Die Nonne

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Er wußte das. Besonders beklagte ich mich über meine Mutter mit Bitterkeit und Groll. Dieser Priester war spät in den geistlichen Stand eingetreten. Er war menschlich gesinnt, hörte mich ruhig an und sagte zu mir:

»Mein Kind, beklagen Sie Ihre Mutter, beklagen Sie sie noch mehr, als Sie sie tadeln, Ihre Seele ist gut, seien Sie überzeugt, daß sie gegen ihren Willen so handelt.«

»Gegen ihren Willen, mein Herr, was kann sie denn dazu zwingen? Hat sie mich nicht in die Welt gesetzt? Und welcher Unterschied besteht denn zwischen mir und meinen Schwestern?«

»Ein großer Unterschied.«

»Ein großer? Ich verstehe Ihre Worte nicht!«

Ich wollte eben einen Vergleich zwischen mir und meinen Schwestern anstellen, als er mich unterbrach und sagte:

»Nein, sage ich Ihnen, nein; die Unmenschlichkeit ist nicht das Laster Ihrer Eltern. Versuchen Sie, Ihr Schicksal in Geduld zu tragen. Ich werde Ihre Mutter aufsuchen, und seien Sie überzeugt, daß ich allen Einfluß, den ich auf ihren Geist besitze, aufbieten werde, um Ihnen dienlich zu sein.«

Am folgenden Sonnabend gegen 5½ Uhr abends kam die Magd, die mich bediente, zu mir herauf und sagte:

»Ihre Frau Mutter befiehlt Ihnen, sich anzuziehen und herunterzukommen!«

Vor der Tür fand ich einen Wagen, in dem wir, die Magd und ich, Platz nahmen, und ich erfuhr, daß wir zum Pater Seraphin zu den Feuillantinern fuhren. Er erwartete uns und war allein. Die Magd entfernte sich, und ich trat in das Sprechzimmer. Unruhig und neugierig, was er mir wohl zu sagen haben möchte, setzte ich mich, und er sprach nun folgendes zu mir:

»Mein Fräulein, das Rätsel des strengen Benehmens Ihrer Eltern gegen Sie soll sich jetzt für Sie lösen; ich habe hierfür die Erlaubnis Ihrer Frau Mutter erhalten. Sie sind klug, Sie besitzen Geist und Festigkeit und stehen in einem Alter, wo man Ihnen ein Geheimnis anvertrauen darf, selbst wenn es Sie nicht persönlich anginge. Ihre Mutter hat geglaubt, auch Sie ohne dieses Mittel ihren Plänen zugänglich zu machen; doch sie hat sich getäuscht und ist erzürnt darüber. Heute kommt sie auf meinen Rat zurück und beauftragt mich, Ihnen mitzuteilen, daß Sie nicht die Tochter des Herrn Simonin sind.«

Auf der Stelle erwiderte ich ihm:

»Das hatte ich geahnt!«

»Sehen Sie jetzt, mein Fräulein, denken Sie darüber nach, und urteilen Sie, ob Ihre Frau Mutter ohne Einwilligung, ja, selbst mit der Einwilligung Ihres Herrn Vaters, Sie Kindern gleichstellen darf, deren Schwester Sie nicht sind ...«

»Aber, mein Herr, wer ist denn mein Vater?«

»Mein Fräulein, das hat man mir nicht anvertraut. Es ist nur zu gewiß«, fügte er hinzu, »daß man Ihre Schwestern übertrieben begünstigt und alle möglichen Vorkehrungen getroffen hat, durch Ehekontrakte, durch Veräußerung der Güter, durch Stipulationen, durch Fideikommisse und andere Mittel, den Ihnen zukommenden Pflichtteil auf nichts zu reduzieren, im Falle Sie eines Tages sich an die Gerichte wenden sollten. Wenn Sie eines Tages Ihre Eltern verlieren, so werden Sie wenig vorfinden; Sie weisen das Kloster zurück, vielleicht werden Sie das noch bedauern ...«

»Nein, mein Herr, niemals; auch verlange ich nichts!«

»Sie wissen nicht, was Arbeit, Not und Sorgen sind!«

»Ich kenne wenigstens den Preis der Freiheit und die Last eines Standes, zu dem man sich nicht berufen fühlt!«

»Ich habe gesagt, was ich Ihnen zu sagen hatte; jetzt ist es an Ihnen, darüber nachzudenken!«

Damit erhob er sich.

»Mein Herr, noch eine Frage!«

»Soviel Sie wollen ...«

»Wissen meine Schwestern, was Sie mir mitgeteilt haben?«

»Nein, mein Fräulein!«

»Wie konnten sie sich dann entschließen, ihre Schwester zu plündern, denn sie halten mich doch dafür?«

»Ach, mein Fräulein, der Eigennutz, der Eigennutz; sie hätten nicht so gute Partien gemacht, und deshalb rate ich Ihnen, nicht auf Ihre Schwestern zu rechnen, wenn Sie Ihre Eltern verlieren sollten; seien Sie überzeugt, man wird Ihnen bis auf den letzten Heller den kleinen Teil streitig machen, den sie mit Ihnen zu teilen haben. Sie haben viele Kinder, und dieser Vorwand wird ihnen stichhaltig genug erscheinen, um Sie zur Armut zu zwingen. Wenn Sie mir folgen wollen, so versöhnen Sie sich mit Ihren Eltern, tun Sie, was Ihre Mutter von Ihnen erwartet und gehen Sie ins Kloster! Man wird Ihnen eine kleine Pension aussetzen, mit der Sie Ihre Tage, wenn nicht glücklich, so doch erträglich verbringen werden. Gehen Sie, mein Fräulein, Sie sind gut und klug, und denken Sie über das nach, was Sie eben gehört haben!«

Ich erhob mich und begann zu weinen. Ich sah, daß er selbst gerührt war; er schlug die Augen gen Himmel und begleitete mich hinaus. Die Magd, die mich hergebracht, erschien, und wir kehrten nach Hause zurück.

Es war spät, und ich beschloß, meiner Mutter mein Herz auszuschütten, daher ließ ich sie um eine Unterredung bitten, die mir auch bewilligt wurde.

Es war im Winter, sie saß in einem Sessel vor dem Feuer, ihr Gesicht war streng, ihr Blick starr, die Züge unbeweglich. Ich näherte mich ihr, warf mich ihr zu Füßen, und bat sie für alles Unrecht, das ich gegen sie begangen, um Verzeihung.

»Eben durch das«, erklärte sie, »was du mir sagen wirst, kannst du dir diese Verzeihung verdienen. Stehe auf, dein Vater ist abwesend; du hast also volle Zeit, dich auszusprechen! Du hast den Pater Seraphin gesehen; weißt endlich, wer du bist, und was du von mir erwarten kannst, wenn es nicht in deiner Absicht liegt, mich mein ganzes Leben für einen Fehltritt zu strafen, den ich schon allzu sehr gebüßt habe. Nun, was willst du von mir, was hast du beschlossen?«

»Mama«, erwiderte ich ihr, »ich weiß, daß ich nichts besitze, und nichts beanspruchen darf. Ich bin weit entfernt, Ihre Leiden vergrößern zu wollen, vielleicht hätten Sie mich Ihrem Willen gefügiger gefunden, hätten Sie mich früher von einigen Umständen unterrichtet, die ich nur schwer vermuten konnte; doch schließlich weiß ich Bescheid, ich kenne mich, und es bleibt mir nichts weiter übrig, als mich meiner Lebensstellung anzupassen. Ich wundere mich nicht mehr über den Unterschied, den man zwischen meinen Schwestern und mir gemacht hat; ich erkenne die Berechtigung desselben an und unterwerfe mich ihm; aber ich bin doch immer Ihr Kind. Sie haben mich in Ihrem Schöße getragen, und ich hoffe, das werden Sie nicht vergessen!«

»Wehe mir«, unterbrach sie mich lebhaft, »wenn ich dich nicht soweit anerkennen würde, wie es in meiner Macht steht!« »Nun gut, Mama«, sagte ich zu ihr, »so geben Sie mir Ihre Liebe wieder, schenken Sie mir wieder Ihre Gegenwart, und verschaffen Sie mir wieder die Zärtlichkeit des Mannes, der sich für meinen Vater hält!«

»Es fehlt nicht viel daran, und er ist über deine Geburt ebenso klar unterrichtet, wie du und ich. Ich sehe dich nie in seiner Nähe, ohne seine Vorwürfe zu hören; er macht sie mir durch die Härte, mit der er dich behandelt. Hoffe von ihm nie die Gefühle eines zärtlichen Vaters. Und dann, – soll ich es dir gestehen, – erinnerst du mich an einen Verrat, an eine so gehässige Undankbarkeit von Seiten eines andern, daß ich den Gedanken daran nicht zu ertragen vermag: dieser Mann tritt unaufhörlich zwischen dich und mich. Er stößt mich zurück, und der Haß, den ich gegen ihn hege, fällt auf dich zurück!«

»Wie?« erwiderte ich, »darf ich nicht hoffen, daß Sie mich, Sie und Herr Simonin, wie eine Fremde, eine Unbekannte behandeln, die Sie aus Menschlichkeit aufgenommen haben?«

»Das können wir beide nicht. Mein Kind, vergifte mein Leben nicht länger. Wenn du keine Schwestern hättest, so weiß ich, was mir zu tun übrig bliebe, doch du hast zwei, und beide haben eine zahlreiche Familie. Schon vor langer Zeit ist die Leidenschaft, die mich aufrecht hielt, erloschen, das Gewissen ist wieder in seine Rechte getreten.«

»Doch der Mann, dem ich das Leben verdanke?«

»Er ist nicht mehr; er ist gestorben, ohne sich deiner zu erinnern; doch das ist die geringste seiner Missetaten.«

Bei diesen Worten verzerrte sich ihr Gesicht, ihre Augen blitzten; die Entrüstung bemächtigte sich ihrer Züge; sie wollte sprechen, doch sie konnte keine Silbe mehr hervorbringen; das Zittern ihrer Lippen verhinderte sie daran. Sie saß, ihr Kopf neigte sich auf ihre Hände, denn sie wollte mir die heftige Erregung verbergen, die in ihr vorging. In diesem Zustand blieb sie eine Zeit lang, dann erhob sie sich, ging einige Male im Zimmer auf und ab, ohne zu sprechen; endlich drängte sie ihre Tränen zurück und sagte:

»Das Ungeheuer! es ist nicht seine Schuld, wenn du nicht durch alle Leiden, die er mir verursacht hat, in meinem Schoße erstickt bist. Gott hat uns beide erhalten, damit die Mutter ihren Fehltritt durch das Kind sühne. Meine Tochter, du hast nichts und wirst nie etwas haben. Das wenige, das ich für dich tun kann, entziehe ich deinen Schwestern; das sind die Folgen meiner Schwäche. Jedoch hoffe ich, daß ich mir bei meinem Tode nichts vorzuwerfen brauche; denn ich werde deine Ausstattung durch meine Ersparnisse erworben haben. Ich mißbrauche die Nachsicht meines Gatten durchaus nicht und lege alle Tage beiseite, was ich durch seine Freigebigkeit erhalte. Ich habe alles verkauft, was ich an Schmucksachen besaß, und habe von ihm die Erlaubnis bekommen, über den empfangenen Betrag nach Belieben zu verfügen. Ich liebte das Spiel; ich spiele nicht mehr; ich liebte das Theater; ich habe darauf verzichtet; ich liebte die Gesellschaft; ich lebe zurückgezogen; ich liebte den Prunk; ich habe ihm entsagt. Wenn du ins Kloster trittst, so wie es mein Wille und der des Herrn Simonin ist, so wird deine Ausstattung die Frucht dessen sein, was ich alle Tage zurücklege.«

»Aber Mama«, versetzte ich, »es kommen noch immer einige wohlhabende Leute hierher; vielleicht findet sich einer, der, mit meiner Person zufrieden, nicht einmal die Ersparnisse verlangen wird, die Sie für meine Ausstattung bestimmt haben?«

 

»Daran darfst du nicht denken; das Aufsehen, das du gemacht, hat alles verdorben!«

»So ist das Übel unheilbar?«

»Unheilbar!«

»Wenn ich nun aber keinen Gatten finde, so brauche ich doch deswegen nicht in ein Kloster eingesperrt zu werden?«

»Wenn du meinen Schmerz und meine Gewissensbisse nicht verlängern willst, bis ich die Augen schließe, so muß es sein. Einst wird auch meine Stunde schlagen; in diesem schrecklichen Augenblick werden deine Schwestern an meinem Bette stehen; sage mir, ob ich dich unter ihnen dulden kann. Welchen Eindruck würde deine Gegenwart in diesem letzten Moment machen? Meine Tochter, denn du bist es wider meinen Willen, deine Schwestern haben vom Gesetz einen Namen erhalten, den du nur dem Verbrechen dankst. Betrübe eine Mutter nicht, welche sühnen will, lasse sie friedlich ins Grab steigen; mag sie sich selbst sagen, wenn sie im Begriffe steht, vor dem großen Richter zu erscheinen, daß sie ihren Fehler, soviel es an ihr lag, gut gemacht hat, daß sie sich schmeicheln darf, daß du nach ihrem Tode keinen Hader in das Haus tragen und keine Rechte beanspruchen wirst, die du nicht besitzest.«

»Mama«, sagte ich zu ihr, »seien Sie darüber unbesorgt, lassen Sie einen Rechtsgelehrten kommen, er mag eine Schenkungsakte aufsetzen, und ich unterschreibe alles, was er mir befiehlt.«

»Das ist nicht möglich; ein Kind enterbt sich nicht selbst, das ist die Strafe von Seiten eines Vaters und einer mit Recht erzürnten Mutter. Wenn es Gott gefiele, mich morgen zu sich zu rufen, so müßte ich mich morgen zum äußersten entschließen und mich meinem Gatten eröffnen, um im Einverständnis mit ihm dieselben Maßregeln zu treffen. Zwinge mich nicht zu einem Schritte, der mich in seinen Augen verhaßt macht und Folgen nach sich ziehen würde, die dich entehren müßten. Wenn du mich überlebst, so wirst du ohne Namen, ohne Vermögen und ohne Stand dastehen; Unglückliche, sage mir, was soll aus dir werden? .... Welche Gedanken soll ich ins Grab mit mir nehmen? Ich soll also deinem Vater sagen ... Doch was soll ich ihm sagen? Daß du nicht sein Kind bist? Meine Tochter, wenn weiter nichts nötig wäre, um mich zu deinen Füßen zu werfen und dich zu bestimmen ... Doch du fühlst nichts, du hast die unbeugsame Seele deines Vaters ...«

In diesem Augenblick trat Herr Simonin ein und bemerkte die Aufregung seiner Frau. Er liebte sie, und da er heftig war, so blieb er plötzlich stehen, warf mir einen schrecklichen Blick zu und sagte: »Hinaus«.

Wäre er mein Vater gewesen, ich hätte ihm nicht gehorcht, doch er war es nicht. Zu dem Diener, welcher mir leuchtete, sich wendend, fügte er hinzu:

»Sagen Sie ihr, sie soll nicht wieder hier erscheinen.«

Ich schloß mich wieder in mein kleines Gefängnis ein und dachte über das nach, was mir meine Mutter gesagt hatte; dann ersuchte ich die Magd, welche mich bediente, sie möchte mich benachrichtigen, wenn mein Vater ausgegangen wäre, und schon am nächsten Tage erbat ich eine Unterredung mit meiner Mutter; doch sie ließ mir antworten, sie hätte Herrn Simonin das Gegenteil versprochen, aber ich könne ihr mit einem Bleistift, den sie mir schicke, schreiben.

Ich schrieb ihr daher folgendes auf ein Blatt Papier:

»Mama, ich bin traurig wegen allen den Leiden, die ich Ihnen verursacht habe, und bitte Sie deswegen um Verzeihung; es ist meine Absicht, ihnen ein Ende zu machen. Verlangen Sie von mir alles, was Ihnen beliebt, und wenn es Ihr Wille ist, daß ich Nonne werden soll, so wünsche ich nur, daß es auch der Wille Gottes sein möge.«

Die Magd nahm diese Zeilen und brachte sie meiner Mutter. Einen Augenblick später kam sie wieder heraus und sagte zu mir hocherfreut:

»Fräulein, da es nur eines Wortes bedurfte, Ihren Vater, Ihre Mutter und Sie glücklich zu machen, warum haben Sie das so lange aufgeschoben? Der Herr und die Madame haben ein Gesicht gemacht, wie ich es, seit ich hier bin, bei ihnen nicht gesehen; sie zankten sich Ihretwegen unaufhörlich; Gott sei Dank werde ich das jetzt nicht mehr sehen.«

Einige Tage vergingen, ohne daß ich etwas hörte; doch eines Morgens gegen 9 Uhr öffnete sich meine Tür plötzlich; es war Herr Simonin, der im Schlafrock und in der Nachtmütze eintrat. Ich erhob mich und machte ihm eine Verbeugung, während er zu mir sagte:

»Susanna, erkennst du dieses Billett?«

»Ja, mein Herr!«

»Hast du's aus freien Stücken geschrieben?«

»Darauf kann ich nur »Ja« sagen!«

»Bist du wenigstens entschlossen, das auszuführen, was du darin versprichst?«

»Ich bin es!«

»Hast du keine Vorliebe für irgend ein Kloster?«

»Nein, sie sind mir gleichgültig!«

»Es ist gut; das genügt!« – – –

Etwa 14 Tage vergingen, ohne daß ich von dem, was man mit mir beabsichtigte, auch nur das geringste erfuhr; ich glaube, man hatte sich an verschiedene fromme Häuser gewendet, doch der Skandal meines ersten Schrittes war meiner Aufnahme als Postulantin hinderlich. In Longchamp war man weniger schwierig, und zwar jedenfalls, weil man hatte durchblicken lassen, ich wäre musikalisch und hätte Stimme. Man übertrieb wohl die Schwierigkeiten, die man gehabt, und die Gnade, die man mir angedeihen ließ, daß man mich in diesem Hause aufnahm; man veranlaßte mich sogar, an die Oberin zu schreiben. Ich hatte keine Ahnung von den Folgen dieses schriftlichen Zeugnisses, das man mir abverlangte; man fürchtete anscheinend, ich könnte mein Gelübde widerrufen, und wollte ein Zeugnis von meiner eigenen Hand haben, daß mein Entschluss ein freiwilliger gewesen war.

Ich wurde also nach Longchamp gebracht, und meine Mutter begleitete mich dorthin. Man erwartete mich, ich wurde gemeldet; und man kannte mich bereits durch meine Geschichte und meine Talente. Von der ersteren sagte man mir nichts, wollte dagegen gleich sehen, ob die Erwerbung, die man machte, der Mühe wert war. Als man sich von vielen gleichgültigen Dingen unterhalten hatte, sagte die Oberin:

»Mein Fräulein, Sie verstehen Musik und singen, wir haben einen Flügel; wenn Sie wollen, gehen wir in unser Sprechzimmer!«

Mir war die Seele wie zugeschnürt, doch es war nicht der Augenblick, Widerwillen merken zu lassen; meine Mutter ging voran, ich folgte ihr; während die Oberin mit einigen Nonnen, die die Neugier herbeigelockt hatte, den Zug schloß. Es war Abend, man brachte Lichter, und ich setzte mich an den Flügel; ich präludierte lange Zeit und suchte in meinem Kopfe nach einem Musikstück, fand aber nichts; indessen drängte mich die Oberin, und ich sang, ohne mir dabei etwas zu denken, aus Gewohnheit, weil mir das Stück vertraut war: »Traurige Vorbereitungen, bleiche Flammen, Tag, der du finsterer bist als die Schatten u. s. w.« Ich weiß nicht, welche Wirkung das Stück hervorbrachte, doch man hörte mir nicht lange zu, sondern unterbrach mich durch Lobeserhebungen, die ich meiner Ansicht nach recht schnell und mit geringen Kosten verdient hatte. Meine Mutter überließ mich den Händen der Oberin, reichte mir die Hand zum Kusse und kehrte nach Hause zurück.

Ich befinde mich also jetzt in einem anderen Kloster als Postulantin, und zwar hat es den Anschein, als hielte ich mich hier aus freiem Willen auf. In Longchamp wechseln wie in den meisten Klöstern, die Oberinnen von drei zu drei Jahren. Es war eine Frau von Monc, welche gerade ihr Amt antrat, als ich in das Haus gebracht wurde. Sie war eine vernünftige Frau, die das menschliche Herz kannte, sie hatte Nachsicht, obwohl niemand derselben bedurfte, und wir waren alle ihre Kinder. Sie sah stets nur die Fehler, die sie sehen mußte, oder deren Bedeutung ihr nicht gestattete, die Augen zu schließen. Ich spreche darüber ohne selbstsüchtiges Interesse, denn ich habe meine Pflicht pünktlich getan, und sie würde mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu bezeugen, daß ich nichts getan, um Strafe zu verdienen, oder was sie mir hätte verzeihen müssen. – Wenn sie eine Vorliebe zeigte, so wurde ihr dieselbe durch das Verdienst eingegeben; und ich weiß nicht, ob ich sagen darf, daß sie mich zärtlich liebte, und daß ich nicht die letzte unter ihren Favoritinnen war. Den Namen Favoritin geben die andern den Lieblingen der Oberin aus Neid. Wenn ich Frau von Monc einen Fehler vorzuwerfen habe, so wäre es der, daß ihre Neigung für die Tugend, die Frömmigkeit, die Offenheit, die Sanftmut, die Talente, die Ehrenhaftigkeit sie beeinflußten, und daß sie recht wohl wußte, daß diejenigen, die keinen Anspruch darauf erheben könnten, dadurch nur noch mehr gedemütigt werden würden. Sie besaß auch die Gabe, die menschlichen Geister schnell voneinander zu unterscheiden. Mich gewann sie bald lieb, und auch ich hatte gleich von vornherein Vertrauen zu ihr. Sie sprach mit mir von meinem Abenteuer in Sainte-Marie; ich erzählte es ihr ohne Umschweife und sagte ihr alles, was meine Geburt betraf, sowie auch hinsichtlich meiner Leiden; nichts wurde vergessen. Sie beklagte mich, tröstete mich und ließ mich auf eine schönere Zukunft hoffen. Indessen verging die Zeit des Postulats; dann kam die, den Schleier zu nehmen, und ich nahm ihn. Ich bestand mein Noviziat ohne Widerwillen und übergehe schnell diese zwei Jahre, weil sie nichts Trauriges für mich hatten, als das geheime Gefühl, daß ich mich Schritt für Schritt einem Stande näherte, für den ich nicht geschaffen war. Manchmal tauchte dieses Gefühl von neuem in mir auf, doch sogleich nahm ich zu meiner guten Oberin meine Zuflucht, die mich umarmte, meine Seele aufrichtete, mir nachdrücklichst ihre Gründe auseinandersetzte und schließlich stets zu mir sagte:

»Haben die andern Berufe nicht auch ihre Dornen? Man fühlt nur die seinen ... Auf, mein Kind, kommen Sie, lassen Sie uns auf die Knie fallen und beten.«

Bei diesen Worten warf sie sich nieder und betete laut, doch mit solcher Salbung, Beredsamkeit, Kraft und Rührung, daß man hätte glauben können, der Geist Gottes begeistere sie.

Indessen versank ich, je mehr sich der Tag nahte, an dem ich das Gelübde ablegen sollte, in eine so tiefe Schwermut, daß die gute Oberin durch dieselbe auf schreckliche Proben gestellt wurde. Ihr Talent verließ sie, und sie gestand es mir selbst.

»Ich weiß nicht«, sagte sie zu mir, »was in mir vorgeht. Ich glaube, wenn Sie kommen, zieht sich Gott von mir zurück, und sein Geist schweigt. Umsonst rege ich mich an, suche Gedanken und will meine Seele anfeuern; ich fühle mich als eine gewöhnliche und beschränkte Frau und fürchte mich, zu sprechen.«

»Oh, teure Mutter«, sagte ich zu ihr, »welche Ahnung! wenn Gott Sie selbst stumm machte!«

Eines Tages, als ich mich ungewisser und niedergeschlagener als je fühlte, ging ich in ihre Zelle; meine Anwesenheit verwirrte sie zuerst; sie las augenscheinlich in meinen Augen, in meiner ganzen Person, daß das Gefühl, das ich in mir trug, über ihre Kräfte ging, und sie wollte nicht kämpfen ohne auch die Gewissheit zu haben, daß sie siegen würde. Dennoch machte sie einen Versuch, und je mehr mein Schmerz sank, wuchs ihre Begeisterung; plötzlich warf sie sich auf die Knie, und ich folgte ihrem Beispiel. Sie sprach einige Worte, dann schwieg sie plötzlich. Ich wartete umsonst, sie sprach nicht mehr, sondern erhob sich, brach in Tränen aus, faßte mich bei der Hand und sagte, mich in ihre Arme schließend:

»Oh, mein teures Kind, welchen grausamen Einfluß haben Sie auf mich ausgeübt; jetzt ist es geschehen; der Geist hat sich von mir zurückgezogen; ich fühle es. Gehen Sie, Gott selbst spricht zu Ihnen, da es ihm nicht gefällt, sich durch meinen Mund hören zu lassen.«

In der That weiß ich nicht, was in ihr vorging, ob ich ihr ein Mißtrauen aus ihre eigenen Kräfte eingeflößt, das nie wieder vergangen ist, ob ich sie eingeschüchtert, oder ob ich ihren Verkehr mit dem Himmel wirklich gebrochen habe; doch das Talent, zu trösten, kehrte ihr nicht mehr wieder.

Am Abend vor der Ablegung meines Gelübdes suchte ich sie auf; ihre Schwermut war der meinen gleich. Ich fing an, zu weinen, sie ebenfalls, ich warf mich ihr zu Füßen; sie segnete mich, hob mich auf, umarmte mich und schickte mich fort, indem sie zu mir sagte:

»Ich bin des Lebens müde und wünsche zu sterben; ich habe Gott gebeten, mich diesen Tag nicht sehen zu lassen; doch es ist nicht sein Wille; gehen Sie; ich werde mit Ihrer Mutter sprechen; ich werde die Nacht im Gebet zubringen; beten Sie auch; doch legen Sie sich nieder, ich befehle es Ihnen.«

»Gestatten Sie mir«, erwiderte ich, »daß ich mich mit Ihnen einschließe?«

 

»Ich gestatte es Ihnen von 9 bis 11 Uhr, doch nicht länger. Um 9 1/2 Uhr werde ich zu beten beginnen, und Sie ebenfalls; doch um 11 Uhr werden Sie mich allein beten lassen und ruhen. Gehen Sie, teures Kind, ich werde den Rest der Nacht für Sie zu Gott flehen.«

Sie wollte beten, doch sie konnte es nicht. Ich schlief, und währenddessen ging diese heilige Frau in den Gängen auf und ab, klopfte an jede Tür; weckte die Nonnen und ließ sie geräuschlos in die Kirche hinuntersteigen. Alle begaben begaben sich dorthin, und als sie versammelt waren, forderte sie sie auf, zum Himmel für mich zu flehen.

Dieses Gebet fand zuerst in tiefem Schweigen statt; dann löschte sie die Lichter aus, alle sprachen zusammen das Miserere, mit Ausnahme der Oberin, die am Fuße des Altars zu Boden gesunken war und sich kasteite. Am nächsten Tage trat sie frühzeitig in meine Zelle, ich hörte sie nicht, denn ich war noch nicht wach. Sie setzte sich neben mein Bett und hatte eine ihrer Hände leicht auf meine Stirn gelegt; sie sah mich an; die Unruhe, die Verwirrung, der Schmerz, jagten sich auf ihrem Gesicht; und so erschien sie mir, als ich die Augen aufschlug. Von dem, was in der Nacht vorgegangen war, sprach sie nicht zu mir; sie fragte mich nur, ob ich mich freiwillig niedergelegt hätte, und ich antwortete ihr:

»Zu der Stunde, zu der Sie's mir befohlen haben!«

»Ob ich geruht hätte?«

»Ja.«

»Das erwartete ich ... wie ich mich befände?«

»Sehr gut, und Sie, teure Mutter?«

»Ach«, versetzte sie, »ich habe niemand ohne Unruhe in den geistlichen Stand treten sehen, doch bei keiner habe ich soviel Angst empfunden, als bei Ihnen. Ich möchte, daß Sie glücklich werden.«

»Wenn Sie mich stets lieben, werde ich es sein.«

»Ach, wenn es nur daran läge! Haben Sie an nichts während der Nacht gedacht?«

»Nein.«

»Sie haben keinen Traum gehabt?«

»Nein.«

»Was geht jetzt in Ihrer Seele vor?«

»Ich bin wie blöde; ich gehorche meinem Schicksal, ohne Widerwillen und ohne Geschmack; ich fühle, daß die Not mich hinreißt und lasse mich treiben. Doch Sie sagen mir ja gar nichts?«

»Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen zu plaudern, sondern um Sie zu sehen und Sie zu hören. Ich erwarte Ihre Mutter, suchen Sie nicht, mich aufzuregen, lassen Sie die Gefühle sich in meiner Seele sammeln. Ruhen Sie noch einen Augenblick, damit ich Sie sehe; sagen Sie nur noch wenige Worte und lassen Sie mich hier empfangen, was ich bei Ihnen suche. Ich werde gehen, und Gott wird das übrige tun.«

Ich schwieg und legte mich auf mein Kopfkissen zurück, während ich ihr eine meiner Hände reichte, die sie ergriff. Sie schien nachzudenken und zwar sehr tief, denn sie hatte die Augen geschlossen; manchmal öffnete sie dieselben, richtete sie gen Himmel, um sie dann wieder auf mich zu heften; sie wurde bewegt, und ihre Seele schien in lebhaftester Erregung. Mehrmals drückte sie mir kräftig die Hand und fragte mich plötzlich, welche Uhr es wäre.

»Es ist bald 6 Uhr!«

»Leben Sie wohl, ich gehe. Man wird Sie ankleiden, und würde ich dabei sein, so würde es mich zerstreuen. Ich habe nur die eine Sorge, nämlich die, in den ersten Augenblicken Mäßigung zu bewahren.«

Sie hatte mich kaum verlassen, als die Novizenmutter und meine Gefährtinnen eintraten; man zog mir meine Ordenskleider aus und legte mir weltliche Kleider an. Ich hörte kein Wort von allem, was um mich her gesprochen wurde; ich war in den Zustand des Automaten zurückgesunken; ich bemerkte nichts und machte nur zeitweise kleine konvulsivische Bewegungen. Indessen unterhielt sich die Oberin mit meiner Mutter, doch ich habe nie erfahren, was in dieser Unterredung, die ziemlich lange dauerte, vorgegangen ist; man sagte mir nur, als sie sich trennten, wäre meine Mutter so verwirrt gewesen, daß sie die Tür nicht hätte finden können, durch die sie eingetreten war, und daß die Oberin, die gefalteten Hände krampfhaft gegen die Stirn drückend, das Zimmer verlassen hatte.

Indessen erklangen die Glocken, und ich ging hinunter. Die Versammlung war wenig zahlreich. Ob die Predigt gut oder schlecht war, weiß ich nicht, denn ich hörte nichts; man verfügte über mich den ganzen Vormittag, der in meinem Leben sozusagen wichtig erscheint, denn nie habe ich die Dauer desselben erfahren. Ich weiß weder, was geschah, noch was ich getan, noch was ich gesagt habe. Man hat mich jedenfalls gefragt, und ich habe jedenfalls geantwortet, ich habe Gelübde ausgesprochen, doch ich habe keine Erinnerung mehr daran.

Ich befand mich in einem Zustande so tiefer Niedergeschlagenheit, daß, als man mir einige Tage später mitteilte, ich solle im Chore singen, ich nicht wußte, was man damit sagen wollte. Ich fragte, ob es wahr wäre, daß ich das Gelübde abgelegt; ich wollte die Unterschrift sehen, und man mußte diesen Beweisen das Zeugnis der ganzen Klostergemeinde hinzufügen, sowie einiger Fremden, die man zur Ceremonie eingeladen hatte. Mehrmals wandte ich mich an die Oberin und sagte zu ihr:

»Es ist also wahr?«

Dabei erwartete ich stets, daß sie mir antworten solle:

»Nein, mein Kind, man täuscht Sie!«

Ihre wiederholten Versicherungen überzeugten mich nicht, denn ich konnte nicht begreifen, daß ich mich im Verlaufe eines ganzen, so aufregenden, so bedeutungsvollen Tages an nichts erinnern konnte, nicht einmal an das Gesicht derjenigen, die mir dabei Hilfe geleistet hatten, auch nicht an das des Priesters, der mich ermahnt, noch dessen, der mir das Gelübde abgenommen hatte. Die Vertauschung der religiösen Tracht mit der weltlichen ist das einzige, woran ich mich noch erinnere; von diesem Augenblicke an bin ich vollständig geistesabwesend gewesen.

In demselben Jahre erlitt ich drei bedeutende Verluste; den meines Vaters, oder vielmehr des Mannes, der für meinen Vater galt; – er war alt und hatte viel gearbeitet, – den meiner Oberin und den meiner Mutter. Diese würdige Nonne fühlte schon längere Zeit vorher, daß ihre letzte Stunde nahte; sie verurteilte sich zum Schweigen und ließ ihren Sarg in ihr Zimmer bringen. Sie hatte ihren Schlummer verloren und brachte die Tage und Nächte mit Schreiben und Grübeln zu. Sie hat fünfzehn Betrachtungen hinterlassen, die meiner Ansicht nach höchst bedeutend sind; ich habe eine Abschrift derselben, und sie führen den Titel: »Die letzten Augenblicke der Schwester de Monc.«

Als sie ihren Tod nahen fühlte, ließ sie sich ankleiden, und man verabreichte ihr die Sterbesakramente, während sie dabei ein Kruzifix in ihrer Hand hielt. Es war Nacht, und der Schein der Kerzen beleuchtete diese düstere Szene. Wir umringten sie, zerflossen in Tränen, und ihre Zelle widerhallte von Geschrei. Plötzlich begannen ihre Augen zu leuchten; sie erhob sich und sprach; ihre Stimme klang fast ebenso stark, als im Zustande der Gesundheit. Die Gabe, die sie verloren, kehrte ihr zurück, und sie warf uns die Tränen vor, die ihr das ewige Glück zu beneiden schienen.

»Meine Kinder«, sprach sie, »Euer Schmerz betrübt mich; dort! dort!« sagte sie, gen Himmel zeigend, »werde ich Euch dienen; meine Augen werden sich unaufhörlich auf dieses Haus senken; ich werde für Euch bitten, und meine Bitte wird Erhörung finden. Tretet alle näher, daß ich Euch umarme; empfanget meinen Segen und mein Lebewohl!«

Während sie diese letzten Worte sprach, schied die heilige Frau, deren wir stets mit nie endendem Bedauern gedenken werden.

Meine Mutter starb bei der Rückkehr von einer kleinen Reise, die sie gegen Ende des Herbstes zu einer ihrer Töchter antrat. Sie hatte tiefen Kummer durchzumachen gehabt, und ihre Gesundheit war bereits stark erschüttert. Ich habe nie den Namen meines Vaters, noch die Geschichte meiner Geburt erfahren. Ihr Beichtvater, der auch der meine war, übergab mir in ihrem Auftrage ein Päckchen; es waren 50 Louisdors mit einem kleinen Billett, alles in ein Stück Leinwand gewickelt und zusammengenäht. Das Billett enthielt folgende Worte:

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