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Welt der Wölfe Band 1

von Dessa Lux

Aus dem Englischen von Lena Seidel

Impressum

© dead soft verlag Mettingen 2021

http://www.deadsoft.de

© the author

Titel der Originalausgabe: Omega Required

Übersetzung: Lena Seidel

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Tony Marturano – shutterstock.com

© Derek R. Audette – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-433-9

ISBN 978-3-96089-434-6 (epub)

Inhalt:

Der Alpha Werwolf Beau Jeffries geht seine eigenen Wege, nachdem er als Teenager aus seinem Rudel verwiesen wurde, weil er einem Menschen geholfen und damit die Geheimnisse des Rudels gefährdet hatte – in einer Zeit, in der die Menschheit die Wahrheit über die Existenz der Werwölfe erst lernen musste.

Jetzt soll er der erste Werwolf sein, der in einem speziellen Programm seine Zeit als Assistenzarzt absolvieren darf. Doch für ihn gelten Regeln – denn ohne Rudelzugehörigkeit muss er verheiratet sein.

Der Omega-Werwolf Roland Lea versucht nur zu überleben. Nach der letzten und schlimmsten Beziehung in seinem Leben hat er einen Unterschlupf in einem Haus für heimatlose Omegas gefunden. Doch es geht ihm von Tag zu Tag schlechter. Als ihm das Angebot gemacht wird, sich bei einer Dating-Agentur anzumelden, ist er der Meinung, dass er nichts zu verlieren hat.

Als Beau Rolands Profil sieht, weiß er auf Anhieb, warum es dem Omega so schlecht geht und er sieht sich verpflichtet, ihm zu helfen. Wenn er Roland überreden kann, ihn zu heiraten, kann er Rolands Leben retten – und Roland kann ihm helfen, den Platz an der Klinik zu bekommen.

Aber kann eine Beziehung, die aus Vernunftgründen entsteht, auch zu echter Liebe führen?

Kapitel 1

Der kurz vor seiner Promovierung stehende Arzt Beau Jeffries tat sein Bestes, es nicht zu zeigen, aber er konnte kaum glauben, dass er auf dem Campus der Rochester-Klinik herumwanderte, die vielleicht sein zukünftiges Zuhause war. Das Bewerbungsgespräch für das Assistenzprogramm war eigentlich ein kompletter Tag voller Gespräche, unterbrochen von Mahlzeiten und anderen ‚nebensächlichen‘ Ereignissen, von denen Beau wusste, dass sie für den Eindruck, den er machte, nicht weniger entscheidend waren.

Er musste einen makellosen Eindruck hinterlassen. Beau war der einzige Werwolf, der für einen Aufenthalt in Rochester ausgewählt worden war.

Selbst mit exzellenten Noten und brillanten Empfehlungen würde es ein harter Kampf werden, sich einen Platz in dem Programm, das den Schwerpunkt Humanmedizin hatte, zu sichern.

Als er zum Wartebereich vor dem Büro des Direktors dieses Programms geführt wurde, lächelte ihn die Verwaltungsassistentin leicht an, und er versuchte, das mit der gleichen Intensität zu erwidern. „Dr. Aster wird gleich bei Ihnen sein.“

„Kein Problem“, sagte Beau und ging zu den Stühlen, auf die sie gedeutet hatte, um sich zu setzen. Sie nickte und kehrte an ihren Schreibtisch zurück.

Wie praktisch jeder Mensch, also jede Person, die er in Rochester getroffen hatte, wirkte sie überhaupt nicht verängstigt oder übermäßig neugierig. Er hatte hier sogar Werwölfe bemerkt, die als Sicherheitskräfte oder Ordner arbeiteten. Er war keinem von ihnen vorgestellt worden und hatte sie nicht verraten, indem er sich anmerken ließ, dass sie ihm aufgefallen waren, aber sie waren da, arbeiteten mit diesen Menschen und wurden von ihnen akzeptiert. Abgesehen von der Rochester-Klinik war das nur ein weiterer Punkt, der ihn veranlasste, dieses Programm gedanklich als seine erste Wahl einzustufen, noch bevor er sein Gespräch beendet hatte.

Bei sämtlichen Bewerbungsgesprächen, die er allesamt hervorragend gemeistert hatte, war Beau der einzige Werwolf-Medizinstudent gewesen. In seiner Abschlussklasse hatte sich eine Handvoll anderer befunden, aber er hatte sich für die Northwestern entschieden, weil es eine der wenigen Medizinfakultäten im Land war, die bekennende Werwolf-Studenten hatte. Es gab nicht viele Werwölfe in der Medizin, und außer Beau gab es keinen, den er kannte, der Menschen behandeln wollte, statt in den brandneuen Bereich der Werwolfforschung zu gehen.

Natürlich konnte man dort viel Gutes tun. Beau war genauso neugierig wie jeder zu erfahren, wie seine eigene Art wirklich tickte. Aber Werwölfe waren Jahrhunderte lang vor der Offenbarung ohne moderne Medizin ausgekommen, vor allem weil Werwölfe verdammt schwer zu töten waren. Die Entscheidung, dass Werwölfe Menschen waren und sie zu töten Mord bedeutete, war im gleichen Jahr in Kraft getreten, in dem Beau die Highschool abgeschlossen hatte, und diese Entscheidung hatte die Lebenserwartung der Werwölfe mehr verbessert, als es die gesamte Ärzteschaft jemals konnte.

Menschen dagegen konnten von allen möglichen Dingen umgebracht werden. Beau wollte Arzt werden, weil er Menschen retten wollte – und das bedeutete, dass er ein Arzt für die Menschen sein wollte, die Rettung brauchten.

Er hatte davon geträumt, am Rochester zu arbeiten, lange bevor er die medizinische Ausbildung anfing. Rochester war die letzte Zuflucht für viele kranke Menschen, die weltbekannte Klinik für schwierige Fälle. Wenn Beau beweisen wollte, dass die Sinne eines Werwolfs, in Verbindung mit einer fundierten medizinischen Ausbildung, durch eine verbesserte Diagnose Leben retten konnten, war dies der richtige Ort, um es zu tun.

Also musste er wirklich aufhören, jedes Mal zu grinsen wie ein Idiot, wenn er ein neues Schild, einen Briefkopf oder ein Mitarbeiterschildchen mit dem Rochester-Klinik-Emblem sah. Er war hier, um für eine Assistenzarztgenehmigung in Betracht gezogen zu werden, und nicht um ein Autogramm einer medizinischen Einrichtung zu bitten.

Während er wartete, hielt er den Blick gesenkt, und konnte nicht anders, als auf sein eigenes Besucherschild zu starren. Sein Bild prangte darauf, kopiert von einem Foto, das er mit seiner Bewerbung mitgeschickt hatte. Er hatte sich große Mühe gegeben, sein Lächeln richtig in Szene zu setzen, ein warmer Ausdruck, der dem Klischee eines dunkelhaarigen, dunkeläugigen Alpha-Werwolfs entgegenwirkte. Er war gut zwei Meter groß, mit der breiten, muskulösen Alpha-Figur, die die Menschen vor ihm zurückschrecken ließ, noch bevor sie wussten, was er war, wenn er nicht darauf achtete, freundlich und ungefährlich auszusehen. Es erinnerte ihn daran, wie er auszusehen versuchte, liebenswürdig und zugänglich, und nicht vor idiotischer Freude zu strahlen.

„Mr Jeffries?“ Die Direktorin selbst stand in der Tür zu ihrem Büro, und Beau sprang vielleicht ein wenig zu schnell auf seine Füße. Sie und ihre Assistentin zeigten kurze Anzeichen von Schreck, aber nicht mehr.

Beau lächelte und strich sein Hemd glatt. Er schritt langsam vor, während Dr. Asters Gesichtsausdruck zu einem professionellen Lächeln wurde.

Dieses Gespräch war sein letztes des Tages und es war nur für ungefähr fünfzehn Minuten angesetzt, keine Zeit für eine ausführliche Unterhaltung. Beau nahm an, dass es nur ein Händedruck und ein kleines Schwätzchen wurden – eine Formalität.

Diese Vorstellung hielt ungefähr zwei Minuten, während er mit Dr. Aster Höflichkeiten austauschte. Dann sagte sie: „Ich möchte den Elefanten im Raum nicht länger ignorieren. Sie sind anders als jeder andere Medizinstudent, den wir interviewen.“

Beau nickte, behielt jedoch seinen Gesichtsausdruck bei. In seinen anderen Bewerbungsgesprächen waren ihm mehrmals verschiedene offene Fragen zur Lykanthropie gestellt worden. Auf alle hatte er sehr gute Antworten gefunden.

„Wenn Sie angenommen werden“, fuhr die Direktorin fort, „hätten Sie andere Bedürfnisse als alle anderen Kollegen, und wir versuchen, einen Überblick darüber zu bekommen, was das bedeuten würde. Das ist Teil unserer Aufnahmepolitik für Werwölfe im Eingliederungsprogramm hier in Rochester. Ich hätte gern, dass Sie es sich ansehen und mir sagen, was Sie davon halten, oder mir alle Fragen stellen, die Ihnen dabei einfallen.“

Beau starrte sie einige Sekunden an, bevor er sich zwang, ihr die Papiere aus der Hand zu nehmen. Wie er es gelernt hatte, hielt er seine Miene neutral und seine Hände ruhig, aber er konnte die Worte vor sich kaum lesen, all die zusätzlichen Regeln, denen er folgen sollte, damit er sein konnte, was er war.

Eine Vorschrift ziemlich weit oben sprang ihn an:

Von Werwolfauszubildenden wird erwartet, dass sie starke und anhaltende Unterstützung durch andere Werwölfe vorweisen (durch das Herkunftsrudel/ örtliche Rudelaufnahme und/oder einen Partner/Ehepartner).

Beau konnte nicht einmal so tun, als würde er weiterlesen, seine Kehle wurde eng und sein Herz raste, während er auf das Papier starrte, das plötzlich wie eine Mauer zwischen ihm und allem stand, für das er die ganze letzte Dekade gearbeitet hatte.

„Ich …“ Beau zwang sich, aufzusehen und dem höflich wirkenden Blick des Menschen zu begegnen. „Ich bin kein Mitglied eines Rudels.“

Technisch gesehen konnten sie ihn nicht zwingen, etwas über seine Mitgliedschaft in einem Rudel offenzulegen, wenn er keine hatte, aber wenn sie ihn fragten, was mit dem Rudel geschehen war, in das er geboren wurde, warum er es verlassen hatte, musste er antworten. Lügen war keine Option, aber die Wahrheit war etwas, vor dem er eine lange Zeit weggelaufen war. Er wollte nichts davon hier erzählen, aber wenn er musste, wenn das der Preis war …

 

Dr. Aster bestand nicht auf das Thema. „Ich nehme an, dass Sie gestern zum Dinner keinen Partner mitgebracht haben, ist dann nicht nur das Zweikörperproblem in der Zeitplanung?“

Beau schüttelte leicht den Kopf. Er hatte seit seinem sechzehnten Lebensjahr keine Zeit für Dates gehabt und war davor noch nie in jemanden verknallt gewesen.

Seit er von zu Hause weg war, hatte er alle Zeit und Anstrengung darauf verwandt, ohne Rudel zu überleben, das College abzuschließen und dann Medizin zu studieren.

Die Werwölfe unter den Medizinstudenten nannten sich manchmal Rudel, aber das kam nicht annähernd an die gesetzliche Definition heran. Angesichts der Tatsache, dass jeder in diesem ‚Rudel‘ entweder noch zur Schule ging oder in einem Wohnheim wohnte, wären sie selbst als legitime Gruppe nicht als Unterstützungsnetzwerk geeignet gewesen. Niemand würde ihm glauben, wenn er behauptete, dass sie sein Support seien.

„Es gibt einige lokale Rudel in der Gegend, mit denen wir in Verbindung stehen“, sagte Dr. Aster vorsichtig. „Es gibt mindestens zwei, die dafür offen zu sein scheinen, ein vorübergehendes oder dauerhaftes neues Mitglied aufzunehmen. Ausgehend von dem, was diese Rudel sagten, als wir darüber diskutierten, denke ich, dass diese Art der Unterstützung wirklich von entscheidender Bedeutung wäre. Es wäre weder für Sie noch für andere sicher, wenn Sie versuchen, ein so anspruchsvolles Programm wie unsere Ausbildung ohne Unterstützung abzuschließen.“

Da war es – unverblümter ausgedrückt als irgendwo sonst, wo er sich vorgestellt hatte. Wir können nicht verantworten, dass Sie durchdrehen und Patienten beißen. Er fragte sich, ob die Richtlinie eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung für seine Schichten vorsah, Leute, die bereit waren, ihn auszuschalten, wenn er wild wurde, oder ob sie das als seine alleinige Angelegenheit betrachteten.

Er dachte an die anderen Werwölfe, die ihm aufgefallen waren, und erkannte, dass sie alle das Geheimnis unbedingt für sich behalten mussten. Sicher würde Rochester den Werwolf-Sicherheitsleuten nicht mehr vertrauen als einem Werwolf-Mediziner. Er konnte es nicht riskieren, andere zu gefährden, indem er zeigte, dass er ihr Geheimnis kannte. Wenn er hierher käme, könnte er keinen von ihnen anerkennen, selbst wenn sie die ironische Aufgabe hätten, ihn unter Kontrolle zu halten.

Beau setzte ein bescheidenes Lächeln auf und brachte sich dazu, aufzusehen und das erstickende Gefühl der Klaustrophobie zu ignorieren, das ihn bei der Vorstellung, unter dem Deckmantel der Offenheit zu solch schrecklicher Geheimhaltung zurückzukehren, überfiel. „Ich verstehe. Es würde einige zusätzliche Anpassungen bedeuten, aber natürlich würde ich alles tun, um mich an die Programmrichtlinien zu halten, wenn ich angenommen werde.“

Dr. Aster lächelte.

Beau kannte sie nicht im Entferntesten gut genug, um einen besonderen Einblick in die Bedeutung ihres Geruchs oder Herzschlags zu bekommen, aber sie schien ruhig und gelassen zu sein. Nicht wütend oder ängstlich, nicht grausam, aber entschlossen, die richtige Richtung einzuschlagen.

Beau schaffte es, den Rest des Gesprächs mit dem Autopiloten zu absolvieren, aber er wollte bereits wieder in Chicago sein, weg vom falschen Versprechen dieses Ortes. Auf keinen Fall würde er die Rochester-Klinik auf seine Liste möglicher Wirkungskreise setzen. Egal wie sauber und ordentlich sie es klingen ließen, er würde sich nicht anmelden, um sich sein Privatleben von Menschen diktieren zu lassen.

***

Sechs Wochen später hatte Beau seine Liste der Eingliederungsprogramme etwa tausend Mal auf- und umgestellt. Die Frist für die Abgabe seiner bevorzugten Wahl war nur wenige Stunden entfernt und er wusste, dass das Auswechseln seiner siebten und achten Platzwahl nicht wirklich das war, worüber er sich Sorgen machen musste.

Er hatte nur neun Programme auf seiner Liste.

Bei zwölf hatte er vorgesprochen und die beiden, die er nach der Rochester-Klinik besucht hatte, waren jeweils ein absolut klares Nein gewesen. Alle waren höflich gewesen, aber er hatte in Bezug auf beide Orte ein unglaublich schlechtes Gefühl gehabt und war nicht in der Lage gewesen, auch nur versuchsweise mit den Ärzten oder Auszubildenden zu sprechen, die er getroffen hatte. Es hatte keine Werwolfwachleute gegeben, nur Menschen.

War das wichtig? War er nach Rochester einfach nur hyperempfindlich? Er wusste es nicht, aber ihm stellten sich die Haare im Nacken auf und er spürte ein Knurren in seiner Kehle vibrieren, wenn er nur daran dachte, auch nur ein Wohnheim von diesen beiden auf seine Liste zu setzen.

Die Ironie war, dass er sich immer noch daran erinnerte, wie glücklich er sich in Rochester gefühlt hatte, bis zu dem Ende mit Dr. Aster. Jedes Mal, wenn er daran dachte, hatte er nur diesen sonnigen, fröhlichen Vorortscampus vor sich. Er hatte beinahe elf Jahre in Chicago verbracht und war bereit, irgendwo anders hinzugehen, wo seine Wolfssinne nicht ganz so strapaziert wurden. Kein Aufenthaltsprogramm würde so sein wie das, in dem er aufgewachsen war, aber Rochester war eine der kleineren Städte, die er besucht hatte, und es war von einer Vielzahl von Wäldern und Nationalparks umgeben. Es war Minnesota.

Dort könnte er glücklich sein, wenn nicht diese …

Er schüttelte den Kopf. Nein. Er würde sich nicht von seinem Ausbildungsprogramm in ein Rudel zwingen lassen und sich selbst zum Spielball für die Entscheidungen eines fremden Alphas machen. Das konnte unmöglich besser laufen als beim ersten Mal. Und natürlich würde er sich nicht zu einer Paarung drängen lassen. Er konnte das nicht, nicht so. Nicht, um Menschen zufriedenzustellen, die vielleicht niemals damit zufrieden waren, dass er keine Zeitbombe mit lykanthropischen Aggressionen war, geradewegs einer verdrehten Sensationsgeschichte über einen weiteren Werwolf entsprungen, der von einem Menschen in sogenannter Selbstverteidigung getötet worden war.

Das bedeutete allerdings auch, dass nur noch neun Wahlmöglichkeiten auf seiner Liste standen. Ihnen war immer und immer wieder vor den Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen eingebläut worden, dass die Chance, genommen zu werden, bei neunzig Prozent und höher lag, wenn zehn oder mehr Auswahlmöglichkeiten auf ihrer Liste standen.

Aber das waren natürlich Statistiken für menschliche Medizinstudenten. Dr. Pavlyuchenko, der als halboffizieller Berater für sämtliche Werwolfstudenten am Northwestern fungierte, hatte ihm im Vertrauen gesagt, dass zehn das absolute Minimum war, wenn er hoffte, genommen zu werden.

Die Aufnahme zwischen Bewerbern und Aufenthaltsprogrammen wurde national geregelt, jeder Medizinstudent im achten Semester fand am selben Tag heraus, ob man aufgenommen wurde, und dann, ein paar Tage später, wohin man gehen durfte. Wenn er nicht aufgenommen wurde, musste er kämpfen, um ein Programm zu finden, das ihn annahm.

Und wenn er einen Platz fand, würde es in Werwolfmedizin sein und nicht in Humanmedizin. Wenn er zwei oder drei Jahre in einem Programm verbrachte, das auf Lykanthropie spezialisiert war, konnte er seine Chancen, von der Ärztekammer für Humanmedizin angenommen zu werden, in die Tonne treten.

Also musste er einen Platz finden. Er musste einen Platz in einem der zwölf Programme finden, bei denen er sich beworben hatte, oder es war alles umsonst gewesen.

Es war nicht so, dass Rochester ihn auf jeden Fall annahm, wenn man bedachte, wie sie über Werwölfe dachten. Und wenn es auf seine zehnte Wahl ankam …

Beau biss die Zähne zusammen und tippte die Rochester Klinik ans Ende seiner Liste. Er klickte auf Senden, bevor er es sich ein zweites Mal überlegen konnte. Damit hatte er zehn Programme auf seiner Liste. An neun davon würde er glücklich sein. Er hatte noch das letzte Semester vor sich und konnte keine Zeit mehr damit verschwenden, darüber nachzudenken, wohin er passen könnte. Jetzt lag es nicht mehr in seinen Händen.

Kapitel 2

„Mr. Lea? Sie können weitermachen, wenn Sie wollen, aber ich muss den Timer ausschalten.“

Roland kniff die Augen zusammen und presste sich die Fingerknöchel gegen die Stirn, als könnte er damit das Hämmern seiner Kopfschmerzen zurückdrängen. Außerdem versteckte er sich damit ein wenig vor dem sanften, geduldigen Blick von Susan, seiner Fallbearbeiterin im North Chicago Omega Schutzgebiet.

Susan war ebenfalls ein Omega, und sie konnte natürlich damit umgehen, wenn ihm wirklich die Tränen kamen, aber wenn er sein Gesicht vor ihr verbarg, würde sie es nicht genau wissen. Vermutlich.

Er hörte sie ein paar behutsame Schritte näher zu seinem Ende des Tisches kommen, und benutzte seinen anderen Arm, um den Fragebogen abzudecken, auf den er – ohne eine einzige Antwort aufzuschreiben – gestarrt hatte, seit … er wusste nicht, wie lange. Lange genug, damit Susan es aufgegeben hatte, darauf zu warten, dass er irgendeinen Fortschritt in diesem Test im Zeitlimit machte.

„Nicht“, brachte Roland fertig zu sagen, seine Kehle fühlte sich selbst für das viel zu eng an. „Nicht hinsehen. Bitte.“

Susan blieb stehen, dann hörte er sie zurückgehen. „Ich wollte nicht auf Ihren Test sehen. Aber vielleicht wollen Sie sich Ihr Gesicht waschen, danach können wir über das hier reden. Darüber, wie es weitergehen soll.“

Roland nickte gegen seine Faust und klammerte sich sofort an die in ihrem Vorschlag angebotene Flucht. Er griff nach seinem Testheft, als er aufstand, seine Schultern hoben sich, während er sich abwandte, ohne in Susans Richtung zu sehen. Er hastete aus dem kleinen Besprechungsraum zum nächstgelegenen Waschraum, schloss sich ein und presste sein brennendes Gesicht gegen die Metalltür.

Er wusste nicht, was seinen Körper zum Zittern brachte und ihn sich überall heiß und schwach fühlen ließ, sogar jenseits der Scham und Wut über sein neuestes, offensichtlichstes Versagen. Schon seit Wochen hatte er sich so gefühlt, noch ehe er in das Schutzgebiet gekommen war. Es fühlte sich ein wenig wie Hitze an – dieses unangenehme, quälende Fieber, aber schlimmer, hässlich und schmerzhaft.

Und er kam mit Sicherheit nicht in die Hitze. Die Beruhigungsmittel, die er in seinem Schließfach versteckt hielt, schützten ihn davor. Er nahm sie zuverlässig jeden Tag und hütete die Flasche heftiger als alle anderen seiner wenigen Besitztümer.

Er würde nicht mehr so hilflos sein, so ohne eigenen Sinn. Niemals. Niemand würde ihn jemals wieder so benutzen.

Das war die Entscheidung, die er getroffen hatte, als er endlich genug Verstand aufgebracht hatte, um zu erkennen, dass er sich von Martin trennen musste, egal ob er auf Besseres hoffen konnte oder nicht. Dies war das Einzige, dessen er sich während seines Kampfes ums Überleben sicher war, bevor er in das Schutzgebiet gekommen war. Er würde nichts davon noch einmal machen. Aber er musste etwas tun.

Ohne einen beschissenen Alpha-Freund, geschweige denn einen richtigen Kumpel oder ein Rudel, musste Roland einen Weg finden, sich selbst zu helfen. Wenn er bei den Beruhigungsmitteln blieb, würde ihm die Hitze bei der Arbeitssuche nicht in die Quere kommen. Er könnte sogar wieder unter Menschen gehen. Er könnte ein Leben haben, oder etwas, das dem nahekam. Vielleicht würde er kalt und einsam sein, aber er könnte auf eigenen Beinen stehen.

Alles, was er tun musste, war einen Job zu finden, obwohl er die Highschool nie beendet hatte, nie einen richtigen Job hatte und …

Roland öffnete die Augen und stieß sich mit beiden Händen von der Tür ab, um den Fragebogen auf der Metalloberfläche auszubreiten. Er starrte grimmig auf die Seite, auf der er sich befunden hatte, als Susan die Stille im Arbeitszimmer gestört hatte, aber hier war es nicht anders, obwohl er allein war. Die Wörter verwischten zu unleserlichen Flecken, als er sie ansah, und wenn er eines entschlüsselte, konnte er es nicht in einen Satz einordnen. Bis er das nächste Wort durchgearbeitet hatte, hatte er das erste vergessen.

Er war gebrochen.

Irgendwann in den vergangenen acht Jahren, als er nicht aufgepasst hatte – und der Mund wusste, dass er hart daran gearbeitet hatte, nicht aufzupassen – hatte er sogar die Fähigkeit zu lesen verloren. Die Fähigkeit, richtig zu denken. Er hatte kein bisschen Wolfsbann zu sich genommen, seit er in das Schutzgebiet gekommen war, wo er einen sicheren Platz zum Schlafen und genug Essen hatte, aber die zitternde Schwäche hatte nicht nachgelassen.

Roland wandte sich von der Tür ab und stolperte zum Waschbecken, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Er betrachtete sich im Spiegel und versuchte, nicht vor dem Anblick zurückzuschrecken. Seine blassgrünen Augen starrten ihn an, die Farbe sah neben dem blutunterlaufenen Weiß seiner Augen grell aus. Er war hager und blass. In einem der Asyle, in denen er übernachtet hatte, hatte er sich die Haare rasiert, ehe er das Schutzgebiet fand, weil sie in Büscheln ausgefallen waren. Sein Kopf zeigte ein paar blasser Stoppeln auf der nackten Haut, sogar noch bleicher als sein Gesicht. Die klaren, nicht verheilten silbernen Verbrennungen ragten aus dem Kragen seines Hemdes. Roland richtete den Schal, den er trotz der falschen Jahreszeit trug, um sie zu verstecken, und wischte sich mit einem Ende das feuchte Gesicht ab.

 

So stellte ihn niemand ein und er war sowieso für nichts gut. Er konnte nicht zur Schule zurück und war nicht in der Lage, die schwere Arbeit zu verrichten, die viele Alphas und Betas mit Werwolfstärke und Heilung verrichteten. Das Schutzgebiet war berühmt dafür, dass alle Omegas, die hier lebten, einen Plan, ein Ziel hatten. Roland hatte Susan gesagt, dass seines sei, die Ausbildung zu machen, die er verpasst hatte, als er mit sechzehn Jahren mit einem älteren Alpha davongelaufen war, der versprach, sich gut um ihn zu kümmern.

Wenn er keinen Plan hatte, würden sie ihn rauswerfen?

Würde er zu den menschlichen Obdachlosenunterkünften zurückkehren müssen? Zurück zum Betteln an Straßenecken, frierend und hungrig in Hauseingängen schlafen, wenn ihn das Mitleid menschlicher Fremder nicht ernährt hatte?

Roland kniff die Augen zusammen. „Fuck. Fuck.“

Es klopfte leise an der Tür. „Mr Lea?“

Susan. Natürlich. Susan war nett und geduldig und unerbittlich. Sie würde nicht zulassen, dass er sich für immer in diesem Waschraum versteckte.

Roland schob den Fragebogen in den Mülleimer, vergrub ihn tief unter feuchten Papiertüchern und benutzten Taschentüchern. Er wusch sich die Hände, trocknete sie ab und öffnete die Tür.

„Werden Sie mich rauswerfen?“

Susan blinzelte ihn an. Sie war mindestens sechzig, obwohl es durch eine vernünftige Lebensweise und Werwolfgene schwer zu sagen war; sie redete nie über sich selbst, über ihr eigenes Leben, aber Rolands Vorstellung ließ sie als Großmutter aus einem schönen Vorort arbeiten und unter den gefallenen Omegas des Schutzgebiets Gutes tun.

Sie war jedoch immer noch eine Wölfin. Sie hatte immer noch Zähne. Sie zuckte nicht vor ihm zurück, und wenn es an der Zeit für ihn war zu gehen, hatte er keinen Zweifel, dass sie ihn zum Tor begleiten und ihn persönlich rauswerfen würde.

„Nein“, sagte sie nach einem Moment. „Das machen wir hier nicht. Aber ich glaube, wir müssen Ihre Optionen überdenken.“

Als ob er noch Optionen gehabt hätte. Aber wenn sie ihn nicht rauswerfen wollten, war das ein Anfang, und er schuldete es diesem Ort, alles zu tun, was nötig war.

„Okay“, sagte Roland und ließ den Türrahmen los. „Klar, überlegen wir noch einmal.“

Susan führte ihn vom Waschraum weg, nicht zurück in das Arbeitszimmer, das nach seiner Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit stinken musste, sondern in ein ruhiges, kleines Wohnzimmer. Sie schloss die Tür fest, aber die Fenster standen offen, man blickte auf den Innenhof der Schutzhütte. Ein paar kleine grüne Triebe ragten aus dem Boden, die ersten tapferen Blüten des Frühlings.

„Also“, sagte Susan. „Ich werde dir auf keinen Fall sagen, dass du die Highschool nicht beenden sollst, aber es scheint, als wäre das ein längerfristiges Projekt.“

Roland starrte auf seine Hände hinunter, klammerte sie umeinander, bis seine Knöchel weiß hervortraten. So war Susan immer, sie tat so, als hätte er eine Zukunft, als könnte er alles machen, was normale Leute taten, als wäre seine Vergangenheit tatsächlich vergangen.

„Ich denke, du brauchst mehr individuelle Unterstützung, als dir das Schutzgebiet geben kann“, fuhr sie fort. „Ich weiß, du sagtest, dass es kein Rudel und keine Familie gibt, mit der du Kontakt haben möchtest, und ich werde dich sicher nicht drängen, an dieser Stelle einem eigenen Rudel beizutreten.“

Dann schwieg sie. Roland dachte, dass das klang, als wollten sie ihn doch rauswerfen oder ihn in eine noch institutionellere Institution schicken, denn was zum Teufel sollte das sonst bedeuten?

Er hob den Kopf, um sie anzusehen. Susan hielt eine Broschüre in der Hand. Sogar er konnte die beiden verschlungenen Symbole auf dem Cover erkennen: Alpha und Omega.

Einen Moment lang starrte Roland den Umschlag an, dann sah er zu Susan auf, die einen sanften Ausdruck im Gesicht hatte. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und begann wild und ein wenig schmerzerfüllt zu lachen. „Sie … was …“

Susan war so gelassen wie immer. „Das ist eine Agentur, die hilft, einzelne Alphas und Omegas in Kontakt zu bringen. Sie arbeiten manchmal mit uns zusammen, um geeignete Partner für Omegas zu finden. Du hast Eric bisher noch nicht getroffen, glaube ich, aber er ist einer unserer Freiwilligen und ein ehemaliger Assistenzarzt – er hat seinen Partner durch die Agentur gefunden. Sie würden nichts erzwingen, aber sie können dir helfen, einen Partner zu finden, der dich in jeder Hinsicht unterstützt.“

Roland zwang sich, aufzuhören zu lachen, bevor etwas anderes daraus wurde. Eine kurze Weile atmete er nur, hielt dabei sein Gesicht verborgen. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und wischte sich mit dem Ende seines Schals über das Gesicht. Anschließend riss er sich den Schal vom Hals und zog den Kragen seines Hemdes herunter, damit Susan die silbernen Verbrennungen wirklich sehen konnte, die immer noch seinen Hals mit hässlichen, geschwollenen Flecken überzogen, die an den Rändern Blasen warfen.

Ihre Augen weiteten sich leicht. „Roland! Das ist …“

„Sie heilen nicht“, sagte Roland, stopfte den Schal wieder an seinen Platz und wandte den Blick ab. „Ich war in der Klinik. Ich verwende die Salbe zwei Mal täglich, aber … sie heilen nicht ab. Und das … das ist noch nicht annähernd alles.“

Er knirschte mit den Zähnen, verjagte die Erinnerung an den Schmerz in seinem Bauch und zwischen seinen Beinen, an die starken Hände der Hebamme, an die spöttischen Bemerkungen seines Alphas. Wer will dich jetzt noch? Du bist nur für eine Sache gut.

„Vertrauen Sie mir, ich bin kein Material zum Verkuppeln. Kein Alpha wird mich wollen. Oder wenn doch, wollen sie mich nur für …“ Roland schüttelte den Kopf und starrte erneut aus dem Fenster.

„Ich stimme dir zu, es muss jemand ganz Spezielles sein“, sagte Susan. „Aber die Chancen stehen gut, dass der Alpha für Sie irgendwo da draußen sein kann, Mr Lea. Sich bei der Agentur zu registrieren, verpflichtet Sie zu gar nichts, abgesehen von Treffen mit angehenden Alphas. Wenn Sie sich bei keinem, der Ihnen vorgestellt wird, wohlfühlen, sagen Sie Nein und damit hat sich die Sache. Aber wenn Sie glauben, es wäre möglich, dass es jemand gäbe, bei dem Sie Ja sagen könnten, möchte ich wirklich, dass Sie es versuchen.“

Dann hätte er einen Plan, nicht wahr? Dann könnte er sagen, er hätte es versucht. Sie würden ihn hierbleiben lassen und er könnte weiter versuchen, gesund zu werden. Vielleicht konnte er sogar wieder lesen, wenn er mehr Zeit zur Genesung hatte, und dann könnte er seine Pläne überdenken.

Niemand würde ihn auswählen, und er war sich seiner Fähigkeit, Drecksäcke wie Martin, die ihn nur benutzen wollten, zu erkennen, ziemlich sicher, und dann konnte er immer noch Nein sagen. Vielleicht ließen sie ihn ein paarmal jemanden ablehnen, bevor sie entschieden, dass er es gar nicht versuchen wollte, und wie viele Alphas suchten tatsächlich nach jemandem wie ihm?

Roland seufzte und machte für Susan deutlich, dass er aufgab. „Okay, ja. Was muss ich machen, um mich zu registrieren?“