Trotz allem - Gardi Hutter

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DER REIZ DES VERBOTENEN

1958 kommt die kleine Gardi in den Kindergarten. Den Weg darf sie ganz alleine machen, und sie ist stolz darauf. Der Kindergarten gefällt ihr sehr, insbesondere die kleinen, an die Kinder angepassten Toiletten. An jeder Tür ist ein anderes Märchenmotiv. «Das gefiel mir. Ich überlegte mir vorher immer, ob ich nun heute beim Dornröschen oder bei Schneewittchen mein Pipi machen sollte.» Man darf den ganzen Tag spielen und muss nicht helfen – ein weiterer Vorteil. «Bei uns daheim musste ich ja immer zuerst etwas erledigen, bevor ich spielen durfte.»

Nach zwei Jahren Kindergarten beginnt 1960 die Schule, und die besucht Gardi fast noch lieber. In der katholischen Mädchenschule in Altstätten wird sie in den ersten Jahren von Nonnen aus dem lokalen Kapuzinerkloster Maria Hilf unterrichtet, in Klassen mit vierzig und mehr Kindern. Disziplin ist auch in der Schule das oberste Gebot. Die Nonnen greifen streng durch. Wer stört, muss in die Ecke oder bekommt mit dem Lineal eins auf die Hand.

In der fünften Klasse kommt Gardi zu Herrn Schwarz. Auch er ist streng, aber alle lieben ihn: endlich ein Laie – und ein Mann. Er veranstaltet Wettbewerbe im Kopfrechnen, die entweder Ruthli oder Gardi gewinnen – und immer die Gleichen verlieren. Ihr beginnen die Unterschiede zu Kindern aus ärmeren Familien aufzufallen. «Die Kugelgasse, das war sozusagen das Armenviertel von Altstätten. Eine Strasse auf der anderen Seite der Altstadt mit kleineren, gedrungenen Häusern. Für die Kinder, die von dort kamen, muss die Schule besonders schlimm gewesen sein. Sie trugen den Stempel, Armeleutekinder zu sein; und sie kamen häufig nur schlecht mit. Wie sich die Kinder in der Klasse gruppierten und zusammensassen, spiegelte von klein auf die sozialen Schichten der Stadt. Wer etwas in der Stadt galt und wer nichts, wer verachtet wurde, wer nicht – es hatte immer mit Geld zu tun.»

Gardi Hutter sagt, dass ihre Familie zwar zu einer oberen Schicht im Städtchen gehörte, aber ganz akzeptiert seien sie trotzdem nicht gewesen. «Wir waren Neureiche. Wir hatten zwar das Geld, aber uns fehlte die Kultur. Als Kaufleute gehörten wir zur Kleinbürgerschicht, aber es lag immer eine Art Schatten auf uns.»

Gardi wird zur Pendlerin zwischen den Welten – aus Neugierde, und vielleicht reizt sie das Verbotene. Sie spielt gerne mit Freundinnen in der Kugelgasse, auch weil es ein wenig gefährlich und unberechenbar ist. Die Häuser sind oft dunkel und feucht, es riecht anders. Die Mutter darf nichts davon erfahren. Die Eltern einer ihrer Freundinnen aus der Schule führen ein Wirtshaus. Gardis Mutter sieht auch diesen Umgang nicht besonders gerne.

Am liebsten ist es der Mutter, wenn Gardi mit der Tochter einer der angesehensten Familien im Ort zusammen ist. Die Familie besitzt eine Glaswarenmanufaktur. «Sie hatten ein grosses, ehrwürdiges Haus in der Altstadt und ganz dicke Teppiche auf der Treppe, die jeden Ton schluckten, sodass man keinen Tritt mehr hörte. Es gab Holztäfer, Kerzenständer, Porzellan hinter Glas und eine Bibliothek. Das hat mich alles enorm beeindruckt. Die Mutter servierte uns etwas zu trinken, wenn wir dort waren. Das war für mich unfassbar. Meine Mutter hätte uns Mädchen nie etwas serviert, im Gegenteil. Wenn ich Besuch hatte, musste nicht nur ich mithelfen, sondern auch meine Freundin wurde mit eingespannt.» Und dann gibt es noch eine andere Tochter aus gutem Haus, bei der Gardi oft aus einem ganz bestimmten Grund ist. Mickey-Mouse-Hefte sind bei Hutters verboten – Stichwort: Schund. Jedes gefundene Heft wird sofort verbrannt. «Meine Freundin aber hatte einen Schrank voll davon. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, den Schrank zu öffnen, und da lagen stapelweise Mickey-Mouse-Hefte – das Paradies. Ich nahm gleich zwanzig Hefte auf die Knie und versank darin.»

DU SOLLST NICHT ZWEIFELN

Im März 1962 wird Gardi neun Jahre alt. Bald darauf findet die Erstkommunion statt. Davor muss man das erste Mal beichten und von da an regelmässig einmal pro Monat. Von all der Schuld, die man immer wieder auf sich lädt, kann man sich so befreien. Doch was können neunjährige Kinder schon beichten? Gardis Bruder Fredi erzählt, dass seine Primarschullehrerin, Schwester Klara, damals die Klasse instruiert habe, wie und was zu beichten sei: «Ich glaube an die Kirche. Ich habe geschwatzt, ich hatte unkeusche Gedanken, ich habe genascht.»

Als Gardi so weit ist, schärfen ihr die beiden grossen Brüder ein, dass sie nicht nur schlimme Taten beichten müsse. «Meine Brüder waren gemein. Sie lagen mir ständig in den Ohren damit, dass nur schon ein unkeuscher Gedanke Sünde wäre, weil Gott alles sehe, auch das, was ich nur schnell gedacht hätte. Und so quälte ich mich mit allen möglichen und unmöglichen Sünden. Es war nicht mal erlaubt, daran zu denken, einen Jungen zu küssen. Über Schuldgefühle stolpere ich heute noch. Das war für mich das Schwierigste aus meiner Erziehung: das wieder loszuwerden.»

Die Fotos vom grossen Tag zeigen eine wunderbar brave Gardi auf dem offiziellen Kommunionsfoto im langen, weissen Kleid mit Handschuhen, Rosenkranz, einer Kette mit Kreuz um den Hals und weissem Schleier auf dem Kopf; ein unschuldiger, leicht verkrampfter kleiner Engel.

Das erste Mal die Hostie zu bekommen, sie auf der Zunge zu spüren. Gardi weiss noch, wie ernst und innig dieser Moment in der Kirche damals für sie war: «Die Vorstellung, dass ich mit der Hostie den Leib Jesus in mich aufnehme, daran habe ich nicht nur geglaubt, ich habe ihn gespürt.» Dreissig Jahre später wird sie in ihren Aufzeichnungen festhalten, wie schön sie sich damals in dem weissen, langen Kleid fühlte, wie eine Prinzessin. Aber nach der Kirche fährt die Familie ins Ferienhaus auf den Ruppen, und Gardi muss das Kleid ausziehen. Sie will nicht, aber sie muss: «Ich höre noch meine Mutter schimpfen: ‹Tu nicht so hochmütig.› Ich heulte, erst laut, dann immer leiser und war den ganzen Tag traurig – und bin es heute noch, wenn ich daran denke. Einer der seltenen Momente, in denen ich mich schön gefühlt habe.» Aber: Frömmigkeit war gefragt. Eitelkeit war Sünde und verpönt.

Jungen dürfen nach der Erstkommunion Ministranten werden. «Ich hätte wahnsinnig gerne ministriert, mit grossem Ernst das Weihrauchfass geschwungen und die Glocken geläutet», sagt sie, aber das geht natürlich nicht. Es ist den Jungen vorbehalten, weil Mädchen «von Natur aus schmutzig» sind. Was genau an Mädchen schmutzig ist, dass es mit der Menstruation zusammenhängt, so weit geht die Erklärung nicht, und Gardi ist zu jung, um solche Regeln zu hinterfragen. Später aber entwickelt sie eine grosse Wut auf das körper- und frauenfeindliche Diktat der Kirche.

Doch so weit ist es noch nicht. Als Kind ist Gardi Hutter wie gesagt tiefgläubig. Gott, den Teufel, die Sünde, all das gibt es in ihrer Vorstellungswelt. Bis sich ein erster leiser Zweifel einschleicht. Sie kann sich noch an ihre Empörung erinnern: «Es hiess, dass ungetaufte Kinder nicht in den Himmel kommen. Sie kommen in eine Zwischenwelt, den Limbus, und bleiben dort für immer und ewig. Ich fand das ungerecht: Sie können doch nichts dafür. Es sträubte sich alles in mir. Ich fragte nach und wurde gerügt. Zweifeln war Sünde und ebenso wenig erwünscht wie Auflehnung. Was in der Kirche gesagt wurde, das galt, und der Papst konnte nicht irren, denn er war ja der Vertreter Gottes.»

Nach längeren internen Diskussionen und einem 41 Seiten langen Bericht stimmt Papst Benedikt XVI. 2007 schliesslich der Auffassung zu, dass der Limbus nur eine «theologische Hypothese» sei und kleine Kinder, die ungetauft sterben, direkt ins Paradies kämen. Gardi Hutter ahnte es schon fünfzig Jahre früher.

Zur Kirche und ihren Traditionen, ihren Zwängen, Auswüchsen, aber auch zu den inspirierenden Seiten hat Gardi Hutter viel zu erzählen. Aus der heutigen Warte beleuchtet sie die Mechanismen dahinter kritisch, vor allem das Frauenbild: «Die drei grossen Weltreligionen aus dem Vorderen Orient haben alle zum Ziel, den Mann als dominierende Figur zu platzieren und die Frau zu unterwerfen. Im Christentum gibt es den Gottvater und seinen Sohn und dann noch Maria. Aber sie ist keine Göttin, sondern nur eine Art keusches ‹Gefäss›. Je weiter wir in der Menschheitsgeschichte zurückgehen, desto mehr weibliche Gottheiten finden sich. Noch bei den Griechen sind sie starke Persönlichkeiten, werden dann aber immer dekorativer.» Sie ereifert sich, wenn sie darüber spricht. «Die Idee der unbefleckten Empfängnis, wie abstrus ist das denn? Ist Empfängnis, also ein Kind zu zeugen, im Normalfall befleckt? Dieser schönste und heiligste Akt unseres Lebens? Wenn ich mir überlege, wie viele gebildete Männer als Exegeten ihr Leben und ihre Intelligenz dazu benutzt haben, um solchen Unsinn hinzubiegen und in unfehlbare Argumente zu verpacken! Dabei geht es am Ende doch nur um Machtpolitik. Wenn es im Himmel keine Göttin gibt, gibt es auf Erden auch keine. Das ist letztlich extrem raffiniert ausgedacht.»

INSPIRATION FASNACHT

Doch Gardi Hutter berichtet auch von Positivem aus diesem katholischen Umfeld. Weihnachten, die verschiedenen Prozessionen und die Altstätter Fasnacht gehören dazu. Ein paar Tage vor Weihnachten ist das Wohnzimmer jeweils plötzlich zugesperrt. Dann wissen die Kinder, dass das Christkind jetzt daran ist, alles vorzubereiten. «Wir äugten natürlich durchs Schlüsselloch, und einmal sah ich tatsächlich ein Zipfelchen vom Christkind, ich war mir ganz sicher. Das Kindlein, das sonst in der Windel in der Krippe lag, flog durch den Raum, dekorierte und brachte die Geschenke, so stellte ich es mir vor. Nach unendlich langem Warten ging an Heiligabend dann endlich die Tür auf, die Kerzen brannten am Baum, die Geschenke lagen da. Es war jedes Mal eine Verzauberung. Dann wurden alle Weihnachtslieder rauf und runter gesungen, und jedes Kind musste ein Gedicht aufsagen. Es wurde Blockflöte und Handorgel gespielt, und irgendwann durften wir endlich die Geschenke auspacken.»

 

Als optisch schöne katholische Bräuche hat Gardi Hutter die Prozessionen am Palmsonntag und zu Fronleichnam in Erinnerung. Eine Woche vor Ostern wird mit dem Palmsonntag die Heilige Woche eingeleitet. Die Buben dürfen mit Buchszweigen grosse Gestänge binden, die sie an der Prozession tragen. Für die Mädchen gibt es kleine Blumenkörbe. Gardi beneidet einmal mehr die Brüder um die eindrücklichen Kreuze, die manchmal zwei bis drei Meter hoch sind.

Die Prozession wird durch das Städtchen geführt. Strassen und Plätze werden mit frischem Buchenlaub, mit Gräsern und Blumen geschmückt, richtige Blumenteppiche werden auf dem Weg der Prozession ausgebreitet. Die Hausbesitzer wetteifern um die schönste Dekoration, Hutters gehören dazu. Beim Umzug gehen vorneweg die Geistlichen und Ministranten, dahinter weiss gekleidete Mädchen. «Wir waren in unserer Jugend auf vielen Prozessionen, nicht nur am Palmsonntag und zu Fronleichnam, auch zur Forstkapelle, zur Flurbegehung, zum Weissen Sonntag und so weiter. Das ist aus heutiger Sicht eine Form von erlebtem, empfundenem und visualisiertem Glauben. Es waren kollektive Rituale, die für meine Kinderseele sehr nährend waren. Inszenierungen von grosser Symbolkraft, dem Theater sehr verwandt.»

Und dann die berühmte Altstätter Fasnacht, sechs Tage Ausnahmezustand, ein buntes, wildes Treiben mit fester Abfolge von Umzug, Polonaise, Beizentour und Bööggverbrennen, mit Mehl- und Gerstensuppe, Berliner Pfannkuchen, Punsch, Fasnachtschüechli und sehr viel Alkohol. Die Fasnacht in Altstätten ist weder die grösste noch die älteste der Schweiz. Aber mit einer Tradition, die auf ein erstes schriftliches Zeugnis von 1617 zurückgeht, der Vielfalt an Aktivitäten und den optisch auffälligen Röllelibutzen gehört sie zu den originellsten im Land; der gleichnamige Verein existiert seit 1919.

Auch die Fasnacht ist in Altstätten eine klar männlich dominierte Veranstaltung. Junge Frauen dürfen als sogenannte Ehrendamen eine Nebenrolle spielen: «Obwohl die Ehrendamen nun seit hundert Jahren als schmucker Teil zu den Auftritten und den Polonaisen gehören, sind diese nicht Mitglieder des Vereins. Eine Mitgliedschaft im Verein ist seit der Gründung nur Männern vorbehalten», heisst es dazu in einem neueren Buch. Seit 2004 finden die Ehrendamen zumindest Erwähnung in den Vereinsstatuten. Und in ihren langen, weissen Kleidern stehlen sie den herausgeputzten Herren gewiss nicht die Schau.

Ein Röllelibutz trägt weisse Hose, schwarze Jacke, quer über die Schultern farbige Brustbänder, eine fleischfarbene Drahtmaske und auf dem Kopf den Butzenhut, einen elaborierten Kopfschmuck mit glänzenden Perlen, Früchten, Blumen, Bändern und Federn. Um die Hüften wird das Geröll getragen, ein Lederband mit Schellen, die beim Herumspringen tönen. Hinten aus der Jacke tritt eine dunkelrote Quaste. Dann das Wichtigste: die Wasserspritze. Damit bespritzen die Röllelibutzen an den Umzügen die Zuschauer, jagen ihnen hinterher. Es sind primär die jungen Frauen, die mit Wasser bespritzt werden – die sexuelle Anspielung ist unübersehbar. Wobei sie an Gardi als Kind vorbeigeht. Von Sexualität hat sie keine Ahnung. Nur die Regel, dass die Frauen niemals Röllelibutzen werden können und selbst in den furchterregenden Ribelbüüchwiibern, mit ihren wilden Masken und Perücken, Männer stecken, empfindet sie schon im Kindesalter als ungerecht.

Dennoch geniesst sie die Fasnacht. Es ist die aufregendste Zeit im Jahr. Sich kostümieren, maskieren, in eine andere Rolle schlüpfen, gehört von Kindsbeinen an zu ihren Erfahrungen. Sie lernt und liebt es, sich zu verwandeln, eine andere Person zu werden. Ihre Fantasie wird durch die katholischen Bräuche stark angeregt, davon erzählt sie wiederholt.

«Für uns Kinder war die Fasnacht die schönste Zeit im Jahr, wir haben uns immer wahnsinnig darauf gefreut.» Die Mutter näht den Kindern Kostüme. Mal ist Gardi ein Marienkäfer, mal eine Hexe, dann eine Indianerin. Am schmutzigen Donnerstag geht es los mit dem Kinderumzug um 14 Uhr. Nach dem Umzug tanzen die Jungbutzen und Jungehrendamen auf der Breite eine Polonaise. Anschliessend spielt die Guggenmusik auf dem Rathausplatz auf, und es gibt Suppe. Am Freitag geht es weiter mit Maskenbällen, alle Lokale sind dekoriert. Die Themen lauten «Wilder Westen», «Honolulu», «Hölle» oder «Auf der Alm da gibt’s koa Sünd». Am Samstag findet die «Tschätteri-Nacht» statt. Die Gruppen ziehen mit Musik und beleuchtetem Kopfputz durch die Stadt. Ab 21 Uhr beginnt die Beizentour von Lokal zu Lokal. Auch die Besucherinnen und Besucher sind verkleidet und machen mit. Am Samstagabend trifft man auf dem Frauenhofplatz die furchterregenden Ribelbüüchwiiber mit ihren klobigen Holzzoccoli. Am Sonntag der grosse Festumzug durch die Stadt. Vorneweg die Blaternbutzen, die mit Schweinsblasen auf die Neugierigen einschlagen. Montag ist der zweitletzte Tag, abends wird in einem Riesenfeuer ein Böögg mit eingelegten ohrenbetäubenden Krachern verbrannt. Für die Röllelibutzen und ihre Ehrendamen ist der Fasnachtsdienstag der wichtigste Tag. Frühmorgens gibt es einen Sternmarsch mit anschliessender Polonaise, um 14 Uhr einen weiteren grossen Umzug. Wenn es dunkel ist, wird auf dem Rathausplatz die Abendpolonaise getanzt. Die Fasnacht neigt sich dem Ende zu, um Mitternacht ist der Spuk vorbei. Mit dem Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit.

Zuvor ist die ganze Stadt sechs Tage lang im Ausnahmezustand. Gardi fürchtet sich als Kind vor den wilden Masken, vor den herumspritzenden Röllelibutzen, dem Lärm, aber es geht auch eine grosse Faszination von dem Treiben aus. «An der Fasnacht gingen die Emotionen hoch. Der uralte Brauch, die Winterdämonen und Totengeister zu vertreiben, ist darin noch lebendig, seine Kraft spürbar. Man lacht über das Schreckliche und weiss gleichzeitig, dass man irgendwann stirbt. Man flucht und schreit, säuft und lässt die Sau raus. Einmal im Jahr geht man emotional über seine Grenzen. Diese Erlebnisse von gleichzeitigem Gruseln und Lachen, Erschrecken und Feiern haben mich geprägt. Da wurde in meiner Kindheit ein Same gelegt.»

In der katholischen Primarschule für Mädchen in Altstätten, 1960. Gardi steht in der obersten Reihe, rechts neben der Lehrerin.

Als Sechstklässlerin in der Klasse von Herrn Schwarz (oberste Reihe, 3. von links).

Gardi 1962 als «Braut Gottes» bei der Erstkommunion. Sie fühlt sich im langen, weissen Kleid wie eine Prinzessin. Danach fliessen Tränen; sie muss sich umziehen, weil die Familie ins Ferienhaus fährt.

Die neunjährige, ausgelassene Gardi im Sommerlager ihrer Schule 1962 in Riom im Bündnerland. Die Liebe zu den Bergen wird auch im Elternhaus gepflegt und begleitet sie bis heute.

Fasnacht in Altstätten: Für Gardi ist das als Kind die schönste Zeit des Jahres, und das wilde, fantasievolle Treiben hat einen prägenden Einfluss auf sie. Sie empfindet aber auch die Ungerechtigkeit, dass sich nur Buben und Männer als Röllelibutzen verkleiden dürfen.

Sonntagsspaziergang am Bodensee in den 1960er- Jahren mit Familienhund Rexli. Gardi und Gilbert, ordentlich gekleidet, so wie es die Mutter mag.

Das Modehaus floriert, und Hutters können sich am Hang über Altstätten ein neues Haus mit Planschpool im Garten bauen. Hinten links Irma Hutter, in der Mitte vorne Gardi Hutter.

VIER KINDER UND EIN BADETUCH

In Gardi Hutters Kindheit gibt es viel Auslauf und Bewegung, Spiel und Sport. Der Körper ist immer nur dann völlig tabu, wenn es um Nacktheit oder Sexualität geht. Und obwohl sie mit drei Brüdern aufwächst, sieht sie, bis sie 17 Jahre alt ist, nie einen nackten Männer- oder Bubenkörper. Die Mutter bringt das Kunststück fertig, dass Gardi selbst den kleinen Bruder Gilbert nie unbekleidet sieht. Einmal pro Woche baden die vier Kinder gemeinsam im selben Badewasser, erst die beiden älteren Brüder, anschliessend Gardi zusammen mit Gilbert. Und wie geht das, gemeinsam in derselben Wanne, ohne dass man einander nackt sieht? Bruder und Schwester müssen sich Rücken an Rücken in die Wanne setzen und nacheinander einzeln aussteigen, sich abtrocknen lassen und verschwinden, bevor der andere aufsteht. Bruder Erwin erzählt, dass dieses Prozedere auch für ihn und Fredi gegolten habe. Er habe mit dem Bruder auch Rücken an Rücken gebadet und ihn nie nackt gesehen. Das Badetuch ist immer schon recht feucht, wenn Gardi als Dritte an der Reihe ist, aber eines muss reichen für die vier Hutter-Kinder, auch als sie heranwachsen. Man ist, wie gesagt, sparsam im Kleinen.

Irgendwann wird das Haus an der Trogenerstrasse für Familie und Laden zu klein, und die Eltern haben mittlerweile die nötigen Mittel, um sich ein Haus zu bauen. Sie kaufen ein schönes Grundstück, etwas erhöht am Hang über Altstätten. Es ist neues Bauland, und sie sind die Ersten auf der Wieswanne, mit weiter Sicht über die Gemeinde, das Rheintal und auf die umliegenden Berge. 1965 ist der einstöckige Bungalow mit vier Schlafzimmern und grosszügigem Wohnesszimmer bezugsbereit. Gardi erhält wieder ihr eigenes Zimmer und der älteste Sohn Erwin nun auch. Fredi und Gilbert teilen sich weiterhin einen Raum.

Das Ferienhaus auf dem Ruppen, das in der Nähe liegt, wird verkauft. Nun konzentriert sich alles auf das neue Heim. Die Eltern pflanzen ausgiebig Gemüse ums Haus an, werden beinahe zu Selbstversorgern – die bäuerliche Herkunft verschwindet nie ganz. Der Vater legt im Garten, so wie schon auf dem Ruppen, wieder einen kleinen Pool für die Kinder an.

Das neue Einfamilienhaus ist zwar moderner und schöner als das frühere Haus mit Laden und Wohnung, aber Gardi fehlen die Spielgefährten aus der Altstadt, und der Schulweg ist einiges länger. Nicht weit entfernt liegt der kleine Waldpark, dort lässt es sich immerhin noch spielen, und auch auf dem nahe gelegenen Bauernhof ist sie gerne. Aber sie sagt, die Fremdheit, die sie schon früh als Kind gespürt habe, sei am neuen Wohnort noch grösser geworden. Wenn sie von oben auf die Stadt schaut, sieht sie unten das einzige Hochhaus von Altstätten, das alles überragt, und stellt sich vor, wie viele Kinder es dort geben muss und wie herrlich es wäre, dort zu wohnen und oben und unten Spielkameraden zu haben. «Ich wäre auch gerne ins Waisenhaus gezogen, das gleich neben unserer Primarschule lag und an dessen hohem Zaun ich oft hing und sehnsüchtig die spielenden Kinder beobachtete. Ich hatte ja keine Ahnung, wie es in einem Waisenhaus zuging. Ich sah nur, dass dort ganz viele Kinder zusammenlebten, und das war mein Traum.»

Sie erinnert sich auch noch, wie sie eines Tages Leute reden hört, die am neuen Bungalow vorbeispazieren. Sie sagen, was für ein schönes Haus mit Garten das sei und was für ein Glück die Kinder dieser Familie hätten. Gardi ist beschämt und fühlt sich schuldig, weil sie am neuen Ort gar nicht so glücklich ist, wie sie es wohl sein sollte, sich nach anderem sehnt.

Im Esszimmer des neuen Hauses hat der Architekt eine Eckbank eingeplant und dahinter drei Regale für Bücher. Aber bei Hutters gibt es kaum Bücher, und so geht Erwin Hutter in die Papeterie im Ort, die auch Bücher im Angebot hat, und bestellt «drei Meter Bücher». «Der Händler verkaufte meinem Vater wohl alle seine Ladenhüter, doch das zu einem sehr guten Preis. Bis zum Tod meiner Eltern sind diese Bücher auf dem Regal gestanden, und nie hat sie jemand gelesen. Es war eine Bibliothek zum Anschauen.»

 

Gardi Hutter beginnt als Teenager zu realisieren, dass Bildung das Ticket für den gesellschaftlichen Aufstieg ist, und das unkultivierte Elternhaus ist ihr manchmal peinlich. Doch was sie als Jugendliche beschämt, sieht sie im Rückblick in einem anderen Licht: «Als ich 1995 den St. Galler Kulturpreis im Stadttheater erhielt, war der ganze Altstätter Gemeinderat anwesend. Meine Eltern, beide schon über siebzig, standen etwas verlegen, fast schüchtern daneben. Sie konnten sich in solchen Kreisen nicht unbeschwert unterhalten. Ich sah sie dort stehen und erkannte die zwei tapferen Bauernkinder, die alles gegeben hatten. Es rührte mich sehr.»