Transplantierter Tod

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Kapitel 4

Nun saß er in diesem seltsamen, mit den unterschiedlichsten Möbelstücken vollgepackten Zimmer in der Villa der Familie Ahlsbeek und wartete auf die erste Begegnung mit den Mitgliedern dieser geheimnisvollen Sippe. Seit seiner Operation waren zwölf Wochen vergangen und er hätte lieber früher als erst jetzt diese Begegnung gesucht, aber die Einstellung auf die erforderlichen Medikamente, die notwendige Physiotherapie und die Ernährungsumstellung hatten ihn länger in Anspruch genommen, als er sich vorgestellt hatte. Andererseits hatten ihm Ärzte und Therapeuten eine erstaunlich schnelle Genesung betätigt und er konnte froh sein, dass nicht noch weitere zehn bis zwölf Wochen hatten vergehen müssen.

Das Dossier, das Ben ihm tatsächlich zehn Minuten später zugesandt hatte, war schmaler gewesen als erhofft. Die Familie Ahlsbeek war eine alteingesessene und stinkreiche Reederei-Dynastie, die großen Wert auf möglichst geringe Medienpräsenz legte. So waren auch fast keine Bilder der Familie in den Netzen vorhanden, außer wirklich sehr alten Familienfotografien. Die Familie musste ein Vermögen dafür hinlegen, dass fachkundige IT-Experten alle Fotos und unerwünschte Berichte aus dem Internet entfernten. Sowohl durch Bens Dossier als auch durch seine eigenen Recherchen hatte er zumindest die Grundzüge der Familiengeschichte und -hierarchie herausgefunden.

Auf dem Papier stand der inzwischen 81-jährige Lars Ahlsbeek der Familie vor. Er war in zweiter Ehe verheiratet mit einer Deidre Ahlsbeek, geb. Ryder, über die Eduard im Internet rein gar nichts hatte finden können. Sie war 30 Jahre jünger als ihr Mann und hatte ihm zwei Kinder geschenkt, Liam Ahlsbeek und seine jüngere Schwester Gwendolyn Ahlsbeek, 27 Jahre alt. Lars Ahlsbeeks erste Frau war ein Jahr nach der Geburt der Tochter Britta gestorben. Diese Tochter war 50 Jahre alt, mit einem gewissen Knut Weimar verheiratet und die beiden leiteten in Vertretung des Vaters die Reederei.

Sehr viel mehr war nicht herauszufinden gewesen, aber die Informationen hatten zumindest dafür gereicht, die Familie zu kontaktieren und einen Termin zu verabreden. Dabei hatte Eduard sich bislang darauf beschränkt, als Grund für den Termin anzugeben, er hätte Informationen über den verstorbenen Sohn Liam ... mehr nicht.

Den Umstand, dass er der Empfänger des Herzens war, wollte er diesen Leuten lieber persönlich, von Angesicht zu Angesicht mitteilen.

Gerade als er sich aus der Wasserflasche nachschenkte, öffnete sich eine zweiflügelige Tür und das Erste, was er sah, war der hereinrollende Rollstuhl mit einem darin sitzenden, sehr alten Mann. Ihm fielen zuerst die im Schoß gefalteten Hände auf und erst danach sah er die attraktive Frau mittleren Alters, die den Rollstuhl schob. Sie war klein und zierlich, hatte lange schwarze Haare, und eine nicht erkennbare Augenfarbe, da sie eine stark getönte Brille trug. Bei ihr musste es sich um Deidre, Lars Ahlsbeeks zweite Frau handeln, die Mutter seines Herzspenders. Bei ihrem Anblick wurde ihm flau im Magen, wenn er sich vorstellte, ihr gleich sagen zu müssen, dass er das Herz ihres toten Sohns in sich trug. Eduard schluckte schwer, während sich alles in ihm verkrampfte.

In diesem Moment trat hinter ihr eine junge Frau aus dem Schatten ... und ihm stockte der Atem. Sie war fast einen ganzen Kopf größer als die vor ihr gehende Frau und sie war ohne Zweifel deren Tochter, die jüngere Schwester von Liam Ahlsbeek. Für einen Moment blitzte der Gedanke durch Eduards Hirn, was die Drei wohl dachten, wenn ihnen sein fassungsloses Kopfschütteln aufgefallen war. Erst mit einiger Verzögerung gelang es ihm, seinen offenstehenden Mund zu schließen.

Gwendolyn Ahlsbeek war mit ihren 27 Jahren die mit Abstand schönste Frau, die er in seinem ganzen bisherigen Leben gesehen hatte. Gleichgültig ob in der Realität, in Filmen, im Fernsehen oder auf Bildern. Seltsamerweise konnte er es nicht an einem oder mehreren bestimmten Merkmalen festmachen. Sie hatte die schwarzen Haare ihrer Mutter, herrlich glänzendes, fast blauschwarzes Haar, das glatt und voll über ihre Schultern fiel. Bereits aus einer Entfernung von fast vier Metern erkannte er ihre grünen Augen. Noch nie hatte er solche leuchtenden grünen Augen gesehen. Ihre perfekte Figur mit schlanker Taille und optimalen Proportionen zwischen Brüsten und Hüften hätte jedem Topmodel gut zu Gesicht gestanden. Ihre Beine hätte er, selbst wenn sie für ihn sichtbar gewesen wären, unter keinen Umständen begutachten können, so fasziniert war er von diesem Gesicht. Die dunkelrot geschminkten Lippen standen in einem ultrastarken Kontrast zu der hellen, fast bleichen Haut. Abgesehen von dem starken Ausdruck der großen, grünen Augen, war in ihnen eine Traurigkeit, wie Eduard sie selten gesehen hatte, nicht einmal bei Trauergästen an einem Grab von geliebten Verwandten.

»Was ist es, das Sie uns über unsern Sohn zu erzählen haben? Los, reden Sie!«

Der Alte hielt sich wirklich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, das musste man sagen. Aber seine rüde Ansage brachte Eduard zumindest auf den Erdboden zurück und lenkte ihn von dieser Frau ab. Nun erst betrachtete er den alten Mann genauer und seine etwas schleppende Sprechweise gab ihm den Hinweis, wohin er sehen musste, um zu erkennen, was ihm bisher entgangen war. Es war erstaunlich, wie geschickt der Greis die Folgen des Schlaganfalles verbarg, der ihn vermutlich erst in den Rollstuhl gebracht hatte. Die linke Hand lag über der rechten, und er hielt den Kopf so, dass der etwas hängende rechte Mundwinkel nur bei genauerem Hinsehen auffiel ... oder wenn man wusste, auf was man zu achten hatte. Er trug einen altmodischen Pullunder mit maritimen Mustern über einem marineblauen Hemd. Die weiße Hose hatte makellose Bügelfalten und seine Füße steckten in hochwertigen Pantoffeln. Sie waren auf den Fußrasten des Rollstuhls abgestellt und außer seinem Mund hatte sich während seiner kurzen Ansprache kein einziger Teil seines Körpers bewegt. Den Oberkörper hielt er stocksteif und aufrecht und seine ganze Haltung verströmte den Eindruck von ... Eduard fiel kein anderer Begriff ein ... Macht und Autorität.

»Einen schönen guten Tag. Frau Ahlsbeek, Herr Ahlsbeek, bitte verzeihen Sie mir, dass ich Sie so unvorbereitet mit etwas konfrontieren muss, was ich Ihnen leider nicht per Mail oder am Telefon sagen konnte. Wussten Sie, dass Ihr Sohn Liam Organspender war?«

»Selbstverständlich wussten wir das. Was wollen Sie? Uns Informationen verkaufen, wer die Organe unseres Sohnes erhalten hat? Ich wage zu bezweifeln, dass ausgerechnet Sie etwas wissen, das ich trotz all meines Geldes nicht in Erfahrung bringen konnte. Lassen Sie es gut sein. Ich falle auf solche Betrügereien nicht rein. Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei.«

Er murmelte ein kurzes: »Darling, bitte«, und seine Frau begann, den Rollstuhl zu wenden.

Wenn er nun nichts unternahm, war seine Reise nach Hamburg vergebens gewesen.

»Ich will Ihnen nichts verkaufen, Herr Ahlsbeek. Ich habe bereits etwas von Ihrer Familie, das mehr wert ist, als alles Geld das Sie mir geben könnten.«

Bei diesen Worten begann er, langsam sein Hemd aufzuknöpfen. Dabei musste er nicht zu den Ahlsbeeks blicken, um zu wissen, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Während er von oben beginnend einen Knopf nach dem anderen öffnete, blickte er auf und sah die Ahlsbeeks an. Sie wiederum starrten ihn mit aufgerissenen Augen an, und als Eduard das Hemd so weit auseinanderzog, dass jeder einen direkten Blick auf seine entblößte Brust hatte, hörte er, wie drei Menschen gleichzeitig hörbar tief Luft holten. Die junge Tochter, Gwendolyn, schlug die Hand vor den Mund und erstickte damit einen Aufschrei. Deidre Ahlsbeek nahm wie in Trance die getönte Brille ab und Eduard bemerkte, dass sie die gleichen grünen Augen wie ihre Tochter hatte. Aus genau diesen Augen flossen nun ungehindert Tränen ihre Wangen hinunter. Dennoch gab sie keinen Laut von sich.

Bisher war Lars Ahlsbeek der Einzige gewesen, der gesprochen hatte. Daran änderte sich auch nun nichts.

»Sie ... Sie haben ... sein Herz.«

Es war weder eine Frage noch ein überraschter Ausruf, sondern eine nüchterne, wenn auch zögerlich geäußerte Feststellung. Seine Frau sah Eduard durch ihre von Tränen verschleierten Augen an, wie einen Geist. Dann bekreuzigte sie sich, wandte sich um und lief davon. Die Tochter trat, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden, hinter den Rollstuhl und erfasste die beiden Griffe. Noch immer sprach sie kein Wort und auch ihr Vater sah Eduard lediglich unverwandt an.

Während er aufstand und sein Hemd wieder zuknöpfte, startete er einen letzten Versuch:

»Es war sicherlich nicht die beste Idee, Sie so unvorbereitet mit dieser Nachricht zu konfrontieren, aber ich hätte nicht gewusst, wie ich es Ihnen hätte schonender beibringen können. Bitte beruhigen Sie sich, denken Sie darüber nach, und wenn Sie mich kontaktieren möchte, finden Sie mich im Hotel Atlantic.«

Er ging an den beiden vorbei, die weiterhin starr nach vorne sahen. Die übliche Reaktion, einem davongehenden Besucher hinterherzusehen, blieb in ihrem Fall aus. Kurz bevor er durch die Tür hinausging, drehte er sich noch einmal um und sprach in den Rücken der verbliebenen zwei Mitglieder der Familie Ahlsbeek.

»Ich werde für mindestens zwei Tage in Hamburg bleiben ... und ich würde mich freuen, wenn Sie sich überwinden könnten, mit mir über Ihren verstorbenen Sohn zu sprechen. Ich bin ihm sehr dankbar und ich würde gerne mehr über ihn und sein Leben erfahren.«

Noch im Hinausgehen hoffte er, dass ihn jemand aufhalten würde, dass jemand ihm hinterherrufen würde, er solle bleiben und sie würden reden. Das geschah nicht und Eduard war froh, dass er nicht gesagt hatte, was ihm kurz durch den Kopf gegangen war: »Ich bin ihm sehr dankbar und ich würde gerne mehr über ihn, sein Leben und die Umstände seines Todes erfahren.«

 

inzwischen war ihm klar, wie gut es gewesen war, dass er seinen Schlusssatz etwas entschärft hatte und den Tod seines Spenders vorerst ausgeklammert hatte. Nach den Umständen oder gar dem Grund seines Suizids zu fragen, wäre nicht nur geschmacklos gewesen, sondern hätte die Familie seines Spenders mit großer Sicherheit sehr verärgert.

Als Journalist hatte er ein feines Gespür dafür entwickelt, was in Leuten vorging, mit denen er sich unterhielt. Abgesehen davon, dass er der Familie, oder zumindest den anwesenden Mitgliedern der Familie, eine wirklich überraschende und erschreckende Nachricht überbracht hatte, war ihm das Verhalten seltsam erschienen.

Lars Ahlsbeek macht ihm nicht den Eindruck eines Mannes, der von einer solchen Nachricht so geschockt sein würde, dass er zu keiner Antwort mehr fähig wäre. Er musste Fragen haben, warum also hatte er sie nicht gestellt?

Liams Mutter war zu entsetzt gewesen und musste offensichtlich den Schock erst verarbeiten. Ihre Reaktion empfand Eduard als durchaus normal. Was ihn am meisten beschäftigte, war die Reaktion von Liams Schwester, Gwendolyn.

Nachdem sie zuerst entsetzt die Hand vor den Mund genommen hatte, war es ihr Blick gewesen, der ihn unsicher machte. Da war etwas wie Neugier oder Überlegung in diesem Blick gewesen, was er normalerweise kurz vor einer Frage sah. Menschen, die ihn so ansahen, wollten in der Regel etwas von ihm wissen, aber sie hatte dennoch kein einziges Wort gesprochen ... was er sehr bedauerte. Zu gerne hätte er die Stimme gehört, die zu dieser schönen jungen Frau gehörte.

Als er das Haus verließ, schwirrten ihm mehr Fragen durch den Kopf als vor seinem Eintreffen. An allererster Stelle fragte er sich, ob er nochmal etwas von dieser Familie hören würde.

Kapitel 5

Sein Zimmer im Hotel Atlantic Kempinski in Hamburg hatte er für vier Nächte gebucht. Aufgrund seiner Akkreditierung als Journalist hatte er einen Rabatt für die Suite erhalten und nur 700 Euro zahlen müssen. Damit war lediglich die Hälfte des Betrages verbraucht, den er durch die irgendwann mal abgeschlossene Krankenhaus­tagegeld­versicherung erhalten hatte. Noch war ihm absolut unklar, ob er drei Nächte zu viel oder zehn zu wenig gebucht hatte.

Die Suite war riesig, bestand aus einem Schlaf- und einem Wohnraum, die durch eine zweiflügelige Tür voneinander getrennt waren. Sie war modern und funktional eingerichtet, bot einen herrlichen Blick auf die Alster und lediglich der Kronleuchter in der Mitte der Wohnraumdecke erinnerte an die Anfänge des Hotels zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es das Hotel für Passagiere der Amerika Linie darstellte. Was Eduard allerdings einen Moment lang in Versuchung führte, den Concierge anzurufen, und ein anderes Zimmer zu verlangen, war die Farbe der Polster der Sitzmöbel in dem fast 25 Quadratmeter großen Wohn- und Aufenthaltsraum. Es handelte sich um ein Lila, das ihm sofort den Spruch ins Gedächtnis rief: Lila ist die Lieblingsfarbe der sexuell Unbefriedigten.

Normalerweise hätte ihn das eher zum Lachen gebracht, aber in Ermangelung einer Beziehung hatte er bereits zum Zeitpunkt seines Herzinfarktes seit fast zwei Monaten keinen Sex mehr gehabt. Das war immerhin schon fünfzehn Wochen her, was seine Zeit ohne Sex auf über fünf Monate summierte. Genau aus diesem Grund empfand er die aufdringliche Farbe als Verhöhnung seiner Situation. Schließlich fand er sich aber damit ab, schob es auf einen unglücklichen Zufall und kümmerte sich zunächst um seine Gesundheit. Die Zahl der Medikamente, die er regelmäßig nehmen musste, hatte ein Ausmaß, das er sich in gesunden Tagen niemals hätte vorstellen können. Medikamente zur Blutdrucksenkung, zur Unterdrückung des Immunsystems, das nichts lieber getan hätte als sein neues Herz zu bekämpfen, Aufbaupräparate und, und, und.

Die Ärzte hatten ihm höchste Sorgfalt bei der Einnahme ans Herz ... ha, ha, ans neue Herz ... gelegt. Sie hatten ihm alle Risiken dargelegt, wenn er sich nicht an ihre Anweisungen hielt, und das waren nicht wenige. Es gab Einnahmevorschriften für die Medikamente, Ernährungsregeln, welche Getränke und welche Speisen verboten, welche nicht empfehlenswert und welche richtig waren. Das absolute Rauchverbot traf ihn nicht, da er schon seit zehn Jahren nicht mehr geraucht hatte. Die Einschränkungen beim Sport bereiteten ihm viel mehr Kummer, würde es doch noch einige Zeit dauern, bis er sein Joggingtraining wieder aufnehmen konnte. Auf der anderen Seite musste er sich keine Gedanken darüber machen, nun in kürzester Zeit enorm zuzunehmen, denn der Ernährungsplan war auf fett- und kalorienarme, also fade schmeckende Lebensmittel ausgelegt.

Aber er hatte vor, sich an alle Vorschriften und Empfehlungen sklavisch zu halten, um seine zweite Chance auf ein erfülltes Leben nicht zu gefährden. Was war ein ganzes Leben gegen ein paar Monate ohne Sex?

Nachdem er das Zimmer bezogen und sein spärliches Gepäck ausgepackt hatte, baute er als Erstes sein mobiles Büro, also den Laptop, auf dem Schreibtisch im lila Wohnraum auf und verband sich mit dem WLAN des Hotels. Nun konnte er sowohl im Internet recherchieren als auch seine Mails abrufen oder welche versenden.

Als Erstes schrieb er eine Mail an Benjamin, in der er ihm mitteilte, dass er wohlbehalten in Hamburg angekommen sei und nun im Atlantic wohnte. Eduard schlug ein Treffen in der Bar des Hotels um 20:00 Uhr vor und schickte die Mail ab.

Gerade als er weitere Informationen über die Familie Ahlsbeek recherchieren wollte, klingelte das Tischtelefon seiner Suite.

Verwundert nahm er den Hörer ab. Gab es ein Problem oder aus welchem Grund rief ihn die Rezeption an?

»Ja bitte?«

»Ähem ... Herr von Gehlen ... hier ist eine ... ähem ... Dame, die Sie zu sprechen wünscht.«

Der Rezeptionist betonte die Dame so, dass Eduard keinen Zweifel hatte, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Sollte das ein übler Scherz von Ben sein, ihm eine Prostituierte ins Hotel zu schicken? Wer sonst wusste noch, dass er hier wohnte?

»Fragen Sie sie bitte, was sie von mir will.«

»Gerne ... einen Moment bitte.«

Vermutlich hielt er die Sprechmuschel seines Telefons zu, denn er konnte nicht hören, wie der Concierge die Dame ansprach. Nach wenigen Sekunden meldete er sich wieder.

»Sie sagt, es gehe um ihren Bruder ... ähem ... also den Bruder der Dame ... ich meine ...«

»Schon gut, ich hab’s kapiert. Schicken sie die Dame zu mir rauf, ich weiß, um wen es sich handelt.«

Selbstverständlich war ihm sofort klar gewesen, wer da an der Rezeption stand und ihn sprechen wollte.

Liams Schwester Gwendolyn!

Seltsamerweise war sein erster Gedanke, wie in aller Welt der Rezeptionist sie mit einer Dame des horizontalen Gewerbes verwechseln konnte. Unvorstellbar!

Eduard sprang auf und hetzte ins Badezimmer, um dort sein äußeres Erscheinungsbild zu kontrollieren. Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, befriedigte ihn nicht in dem Maße, wie er es sich gewünscht hätte. Seine hagere Gestalt war durch die Belastungen der Operation und der Rekonvaleszenzphase dürrer geworden, als es ihm lieb war. Die Bräune, die ihn aufgrund des regelmäßigen Joggings an der frischen Luft immer ausgezeichnet hatte, war einer eher bleichen oder wenigstens faden Gesichtsfarbe gewichen. Mit seinen 1,92, den blonden, etwas wirr vom Kopf abstehenden Haaren und den blauen Augen, sah er eher aus wie ein halbverhungerter Wikinger, als der Junge aus der niederbayrischen Provinz in der Nähe von Passau.

Einzig der von ihm sorgsam gepflegte Drei-Tage-Bart wirkte dem kränklichen Aussehen entgegen. Er bleckte die Zähne und stellte befriedigt fest, dass er keine Essensreste dazwischen hängen hatte und sein bestes Lächeln auch ansprechend rüberkam. Im nächsten Moment fragte er sich, was er da eigentlich machte. Will ich Informationen oder eine junge Frau beeindrucken? Allerdings musste er zugeben, dass jeder Gedanke an Gwendolyn Ahlsbeek seinen Puls erhöhte und vermutlich den Blutdruck in ungesunde Bereiche ansteigen ließ.

Lächerlich, rief er sich zur Ordnung. Was bildest du dir eigentlich ein? Machst du dir tatsächlich Hoffnung, diese Frau in irgendeiner Weise beeindrucken zu können?

Ein leises und zaghaft erscheinendes Klopfen an der Tür der Hotelsuite holte ihn aus seiner Traumwelt und ließ ihn zum Eingang eilen.

Hastiger als beabsichtigt riss er die Tür auf ... um sich unvermittelt einer jungen Frau gegenüberzusehen, die eine Hand erhoben hatte, um ein weiteres Mal an die Tür zu klopfen.

»Wer sind ...?«, setzte er verblüfft an, um im nächsten Moment innezuhalten. Trotz der blonden, halblangen Haare, dem roten Minilederkleid und dem Pelzjäckchen, verrieten ihm die grünen Augen auf den zweiten Blick, dass es sich tatsächlich um Gwendolyn Ahlsbeek handelte, die da vor seiner Hotelzimmertür stand. Sie wirkte ein wenig gehetzt und machte kein glückliches Gesicht.

»Wollen Sie mich nicht hineinlassen?«

»Ach so ... ja ... selbstverständlich. Kommen Sie bitte herein.«

Sie stürmte an ihm vorbei und er verschloss eilig die Tür. Als er ihr in den Wohnraum folgte, hatte sie bereits ihr rotes Handtäschchen auf die Sitzgarnitur geworfen und sich die blonde Perücke vom Kopf gerissen. Sie schüttelte ihre langen schwarzen Haare aus, während sie ausgiebig fluchte ... in einer Sprache, die er nicht verstand.

Eduard stand etwas hilflos noch im Eingangsbereich des Zimmers und schaute sie weiterhin mit offen stehendem Mund an. Er verstand die Sprache zwar nicht, aber sie klang trotzdem seltsam vertraut, und aus ihrem Blick und der Art, wie sie die Worte hervorstieß, war unschwer zu erkennen, dass sie fluchte.

Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, ließ er sich dazu hinreißen, die erste Frage zu stellen, die ihm in den Sinn kam.

»Was ist das für eine Sprache, die Sie da sprechen? Sie klingt schön!«

Sie zog tief die Luft durch die Nase ein und stieß sie dann mit einem lauten »Puuuh« wieder durch den Mund aus. Dann sah sie ihn verwundert an.

»Ach so ... ja ... entschuldigen Sie, das war sehr unhöflich von mir. Aber immer wenn ich mich ärgere oder aufgeregt bin, verfalle ich schnell in Gymraek, die Sprache, die ich mit meiner Mutter und meinem Bruder spreche.«

Erst als sie es ausgesprochen hatte, bemerkte sie, was sie da gerade gesagt hatte. »... mit meinem Bruder gesprochen habe«, korrigierte sie traurig und etwas leiser.

Da er aus seinen Recherchen inzwischen wusste, dass ihre Mutter Waliserin war, konnte er eine Vermutung anstellen.

»Also ist dieses Gymraek eine Sprache, die in Wales gesprochen wird?«

»Ja, es ist neben Englisch die zweite Amtssprache. Eine keltische Sprache, die so ähnlich auch von den Bretonen gesprochen wird. Allerdings«, sie sah ihn mit fragendem Blick an, »wären Sie der erste Deutsche, dem der Klang dieser Sprache gefiele.« Sie schüttelte verwundert den Kopf und die schwarzen, glatten Haare wehten wie in einem leichten Wind von rechts nach links und wieder zurück.

Er hätte ihr sagen können, was er als Ursache vermutete, aber es erschien ihm noch nicht als der richtige Zeitpunkt.

»Darf ich fragen, warum Sie sich ... nun ja ... so seltsam verkleidet haben?«

»Ja, Sie dürfen. Ich hasse es, diese Verkleidung zu benutzen, wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege. Das ist auch der Grund, warum ich so geflucht habe. Bitte entschuldigen Sie diese Entgleisung.«

»Aber ich habe doch kein Wort verstanden.«

Sie lachte und entblößte dabei ihre fast makellosen Zähne, die von einer kleinen Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen dominiert wurden. Es wirkte irgendwie süß.

»Was für ein Glück, sonst müsste ich mich in den Boden schämen.«

»Und warum müssen Sie sich nun verkleiden?«

Sie schnaubte ärgerlich, sah ihn dann aber sehr ernst an und sprach erst nach einem merklichen Zögern.

»Seit dem Mord an meinem Bruder belagert die Presse unser Anwesen und versucht uns auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege, muss ich mich verkleiden, damit ich sie überhaupt abschütteln kann.«

Eduard nickte verständnisvoll ... und auf einmal dämmerte ihm, was sie gerade gesagt hatte.

»Haben Sie gerade gesagt ›Mord‹?«

 

»Ja, Herr von Gehlen, ich sagte Mord, denn ich bin aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass mein Bruder genau das wurde: ermordet!«