme. „Ich schlage vor, du und Gerd fahrt mal zu ihm und befragt ihn. Vielleicht bringt es uns ja zusätzliche Informationen. Ich mache mich derweil mit dem Rechner des Toten auf zu Fisch. Eventuell kann der ja die Sicherung knacken, und wir erfahren durch die Auswertung etwas mehr.“

Mit diesen Worten drehte er sich wieder um, ging zu dem Computer und begann wortlos, ihn abzubauen.

Coco und Duben sahen sich an und schüttelten beide verwundert den Kopf.

Bereits auf der Fahrt zurück in die Innenstadt konnte Coco sich nicht zurückhalten, Duben auf den Vorfall anzusprechen.

„Hast du Ulf schon mal so erlebt? Das ist doch nicht normal. Was hat er denn?“

Duben schüttelte den Kopf. „Ich habe tatsächlich auch keine Ahnung. Und ich gebe dir recht, das ist nicht normal für unseren Chef.“

„Aber ihr seid doch schon ziemlich lang befreundet“, hakte Coco nach. „Ich habe ihn lediglich einmal so gesehen, und das war am Fundort der Leiche von Gerlinde Bräunig, weißt du noch? Die Leiche der Rentnerin, die wir so schrecklich zur Schau gestellt aufgefunden haben. Erinnerst du dich noch an seinen Zusammenbruch am Fundort?“

Duben wandte den Blick von der Straße ab und sah sie kurz mit aufgerissenen Augen an.

„Du hast recht“, entgegnete er dann bedächtig, „damals hat er sich auch so seltsam verhalten. Ich hab da gar nicht mehr dran gedacht. Aber was hat dieser Fall mit dem von heute zu tun?“

„Keine Ahnung, aber ich vermute, es gab etwas in seiner Vergangenheit, an das er erinnert wurde“, meinte Coco nach kurzer Überlegung. „Seit wann kennt ihr euch?“

Duben musste nicht lange überlegen.

„Wir waren zusammen in der Ausbildung, also schon seit neunzehn Jahren. Er ist zwar sechs Jahre älter als ich, aber er ist nicht sofort nach der Schule zur Polizei gegangen, deshalb waren wir in einer Ausbildungsgruppe.“

„Und seit ihr euch kennt, ist nichts passiert, was dieses Gefühlschaos erklären könnte?“

Dubens Mundwinkel sanken nach unten, als er nach kurzem Überlegen den Kopf schüttelte.

„Hat er dir denn irgendwann mal etwas über einen Vorfall erzählt, der sich vielleicht vor eurem Kennenlernen ereignet hat?“, gab Coco nicht auf.

Duben reagiert nicht sofort, sondern konzentrierte sich zunächst aufs Fahren ... bis er plötzlich die Augen aufriss.

„Doch, da war mal was“, rief er überrascht aus und sah wieder zu Coco auf den Beifahrersitz herüber.

„Ganz am Anfang unserer Ausbildung hat er mir mal erzählt, dass er eine traumatische Erfahrung gemacht hat, die ihn letztendlich dazu bewegt hat, sein Studium abzubrechen und zur Polizei zu gehen. Aber er hat nie erzählt, was das für ein Erlebnis war, da bin ich mir sehr sicher.“

Das war eine neue Information für Coco, denn von einem Studium hatte Ulf ihr noch nie etwas erzählt.

„Und was hat er studiert? Weißt du das?“

Duben sah sie überrascht an. „Psychologie, wusstest du das nicht? Ich dachte, das hätte er dir erzählt, weil du doch auch ein paar Semester Psychologie studiert hast.“

Coco schüttelte konsterniert den Kopf. „Nee, mit keinem Wort. Das ist seltsam. Warum hat er das nie erwähnt?“

„Keine Ahnung. Wir sind übrigens da. Ich lasse den Wagen hier stehen, dann sind es nur ein paar Meter bis zur Praxis dieses Arztes.“

Duben hatte ihr Gespräch offensichtlich wieder zu den Akten gelegt und sich ganz professionell der anstehenden Arbeit zugewandt.

Kapitel 11

Koblenz-Innenstadt, 13:00 Uhr

Die Praxis von Dr. Heribert Rossbacher lag im ersten Obergeschoss eines Gebäudes unweit der Fußgängerzone und gegenüber der Herz-Jesu-Kirche, also sehr zentral in Koblenz.

Schon beim Betreten des Hauses bemerkten Coco und Duben die getrennten Klingelschilder unter der Praxisbezeichnung:

Dr. Rossbacher

Psychotherapeut und Psychiater

Gruppenklienten → hier klingeln

Einzelklienten → hier klingeln

Coco war nicht klar, warum hier zwischen unterschiedlichen Klienten – sie wusste, dass in der Psychotherapie nicht von Patienten, sondern stets Klienten die Rede war – unterschieden wurde. Sie machte sich eine mentale Notiz, den Doktor unbedingt danach zu befragen.

Duben war allerdings noch nicht mal der Grund für die spezielle Bezeichnung der Kunden des Arztes bekannt.

„Wieso Klienten? Der ist doch kein Anwalt!“ Er sah Coco fragend an. Sie erklärte ihm die Zusammenhänge, wobei sie gleichzeitig den Klingelknopf für „Einzelklienten“ drückte.

„In der Psychotherapie spricht man von Klienten, da ,Patient‘ in der Medizin bedeutet, dass eine Person passiv durch einen Arzt behandelt wird, zum Beispiel mit Medikamenten. In der Psychotherapie handelt es sich aber eher um Kunden, die aufgrund einer Beratung selbst etwas tun müssen, also eben mitarbeiten. Deshalb hat sich hier der Begriff ,Klienten‘ eingebürgert.“

„Ja, bitte?“, ertönte jetzt eine weibliche Stimme aus der Sprechanlage und unterbrach weitere Erklärungen.

„Kriminalpolizei Koblenz. Wir müssten mit Doktor Rossbacher sprechen. Die Angelegenheit ist dringlich“, drängelte Duben sich vor.

Coco war zwar nicht klar, was so dringlich an der Befragung des Arztes war, von der sie sich sowieso nicht viel versprach, aber sie schwieg und wartete ab.

„Jaja, natürlich, kommen Sie hoch und nehmen Sie im ersten Stock die rechte Tür.“

Sofort darauf summte es, und Duben konnte die Tür aufdrücken. Er ging voran, und Coco folgte ihm das enge Treppenhaus hinauf in das Obergeschoss. Dort angekommen, ging Duben ohne zu zögern auf die Tür auf der rechten Seite des Treppenabsatzes zu, auf der in großen Lettern EINZEL stand, und öffnete sie. Dahinter verbarg sich ein schmaler Gang, der nach wenigen Metern vor einer weiteren Tür endete.

Coco hatte sich für den Moment mit ihrer eher passiven Rolle abgefunden und sah nun ein wenig amüsiert, dass Duben den Türgriff herunterdrückte, die Tür aber verschlossen zu sein schien. Sie tippte ihm auf die Schulter, und als er sich überrascht umdrehte, deutete sie mit einem feisten Grinsen auf die Kamera, die rechts über der Tür angebracht und genau auf sie beide gerichtet war.

Duben winkte in die Kamera und sagte dann überdeutlich, als erwartete er, auf der anderen Seite könne jemand Lippen lesen: „Hallo, wir kommen von der Polizei und müssten mit Doktor Rossbacher sprechen.“

„Treten Sie ein“, erscholl eine angenehme, dunkle Männerstimme. Gleichzeitig ertönte ein Summen, und als Duben nun die Klinke herunterdrückte, öffnete sich die Tür.

 

Sie betraten hintereinander einen Raum, der sich als eine Mischung aus Bibliothek, Büro und Behandlungszimmer darstellte. Letzteres drängte sich Coco deshalb auf, weil sich an einer Seite des Raumes, gegenüber einem riesigen Schreibtisch, eine bequem aussehende Couch mit einem davorstehenden Sessel befand.

Hinter dem Schreibtisch wurde die komplette Wand von einem bis zur Decke reichenden Bücherregal eingenommen.

Der Mann, der sich bei ihrem Eintreten hinter dem Schreibtisch erhob, erinnerte Coco sofort an den Schauspieler George Clooney, vielleicht etwas jünger, vermutlich so um die Mitte vierzig. Groß, schlank, leicht ergraute kurze Haare, mit einem Seitenscheitel getragen, ein Dreitagebart, buschige Augenbrauen und ein perfektes Gebiss, das er gerade durch sein strahlendes Lächeln zur Schau stellte.

„Ich begrüße Sie, die Dame, der Herr, was kann ich denn für Sie tun? Nehmen Sie doch gerne Platz“, wobei er auf zwei unbequem aussehende Plastikstühle vor dem Schreibtisch wies.

„Ich bin Kriminaloberkommissar Duben, und das ist meine Kollegin, Kriminalkommissarin Crott. Wir brauchen Ihre Hilfe in einer Mordermittlung.“

„Wie kann ich Ihnen da behilflich sein?“

Seine Stimme empfand Coco als sehr angenehm. Dunkel, sanft, einfühlsam. Sie konnte sich vorstellen, dass er ein sehr guter Psychotherapeut war.

„Nun ja“, fuhr Duben fort, „es geht um ein Mordopfer, das laut den Unterlagen seiner Krankenkasse Patient bei Ihnen war. Da könnten Sie uns natürlich mit Informationen zu seinem Umfeld weiterhelfen. Hatte er Feinde, vielleicht auch ein anderer Ihrer Patienten, hatte er mit jemandem Streit, was wissen Sie über sein Privatleben und so weiter?“

Coco wunderte sich, dass Duben nicht klar war, wie die Reaktion auf sein Ansinnen sein würde. Sie kannte ihn als wirklich guten Ermittler, aber entweder war er nicht ganz bei der Sache oder er hoffte, dass Dr. Rossbacher es mit den Vorschriften nicht ganz so genau nehmen würde.

Die Reaktion des Psychotherapeuten war sogar wesentlich drastischer, als sie es sich vorgestellt hatte.

Das eben noch freundliche Lächeln verschwand und machte einem regelrecht feindseligen Ausdruck Platz. Die Kiefer mahlten, und die Lippen waren fest aufeinandergepresst. Schließlich öffnete er die Lippen einen Spalt weit und knurrte lediglich: „Raus hier ... aber sofort. Ende des Gesprächs.“

Er war aufgestanden und wies mit der Hand auf die Tür.

„Aber ...“, versuchte Duben noch etwas zu retten.

„Nichts aber“, schrie Dr. Rossbacher nun, und die Empörung war ihm anzusehen. „Was soll das werden? Sie wissen doch genau, dass ich Ihnen nicht mal bestätigen darf, ob die Person bei mir Patient war, selbst wenn Sie behaupten, es zu wissen. Und alles, aber auch wirklich alles, was ich von einer solchen Person erfahren würde, unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht. Ihnen dürfte auch der § 53 der Strafprozessordnung bekannt sein, der das Zeugnisverweigerungsrecht von Ärzten und Psychologischen Psychotherapeuten eindeutig regelt. Also kann ich nur vermuten, dass Sie mich überrumpeln wollten oder darauf hoffen, ich würde wissentlich gegen Gesetze verstoßen. In beiden Fällen handelt es sich um eine Unverschämtheit, die ich mir verbitte. Also ... raus hier und zwar sofort!“

Die letzten Worte hatte er förmlich geschrien, und von dem sympathisch wirkenden Mann war für Coco nichts mehr zu erkennen.

Als Duben noch etwas erwidern wollte, legte Coco ihm die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. „Lass uns gehen, er hat ja recht.“

Sie stand auf und zog Duben am Ärmel seiner Jacke mit sich. Noch im Hinausgehen wandte sie sich allerdings noch einmal um.

„Eine Frage hätte ich noch, Doktor Rossbacher ... und sie hat nichts mit einem Ihrer Klienten zu tun“, fügte sie schnell hinzu, als sie sah, dass er erneut aufbegehren wollte.

Er beruhigte sich genauso schnell, wie er sich aufgeregt hatte.

„Okay, bitte?“

„Warum gibt es die getrennten Eingänge für Einzel- und Gruppentherapien?“

Nun erschien wieder dieses sympathische Lächeln auf seinen Lippen.

„Genau aus dem gleichen Grund, warum ich Ihnen niemals eine Auskunft geben werde. Die Menschen, die zu mir kommen und mich um Hilfe bitten, haben ein Anrecht auf Anonymität. Sie möchten noch nicht einmal, dass andere Menschen mitbekommen, dass sie mich aufsuchen. Also kommen sie zu einem Eingang herein und gehen zu einem anderen hinaus, damit sie nicht anderen Menschen, die sie vielleicht sogar kennen, begegnen müssen. War’s das dann?“

Coco schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. „Aber natürlich, vielen Dank, Herr Doktor.“

Duben vor sich herschiebend, ging sie den gleichen Weg hinaus, den sie beim Betreten genommen hatten.

Kapitel 12

Tag 3

Polizeipräsidium Koblenz, Büro der MK, 09:00 Uhr

Auer ließ den Blick über die Anwesenden im Büro und gleichzeitigem Besprechungsraum der Mordkommission im Keller des PP gleiten.

Diesmal waren außer seinem Team auch noch sein Chef, KOR Stefan Wasgau, der Leiter des K 11, und die zuständige Oberstaatsanwältin Sandra Hartung anwesend.

„Und? Was haben wir bis jetzt? Haben Sie schon einen Ansatzpunkt für Ermittlungen oder vielleicht sogar schon Verdächtige?“, richtete Hartung die Frage an ihn.

Er bewunderte sie für die Coolness, mit der sie ihn in Anwesenheit Unwissender wie einen Fremden ansprach, obwohl sie doch regelmäßig das Bett teilten. Davon wusste allerdings nur sein Team etwas, ansonsten gab es im Präsidium lediglich Gerüchte, dass er die Oberstaatsanwältin eventuell besser kannte, als die meisten dachten. Zu diesen Unwissenden zählte sein Chef Wasgau, der das auch auf keinen Fall erfahren durfte.

Seit Auer ihn einmal als „Kompetenzsimulant“ bezeichnet und ihm schon mehrfach öffentlich seine Unfähigkeit vor Augen geführt hatte, waren sie so etwas wie Todfeinde – zumindest betrachtete Wasgau ihn als solchen. Er selbst hatte meist nur Mitleid mit Wasgau, der definitiv der falsche Mann am falschen Platz war.

„Herr Auer, sind Sie noch bei uns?“, riss ihn Sandras Stimme aus seinen Gedanken.

„Oh, Verzeihung, ich war wohl in Gedanken“, entschuldigte er sich. „Aber leider habe ich auch noch nichts wirklich Erhellendes zu berichten. Bisher stecken wir noch mitten in den ersten Ermittlungen und haben noch keinen wirklich ernsten Ansatzpunkt.“

„Wen wundert‘s“, raunte Wasgau halblaut, aber deutlich hörbar, doch Auer entschied sich, nicht darauf einzugehen, und strafte seinen Vorgesetzten mit Missachtung.

„Wir haben sein Haus und die Firma nach Hinweisen durchsucht und am ehesten auf seinen Computer gesetzt. Des Weiteren haben wir nach seinem verschwundenen Fahrzeug gesucht, aber dazu können die Kollegen Kruse und Saibling am besten selbst berichten.“

Er nickte Fisch zu, der daraufhin sofort mit seinem Bericht begann.

„Also ...“, begann er gedehnt, um es wie immer so spannend wie möglich zu machen, „ ... ich habe sowohl den Firmencomputer als auch den Rechner aus seinem Büro in der Villa gecheckt und dabei Folgendes entdeckt: Auf dem privaten Computer ist eine Spiegelung aller Daten des Firmengerätes, weshalb der alleine schon gereicht hätte, aber das konnten wir ja nicht wissen. Fangen wir mal mit dem Wichtigsten an. Am Tag vor seinem Auffinden hatte er einen Termin mit einem gewissen“, er sah auf seine Notizen, „Paschke, wegen eines nicht näher bezeichneten Werbeauftrages für ein nicht näher bezeichnetes Produkt. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass er sich mit ihm im Café Höfer am Altlöhrtor treffen wollte. Ob das Treffen stattgefunden hat, konnten wir noch nicht ermitteln, da die Beschäftigten des Cafés, die zur besagten Zeit dort gearbeitet hatten, gestern nicht da waren. Teilzeitkräfte halt“, er zuckte mit den Schultern. „Wenn es denn aber stattgefunden hat, was ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehme, dann war es sein letztes Treffen, denn alle darauffolgenden Termine hat er nicht mehr wahrgenommen. Das haben wir bereits durch die Angestellten der Firma überprüfen lassen.“

„Und weshalb sind Sie so sicher, Sie Oberschlaumeier“, mischte Wasgau sich ein, „dass das Treffen stattgefunden hat, solange Sie noch keine Bestätigung durch die Angestellten des Cafés haben, hä?“

Würdest du nur endlich lernen, deinen Mund zu halten, wenn es nicht angebracht ist, dachte Auer und schüttelte leicht den Kopf. Das ist genau das, worauf Fisch gewartet hat.

Wasgau erhielt prompt die Quittung für seine vorschnelle Frage.

„Das, mein lieber ‚Oberchef‘, war leicht“, beantwortete Fisch mit einem breiten Grinsen die Frage, „denn in ganz Koblenz und im Umkreis von vierzig Kilometern gibt es lediglich vier Paschkes, die wir alle abtelefoniert haben und bei denen es höchst unwahrscheinlich ist, dass sie eine teure Werbekampagne in Auftrag geben würden. Natürlich müssen wir das Alibi des Malermeisters noch überprüfen, aber die Rentnerin und die Hausfrau und auch der neunzehnjährige Student scheiden wohl per se aus, oder?“

Er blickte abwartend auf Wasgau, der lediglich leicht säuerlich den Mund verzog, ihn aber diesmal glücklicherweise hielt.

„Also gehen wir mal davon aus“, fuhr Fisch unaufgefordert fort, „dass der Name des Treffpartners nicht sein wirklicher Name war, und hoffen, dass wir von den Angestellten des Cafés vielleicht eine Personenbeschreibung bekommen können. Aber zumindest bezüglich des verschwundenen Wagens unseres Opfers kann uns Harry etwas mehr sagen.“

Er blickte Harry Kruse an. „Dein Auftritt.“

Harry schüttelte den Kopf. „Kindskopf! Aber okay, ja, wir haben bezüglich des Wagens einen Erfolg zu vermelden. Nachdem wir im Fitnessstudio nachgefragt haben, wo er von elf Uhr bis zwölf Uhr trainiert hat, haben sie uns dort erzählt, dass er nach dem Duschen mit seiner Trainingstasche wieder gegangen ist. Die Rezeptionistin meinte, sie hätte mal mitbekommen, dass er meistens mit dem Auto käme, weshalb wir durch die Kollegen von der Trachtengruppe“, ein warnender Blick von Auer ließ ihn in seinen Ausführungen stocken, „äh ... ich meine, durch eine Gruppe von der Schutzpolizei die umliegenden Parkhäuser haben überprüfen lassen. Und voilà, der Wagen stand im Parkhaus des Forum Mittelrhein. Beim Opfer befanden sich ja auch die Schlüssel zu dem Wagen, übrigens ein sündhaft teurer Jaguar, und wir haben im Kofferraum seine Sporttasche gefunden. Man kann also wohl davon ausgehen, dass er vom Training aus zum Wagen gegangen ist, die Tasche abgelegt hat und dann zu dem Treffen mit dem ominösen Paschke gegangen ist. Aufgrund der Angaben im Fitnessstudio und der Wegstrecke können wir also inzwischen davon ausgehen, dass das Treffen etwa um 12 Uhr 30 stattgefunden haben muss. Das macht es vielleicht ein wenig einfacher, Zeugen zu finden, die es eventuell beobachtet haben können. Wir werden heute noch mal die Angestellten des Cafés befragen.“

Harry legte seinen Zettel mit den Notizen hin und signalisierte damit, dass er nichts mehr zu erzählen hatte.

„Okay,“ übernahm Auer wieder die Gesprächsführung. „Gerd, berichtest du bitte von eurem Besuch bei Doktor Rossbacher? Bitte für Herrn Wasgau und die Oberstaatsanwältin auch den Hintergrund, warum ihr ihn befragt habt.“

Befriedigt stellte Auer fest, dass seine Unterschlagung der Dienstbezeichnung seines Chefs die gewünschte Wirkung gezeigt hatte. Wasgau hasste es, nicht mit Kriminal­oberrat angesprochen zu werden, und war, wie zu erwarten, zusammengezuckt.

„Die Kollegin Crott und ich“, begann Duben zu Sandra Hartung und Wasgau gewandt, „hatten bereits durch die Befragung der Ehefrau und der Mitarbeiter in der Werbeagentur erfahren, dass Raimund Kellermann unter einer psychischen Störung litt. Bei der Durchsuchung seiner Villa haben wir Unterlagen seiner Krankenkasse gefunden, laut dessen er bei einem Doktor Rossbacher, einem Koblenzer Psychotherapeuten, in Behandlung war. Coco und ich waren gestern Nachmittag bei dem lieben Doktor, und der Besuch war ... nun ja ... mal einfach ausgedrückt, höchst unbefriedigend. Er beruft sich auf seine ärztliche Schweigepflicht und hat noch nicht mal bestätigen wollen, dass Kellermann einer seiner Patienten war. Ich war da wohl ein wenig blauäugig, was die Bereitschaft eines Doktors angeht, der Polizei in einer Morduntersuchung zu helfen.“

Er zuckte hilflos mit den Schultern.

Auer sah Sandra Hartung an. „Sehen Sie eine Chance auf die Erwirkung eines richterlichen Beschlusses zur Beschlagnahme der Patientenakten, Frau Oberstaatsanwältin?“

 

Sie sah ihn überrascht an. „Auf welcher Grundlage? Weil ein Mordopfer Patient bei einem Psychotherapeuten war? Gibt es auch nur den kleinsten Hinweis darauf, dass seine Ermordung etwas mit seinen psychischen Problemen zu tun hatte? Ich denke mal, nein, denn sonst hätten wir es ja bereits gehört, nicht wahr? Also ... kein Beschluss. Ich hole mir doch keine rote Nase beim zuständigen Ermittlungsrichter, keine Chance.“

Wasgau schien es nicht mehr aushalten zu können.

„Ja, und wie soll es dann mit den Ermittlungen weitergehen? Haben Sie schon einen Plan, was man als Nächstes tun kann?“

Bevor Auer antworten konnte, kam die sofortige Retourkutsche der Oberstaatsanwältin, die sich offensichtlich angesprochen fühlte.

„Na, dann machen Sie doch mal einen intelligenten Vorschlag.“ Sie wartete noch nicht einmal ab, ob Wasgau in der Lage war, einen solchen zu machen, und fuhr barsch fort: „Ach ja, ich hatte vergessen, dass das nicht so Ihre Sache ist ... das mit den intelligenten Vorschlägen.“

Sie stand auf und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Über die Schulter rief sie noch: „Halten Sie mich auf dem Laufenden!“, und war kurz darauf verschwunden.

„Hmmm ...“, meldete sich Fisch in das betretene Schweigen, „ich hätte da mal eine Frage. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Psychotherapeuten und einem Psychiater? Ich weiß, ich könnte das einfach googeln, aber da wir ja eine Quasi-Expertin unter uns haben“, er warf Coco einen vielsagenden Blick zu, „dachte ich, sie könnte uns das mal erklären ... oder zumindest mir“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

Bevor Coco antworten konnte, gab Auer sich einen Ruck und setzte mit einer Erklärung an.

„Man unterscheidet zwischen Psychiatern, Psychotherapeuten, Psychologen und Neurologen. Der Psychiater ist ein Arzt, der aber auch gleichzeitig Psychotherapeut sein kann. Beide behandeln Erkrankungen des Geistes und der Seele. Allerdings kann der Psychotherapeut keine Medikamente verschreiben, wenn er nicht gleichzeitig Psychiater ist. Der Psychologe macht eher in Diagnostik, wenn er nicht auch gleichzeitig Psychotherapeut ist, und der Neurologe kümmert sich eher um körperliche Erkrankungen, zum Beispiel der Nervenbahnen. Das ist ein sehr komplexes Thema, zumal es verschiedenste Kombinationen der einzelnen Fachrichtungen gibt.“

Das war eine für seine Verhältnisse eher längere Ansprache, und Auer registrierte sehr wohl die überraschten Blicke von Fisch und Harry. Duben nickte lediglich, als hätte er nichts anderes erwartet, als dass Auer sich diesbezüglich auskannte.

Es wunderte ihn allerdings etwas, dass auch Coco nicht erstaunt schien, da sie ja nichts von seinem Studium wusste.

„Woher weißt du so viel darüber?“, fragte Fisch erstaunt.

„Das ist doch Allgemeinwissen, so was sollte ein Kriminalbeamter eigentlich wissen“, beschönigte Auer und bemerkte gleichzeitig die hochgezogene Augenbraue bei Coco.

Sie glaubt mir nicht. Vielleicht sollte ich ihr doch ehrlicherweise erklären, woher ich mich so gut auskenne.

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