Buch lesen: «Ruth Gattiker»
Für Gerhard, Vera und Andrea
Inhalt
Vorwort
Aufruhr um die erste Herztransplantation 1969
Kindheit und Jugend
Endlich Medizin studieren
Weichenstellung
Pionierzeit der Herzchirurgie
Im VW Käfer durch die USA
Das Fernweh und die Ferienhäuser
Frau Professor
Die pensionierte Studentin
Alt, älter, sehr alt werden
Nachwort
Zeittafel
Dank
Anmerkungen
Bildnachweis
Autorin
«Time present and time past are both perhaps present in time future and time future contained in time past.»
T. S. Eliot
Vorwort
November 2014
Ein kalter, unfreundlicher Tag, draussen dunkelt es schon um 17 Uhr ein. Ich muss ein Buch holen in der Zentralbibliothek Zürich. Im Erdgeschoss, wo sich die Computer zur Recherche aneinanderreihen, entdecke ich einen mir bekannten weisshaarigen Kopf: Ruth Gattiker, Professorin für Herzanästhesie, 91 Jahre alt. Was macht sie hier? Ich gehe zu ihr hin. Sie sitzt vor einem Bildschirm, neben ihr liegen ein aufgeschlagenes Wörterbuch, mehrere Blätter Papier. «Guten Abend, Frau Gattiker.» Sie schreckt leicht auf, stutzt, erkennt mich: «Ah, grüezi Frau Schmid.» Ich frage, ob sie an etwas arbeite. «Nein, nein, ich mache Hausaufgaben, habe heute Abend noch Griechischunterricht oben an der Uni.»
Das ist Ruth Gattiker, besucht Altgriechischkurse mit über 90 Jahren. Sie wohnt in Davos, reist zwei- bis dreimal pro Woche mit dem Zug nach Zürich, geht ins Konzert, in die Oper oder eben an die Universität. Sie fährt noch Auto, geht jeden Tag ein bis zwei Stunden spazieren und scheint mir geistig und körperlich mindestens so fit wie ich mit meinen fast 50 Jahren. Nur das Gehör funktioniert nicht mehr optimal. Ab und zu muss sie nachfragen, und sie trägt ein Hörgerät. Doch das Erstaunliche an dieser Frau sind nicht nur ihre beneidenswert guten Gene. Erstaunlich ist, was sie aus ihren Gaben in diesen 91 Jahren gemacht hat, wie sie unbeeindruckt von Vorurteilen und gesellschaftlichen Normen, die für eine 1923 geborene Frau galten, ihren Weg gegangen ist und ihre Intelligenz, ihre Energie und die vielseitigen Begabungen genutzt hat und immer noch nutzt.
Januar 2015
Ich bin in Davos. Gestern habe ich sie angerufen und gefragt, ob sie Lust hätte, mit mir heute zu Mittag zu essen. «Ja, wieso nicht. Ich gehe am Nachmittag eine Bekannte auf dem Wolfgangpass besuchen. Wir können uns vorher treffen. Wo?» «Im Chesa im Hotel Seehof?» «Ja, das ist gut.» «Soll ich sie abholen, Frau Gattiker?» Sie wohnt am Eingang des Dischmatals in der Siedlung Büelen in ihrem früheren Ferienhaus. Ich war einmal dort.
«Nein, nein, das ist überhaupt nicht nötig.» Sie weist das Angebot leicht entrüstet zurück. Das ist etwas, was ich mit der Zeit lernen werde. Sie mag es nicht, wenn man ihr etwas nicht zutraut oder sie wie eine hilfsbedürftige ältere Dame behandelt. Alles, nur das nicht.
Wir treffen gleichzeitig um halb eins vor dem Restaurant ein. Sie beäugt kritisch den Steinboden im Eingangsbereich des Restaurants Chesa. «Ist das Stein? Dann muss ich meine Bergschuhe wegen der Eisen ausziehen.» Sie schnallt ihren kleinen Rucksack ab, packt ein paar leichtere Winterschuhe aus; mit der Hand auf einen Tisch abgestützt, bückt sie sich und wechselt auf einem Bein stehend ihre Schuhe. Nein, nein, sie braucht natürlich keine Hilfe, und die Schuhe mit den Eisen hatte sie nur an, weil sie vom Dischmatal zum Restaurant zu Fuss gegangen ist. Eine gute halbe Stunde. «Ich muss ja jeden Tagen gehen, das ist wichtig», sagt sie.
Ruth Gattiker ist ausserordentlich in vielerlei Hinsicht, mag es aber nicht, wenn man das erwähnt. Beim Mittagessen im Restaurant Chesa schlage ich ihr das erste Mal vor, dass wir zusammen ihre Lebensgeschichte aufschreiben könnten.
«Dumms Züüg, wer würdi das läse?», lautet die spontane erste Reaktion. Ich habe diesen Satz schon einmal gehört. Wir kennen uns, weil ich ein Jahr zuvor ein kurzes Porträt über sie und ihr Leben verfasst habe, nachdem ich sie bei einem Abendessen an der Universität kennengelernt hatte. Ihre burschikose, resolute Art und wie sie aus ihrem Leben erzählte, interessierten mich sofort.
Ruth Gattiker gehört zusammen mit anderen zu den Pionieren der Entwicklung der Herzchirurgie in den 1950er- und 1960er-Jahren. Aufgewachsen in einer Mittelstandsfamilie in Zürich Oerlikon mit Eltern, die sich für ihre beiden Töchter ein Leben als Hausfrau und Mutter vorstellten, war ihr Weg alles andere als vorgezeichnet. Gattiker ist als Kind ein widerspenstiger Rotschopf, der sich nicht davor scheut, mit dem autoritären Vater zu streiten. Sie träumt schon als Teenager von einem akademischen Beruf, möchte keine Kinder und unabhängig sein. Über Umwege – wie das dreimalige Ablegen der Matura, bis sie endlich Medizin studieren darf – wird sie Ärztin und spezialisiert sich auf Anästhesie. Als der renommierte Herzchirurg Åke Senning 1961 nach Zürich geholt wird, gibt das ihrem Weg eine neue Wende. 1963 verbringt sie ein Jahr an der Mayo-Klinik in den USA und macht danach mit ihrem VW Käfer für zwei Monate eine Tour zu den wichtigsten Herzkliniken. 1964 ist sie bei der ersten Nierentransplantation in Zürich mit dabei, 1969 bei der ersten Herztransplantation. Da steht längst fest, dass sie eine akademische Karriere einschlagen will. Ihre Habilitationsschrift erscheint 1971 und ist über viele Jahre das Standardwerk zum Thema Herzanästhesie im deutschsprachigen Raum. 1976 wird sie zur Titularprofessorin ernannt und 1986 pensioniert. Und obwohl sie in ihrem beruflichen Umfeld als Fräulein galt, das vorwiegend für seinen Beruf lebt, hatte Gattiker ein vielseitiges, schönes Privatleben.
Ich möchte dieses Buch über sie und mit ihr schreiben. Es scheint mir erzählenswert, dieses aussergewöhnliche, selbstbestimmte Leben. Kann ich sie davon überzeugen? Sie ist etwas misstrauisch, aber ganz abgeneigt wirkt sie nicht. Das hätten schon viele Leute gesagt, dass sie ihr Leben aufschreiben solle, aber sie wisse nicht recht. Die wachsamen, braunen Augen in dem schmalen Gesicht schauen mich prüfend an. Selbst schreiben will sie es nicht. Ich biete ihr an, Gespräche mit ihr zu führen. Sie schweigt und denkt nach. Ich dränge sie nicht. Wir lassen das Thema ruhen und gehen zu anderem über.
Als sie um zwei Uhr den Bus Richtung Wolfgang nimmt, kann ich noch nicht einschätzen, wie es weitergehen wird. Ich habe vorläufig auch gar keine Zeit für dieses Projekt, nur Lust darauf. Als der Bus weg ist, fällt mir ein Satz ein, den sie gegen Ende unseres Treffens gesagt hat: «Wissen Sie, ich will nicht sterben, ich lebe so gerne.» Rührt daher diese gewisse Scheu? – Sich auf ein Buch einzulassen, das eine letzte Seite haben wird?
Mai 2015
Tagelang hat es in Zürich geregnet. Überschwemmungsfrühling. Ich fahre nach Davos, wo mich ein strahlender Bergfrühlingstag empfängt; blühende Magerwiesen, weisse Berggipfel, dunkelblauer Himmel. Schöner kann es nicht sein. Ich bin mit ihr verabredet. Am Telefon habe ich berichtet, dass ein Verlag an ihrer Lebensgeschichte interessiert sei. Ich habe ein kleines Konzept geschrieben, der Verlag hat eine Vorkalkulation gemacht. Diese Papiere sind in meiner Tasche, als ich hinauffahre zur Siedlung Büelen, dazu das Verlagsprogramm und zwei Bücher, die ich geschrieben beziehungsweise mitgeschrieben habe. Werbung in eigener Sache, wir kennen uns noch nicht gut. Am Telefon klang Ruth Gattiker freundlich, lud mich zum Kaffee ein, kein Widerstand, als ich sagte, es gehe um ihre Biografie. Ich mache mir Hoffnungen. Um punkt drei Uhr klingle ich an der Tür ihres Hauses. Sie öffnet. Ihre mittelgrosse, hagere, leicht gebückte Gestalt. Sie wirkt aufgeräumt und vital, heisst mich willkommen, geht voraus in die Küche, lässt einen Kaffee für sich und einen Espresso für mich aus der Maschine. Ich stehe neben der Küchentür, betrachte einige der Bilder im Wohnzimmer. Der Vater ihrer Freundin Marie Lüscher, die dieses Ferienhaus mit ihr gebaut hat, war Maler. Die Bilder sind vom ihm, sagt sie. Eines gefällt mir besonders gut. Das Porträt der vielleicht achtjährigen Marie im roten Pullover. Ihr klares, kluges Kindergesicht, dunkle Augen, dunkles Haar, ernst und konzentriert schaut sie in die Ferne, noch so jung, wirkt sie bereits wie eine kleine Persönlichkeit. Mit zärtlicher Bewunderung hat der Vater sein Kind gemalt.
Wir setzen uns auf Ruth Gattikers sonnige Veranda, wo sie am Korrekturlesen der Programmtexte für das alljährliche Davos Festival im Sommer ist. Sie ist ja nicht nur Ärztin, sondern hat nach der Pensionierung auch noch Musikwissenschaften studiert. Sie räumt ihre Papiere beiseite, serviert den Kaffee. Dann ihr erster Satz, bevor ich den Mund öffnen kann: «Frau Schmid, schlagen Sie sich die Idee mit der Biografie aus dem Kopf, da mache ich nicht mit. Ich habe gar keine Zeit für so etwas, und dann das ganze Persönliche, darüber muss man ja auch sprechen, das will ich nicht. Nein, das wird nichts.»
Wieso mag ich diese Frau so? Vielleicht ist es ihre etwas ruppige Unverblümtheit, die Leidenschaftlichkeit, die dabei durchschimmert. Ich bin jedenfalls nicht hierhergekommen, um gleich aufzugeben. Wir trinken Kaffee, wir reden, sie erzählt Geschichten aus der Vergangenheit. Sie hat einen Sinn für Dramaturgie, für die Pointe. Sie erzählt gerne. Ich lege ihr meine Vorschläge in Papierform auf den Tisch. Als mein Telefon klingelt und ich kurz rangehen muss, liest sie mein Konzept und das Verlagspapier durch. Sie ist mit ein paar inhaltlichen Dingen nicht zufrieden, aber sie wird milder. Der Text soll auf keinen Fall in der Ich-Form geschrieben sein. Auch das Konzept sieht eine klassische Biografie in der dritten Person vor, und es macht ihr nun doch etwas Eindruck, dass ein Verlag bereit ist, das Buch herauszugeben, obwohl sie immer noch nicht ganz daran glauben will, dass ihr Leben jemanden interessieren könnte. Und mit dem «Frauenzeugs» könne ich gleich wegbleiben. Dass sie eine Frau sei und Karriere gemacht habe, tue überhaupt nichts zur Sache. Sie habe nie einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht und sich immer gleichwertig gefühlt. Und was in den 1970er-Jahren in der Frauenbewegung los gewesen sei, darüber habe sie weder Bescheid gewusst, noch habe es sie interessiert. Sie habe gar keine Zeit für solche Themen gehabt. Sie habe arbeiten müssen und war daran, sich zu habilitieren.
Dann ein Lichtschimmer. Sie fragt, wie viel Arbeit es für sie wäre. Sie habe ja viel zu wenig Zeit. Die Kurse in Altgriechisch hätten wieder angefangen, ihre ganzen Konzerte, da eine GV, dort eine Beerdigung, ihre Agenda sei gut gefüllt. Ich sage, es würden vermutlich 10 bis 20 Interviews, je nachdem wie lange wir sprechen könnten. Wir würden uns treffen und reden, bei ihr oder auch mal bei mir in Zürich, wo sie ja häufig sei. Sie könne am Ende alles lesen und die Fehler korrigieren, aber es sei natürlich mein Text. Sie müsse damit leben können, dass es meine Sicht auf ihr Leben sein werde. Sie denkt nach. «Dann ist es nicht so viel Aufwand für mich.» «Überlegen Sie es sich, und schlafen Sie darüber. Ich kann Sie ja morgen anrufen.» «Nein, das ist nicht nötig, dann machen wir es so», sagt sie plötzlich, wie aus heiterem Himmel. «Also Sie machen mit?» Jetzt bin ich fast überrumpelt, dass sie so unvermittelt zusagt. «Wollen Sie nicht nochmals darüber nachdenken? Schlafen Sie darüber. Ich rufe Sie morgen an.» «Nein, es ist in Ordnung, wenn es nur die Gespräche sind und ich es lesen darf, dann ist es gut.»
Ich bin verblüfft über diese Kehrtwende, aber sie hat in den vergangenen eineinhalb Stunden wieder so lebendig aus ihrem Leben erzählt. Sie ist eine Geschichtenerzählerin. Und letztlich weiss sie wohl trotz allem, wie viel Potenzial in ihrem Leben steckt. «Wollen wir uns nicht duzen? Immerhin schreiben wir nun ja ein Buch zusammen», schlage ich vor. «Ja, wieso nicht. Ruth.» «Denise.»
Ich merke, dass ihr nicht ganz wohl dabei ist, mit einer fast Fremden so schnell per Du zu sein. Der Generationenunterschied zwischen uns. Aber die vertrauliche Anrede wird bald einmal zur Selbstverständlichkeit.
«Und was ist, wenn ich mich falsch erinnere?», fragt sie. «Diese Gefahr besteht, ich bin 92.» «Ja, das kann man nicht ausschliessen. Aber jede Biografie ist ein Konstrukt, und ich werde zusätzlich historischen Hintergrund recherchieren und versuchen, mit anderen Personen zu sprechen.» «Aber die allermeisten sind doch schon tot», meint sie nüchtern. «Und was ist, wenn ich plötzlich sterbe?» «Du wirst nicht bald sterben. Da ist so viel Energie. Ich habe keine Angst. Wir schreiben dieses Buch zusammen.» Sie lächelt ein wenig. Das erste Mal. Wir vereinbaren einen ersten Interviewtermin. Am 18. Mai ist sie abends an einem Konzert in Zürich und übernachtet dann im Hotel Seehof. Sie kann am nächsten Morgen zu mir ins Büro kommen. «Gut, dann bin ich um acht Uhr bei dir.» «Für mich ist das gut, aber ist das nicht zu früh für dich?» «Mir ist keine Zeit zu früh.»
Januar 2016
Ein Jahr ist vergangen seit unserem Essen im Restaurant Chesa in Davos, mehr als ein halbes Jahr ist es her seit dem ersten Interview für das Buch. Längst haben wir mehr als zehn Gespräche geführt. Interessante Monate liegen hinter uns. Zu Beginn kam Ruth oft bei mir an und liess mich spüren, dass ihr die Angelegenheit lästig sei. Es ermüdete sie, über ihre Vergangenheit zu sprechen, aber sie war loyal und tat es trotzdem, und immer wieder fing sie auch Feuer für die Geschichten und Anekdoten aus ihrem Leben. Einmal sprach ich sie auf ihren Widerstand an, sagte, dass sie es rechtzeitig sagen solle, wenn sie aufhören will, nicht erst, wenn ich drei Viertel des Buches geschrieben habe. Sie schaute mich etwas verwundert an und versicherte dann, dass sie sich an die Abmachung halten werde. Sie kann stachelig und widerspenstig sein, streitet auch gerne, vor allem, wenn ich private Fragen stelle, die sie wie lästige Fliegen abwehrt. Sie ist auf der Hut und nicht leicht zu greifen. Sie hat es in der Hand, ihre Informationen zu dosieren. Und so grosszügig und offen sie sein kann, sie macht von ihrem Wissensmonopol gewiss auch Gebrauch. Ich weiss zwar nicht, was ich nicht weiss, aber ich ahne mitunter, dass es Dinge gibt, die ich nicht erfahren soll und vielleicht auch nicht erfahren muss.
Alles in allem ist es eine höchst faszinierende Erfahrung, nicht nur mit Papier, sondern mit einer lebendigen Quelle zu arbeiten, und dazu noch mit einer geistig so regen. Zu sehen, was Ruth im Gedächtnis haften geblieben ist und es mit Dokumenten, die ich in Archiven finde und Material, das sie mir gibt, sowie durch Gespräche mit Verwandten und Weggefährten zu ergänzen. Es gibt viele schöne Momente in unserer Zusammenarbeit. Besonders schön, wenn sie sich aufgrund des Manuskripts, das sie gelesen hat, plötzlich ganz neuer, weiterer Geschichten erinnert. Sie steigen aus dem Gedächtnis auf, lang vergessen. So baut sich der Text über die Zeit auf und zusammen wie ein grosses, verschachteltes Puzzle. Kurz vor Weihnachten 2015 gehen wir Hunderte von Dias auf ihrem Dachboden miteinander durch. Sie hat eine Stehlampe hochgeschleppt und hilft mir suchen. Das erste Mal habe ich den Eindruck, dass sie auch ein wenig Freude an diesem Wühlen in ihrer Vergangenheit hat, auch wenn sie es nicht zugeben würde.
Mit der Zeit entdecke ich neben ihrer grossen Energie aber auch noch andere Seiten, dass sie ein ausgeprägter Morgenmensch ist und abends mitunter etwas misslaunig werden kann. Einmal ruft sie mich am Abend, bevor ich zu ihr kommen soll, an und verkündet resolut, dass sie morgen kaum Zeit für mich haben werde. Man habe ihr vor einigen Tagen das Portemonnaie gestohlen, und sie habe deshalb noch so viel zu erledigen. Eine Stunde höchstens habe sie Zeit für mich, und die Unterlagen, nach denen ich gefragt hätte, habe sie auch noch nicht raussuchen können. Sie klingt gestresst. Als ich am nächsten Vormittag bei ihr auftauche, darauf gefasst, dass ich bald wieder gehen muss, empfängt sie mich freundlich und führt mich in die erste Etage ins Zimmer von Marie Lüscher. Dort auf dem Bett hat sie ihre Schätze ausgebreitet: die Aufzeichnungen zu ihren Reisen seit den 1950er-Jahren und die Tagebücher, die sie ab 1981 geführt hat. Dazu eine Schachtel mit Fotografien und Dokumenten. Ich soll doch einfach alles mitnehmen, meint sie. Ich bin überrascht und überwältigt von diesem unerwarteten, schönen Vertrauensbeweis. Anschliessend sitzen wir in ihrem hellen Wohnzimmer mit dem grossen schwarzen Flügel und reden noch fast drei Stunden. Dann hilft sie mir, das Material im Auto zu verstauen. Sie kann ebenso kantig und abweisend wie grosszügig und warmherzig sein. Ich erlebe beide Seiten, und das tut der Bewunderung für diese eigenwillige Persönlichkeit keinen Abbruch, im Gegenteil. Wäre sie immer nett, freundlich und unverbindlich gewesen, hätte sie eine solche Karriere machen können?
Von ihren über 90 Lebensjahren verbringt die 1923 Geborene die ersten 29 Jahre mit Schule und Studium bis zum Staatsexamen 1952, anschliessend 34 Jahre im Beruf. Und heute, wenn ich dies schreibe, ist sie 30 Jahre pensioniert, wovon sie noch elf Jahre mit einem Zweitstudium in Musikwissenschaften und Philosophie verbracht hat. Ruth Gattikers Leben lässt sich grob in Drittel teilen, ganz unterschiedliche Drittel, die doch alle ineinandergreifen. Die grossen Linien waren von Anbeginn da und sind bis heute in jedem Gespräch mit ihr spürbar: die unstillbare intellektuelle Neugier, der zähe Wille, Wachsamkeit, viel Energie und sehr viel Selbstdisziplin. Und ihre direkte, unverblümte Art, der trockene Humor, Bescheidenheit und ein leidenschaftliches, erzählerisches Talent, das Gespür für eine interessante Geschichte.
Kapitel 1
Aufruhr um die erste Herztransplantation 1969
Man will, man muss es mal versuchen
«Ruth, wärst du bereit für eine Herztransplantation?» Professor Åke Senning spricht die Oberärztin für Herzanästhesie Ruth Gattiker auf dem Flur des Operationstrakts an. Er steht dort mit dem Direktor für Neurochirurgie, Prof. Hugo Krayenbühl. Mit der Frage meinte er, ob sie bereit wäre, die Narkose zu machen, während er die Operation durchführen würde. Senning ist Herzchirurg, ein gross gewachsener, eleganter Schwede, Mitte 50 und seit acht Jahren Direktor der Chirurgischen Klinik A des Kantonsspitals Zürich. Es ist Montag, der 14. April 1969, gegen halb zehn Uhr morgens, und Ruth Gattiker kommt eben aus dem Pausenraum, im Schlepptau den schwedischen Journalisten Bernt Bernholm, hohe Stirn, Hornbrille, sympathisch und aufgeschlossen. Der Tag hat früh begonnen. Senning hat die Anästhesistin morgens nach sieben Uhr gebeten, Bernholm unter ihre Fittiche zu nehmen. Dieser wolle einen Tag in der Herzchirurgie verbringen, überall zusehen. Er sei der beste Medizinjournalist, den er kenne, hat Senning für ihn geworben. Er und Bernholm sind Jugendfreunde. Sie haben früher in Schweden zusammen Fussball gespielt.
Ruth Gattiker ist überrascht über die unvermittelte Frage. Das Thema Herztransplantation liegt zwar in der Luft, seit Christiaan Barnard eineinhalb Jahre zuvor in Kapstadt ein Herz verpflanzt hat, und im Experimentallabor des Kantonsspitals forscht man auch zu diesem Thema, aber jetzt, so plötzlich an diesem Montagmorgen? Der Grund ist einfach, man hat endlich einen Spender für einen der beiden möglichen Empfänger, die darauf warten. Der Neurochirurg Krayenbühl hat eben ein hirntotes Unfallopfer mit der Blutgruppe A positiv für die Entnahme des Herzens freigegeben.1 Der Tag der ersten Herztransplantation in der Schweiz ist da, und der schwedische Journalist Bernholm hat damit unverhofft den Jackpot für seine Recherche geknackt.
Die Anästhesistin, 46 Jahre alt, gross, schlank, mit rotbraun gewelltem Haar, seit zwölf Jahren am Kantonsspital tätig, hat an diesem Morgen schon eine Anästhesie für eine Herzoperation gemacht. Es war ein kleinerer Eingriff. Ruth Gattiker weiss im Rückblick nur noch, dass alles glattging und sie die weitere Überwachung des Patienten einem Assistenzarzt und den Schwestern überlassen kann. Nach getaner Arbeit gönnt sie sich in ihrer grünen OP-Bekleidung in dem kleinen Pausenraum des Operationstrakts zusammen mit Kollegen und dem Journalisten einen Kaffee. Senning winkt sie zu sich, als sie den Raum verlässt. Er und Krayenbühl erklären ihr kurz die Situation.
Der Herzspender ist ein 27-jähriger Hilfsarbeiter und Hobby-Privatdetektiv aus Lachen, der zwei Tage zuvor durch ein Glasdach gefallen und bewusstlos, mit schweren Schädel-Hirn-Verletzungen ins Kantonsspital eingewiesen worden ist. Die Messung der Hirnaktivitäten mittels EEG (Elektroenzephalografie) hat schon am Sonntag nur noch einen Strich auf dem Bildschirm gezeigt, obwohl der Patient noch selbstständig atmete. Die erneute Messung am Montagmorgen hat wieder das gleiche Resultat gezeigt: keinerlei Hirnaktivität. Und um sieben Uhr hat die Atmung ausgesetzt, deshalb hat man ihn an eine Beatmungsmaschine angeschlossen. Für den Neurochirurgen Krayenbühl ist der Fall klar: Der Patient ist hirntot. Klare Vorschriften oder Regeln bezüglich Einwilligung der Angehörigen gibt es damals genauso wenig wie offizielle Kriterien zur genauen Definition des Todes. Der Operation steht nichts im Weg.
Obwohl man vermutet, dass genetische Ähnlichkeiten zwischen Spender und Empfänger zu einer Verringerung der Abstossungsgefahr beitragen, kann man die sogenannte Leukozytentypisierung nicht durchführen. Alle dazu qualifizierten Leute sind am Kongress für experimentelle Chirurgie in Davos.2 Aber eine gesicherte Erkenntnis ist das mit der Leukozytentypisierung nicht. Man weiss so oder so noch vieles nicht zum Thema Abstossung, hat aber dank den Nierentransplantationen, die man seit fünf Jahren regelmässig macht, doch schon etwas Erfahrung mit dem Thema. Man will, man muss es mal versuchen. Am Mittag soll es losgehen.