Mit der Kraft zu lieben

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Die Hühnchen

War es zu Lajos’ Hochzeit die herrlich gebratene Hühnerkeule auf meinem Teller, die mir keine Ruhe gab? Warum sollten wir nicht, wie alle Menschen, auch das Recht haben, wenigstens einmal in der Woche, zu Ehren des Sabbat, Fleisch zu essen? Es kam mir eine Idee, um nicht länger diese Ungerechtigkeit zu dulden: Bei Sonnenuntergang, wenn die Mutterhennen ihre kleinen Küken zum Schlafengehen rufen und über den Weg mit ihren Kindern heim eilen, mir ein kleines einzufangen. Ich bin dann schnell damit nach Hause gelaufen. Mutter war entsetzt!

“Mamme, es ist ein verirrtes Hühnchen, ich habe es von der Straße gerettet. Darf ich es großziehen? Es wird uns Eier legen, Kinder auf die Welt bringen. Wir werden wie alle Menschen Hühner haben.” Mutter nickte.

Es sind langsam aus dem einen Hühnchen etwa siebzehn “Verirrte” und “Gerettete” geworden. War ich ein Lügner?

Meine Weltanschauung der Gerechtigkeit hielt allen Zweifeln stand. Ich wollte sie selbst vor Gott verantworten. Die Küken schliefen mit mir in der Küche, bekamen Tellerchen mit Wasser und Brot wie wir. Mutter half bald, eine kleine Leiter zu machen, weil die Hühnchen jetzt schon eine gewisse Höhe zum Schlafen suchten. Eines Tages schlich eine Katze herein; es gab großes Geschrei. Vater kam aus seinem Studierzimmer.

“Was ist hier geschehen?”

“David hat Hühnchen bekommen, er will sie großziehen”, sagte Mutter.

“Und wo ist die Henne?”

“Papa, es sind Waisenkinder, ich will die Henne sein!”

“Soll’s sein, wenn du dein Studium nicht vernachlässigst”, sagte Vater.

Glücklich rannte ich, in der Hand irgendeine heilige Schrift, mit meinen Hühnchen im Garten herum. Wenn ich wie eine Henne rief, rannten sie mir nach wie einer Mutter. Beim Essen standen sie um mich herum, pickten von der Hand und auch aus meinem Munde! Ach, wie waren sie alle süß! Bauern, die vorbeigingen und sahen, wie ich mich mit den Hühnchen abgab, lächelten. Am Abend rief ich sie zum Schlafen und wir rannten in die Küche. Am Morgen sprangen sie auf mein Bett, meinen Strohsack und machten Krawall, sie wollten nämlich essen. Jedesmal, wenn ich Vater auf seinen Wegen in die umliegenden Dörfer begleitete, habe ich für meine Hühnchen Kukurutz, das ist Mais, erbeten. Nie hätte ich so etwas für mich selbst gewagt, aber für meine Kinder hatte ich viel Courage. Sogar Vater fragte lächelnd: “Gibt es etwas für Davids Hühnchen?” Man sagte schon: “David wird noch ein Großgrundbesitzer werden.” Die Bauern zogen ein bisschen an meinen Päis und ich erhielt Hühnerfutter. Der Sack auf meinem Rücken war mir niemals zu schwer. Zuhause angekommen, rannten sie uns entgegen, einige versuchten schon ihre Flügel. Vater hatte auch seine Freude daran, denn ich habe trotz allem mein Studium nicht vernachlässigt.

Eines Tages erkrankte ein Kleines. Erschüttert hob ich es auf und rief alle Hühnchen zusammen. Sie waren gar nicht gerührt von diesem Unglück, und in der Gleichgültigkeit seiner Geschwister starb das Hühnchen in meinen Händen. Mir war, als nehme Gott seine Seele und seine Wärme zu sich zurück. Ich weinte so sehr. Mutter half mir, es, eingewickelt in ein weißes Läppchen, in eine Schachtel zu legen. Ich erklärte meinen Schwestern, es sei so Sitte bei uns.

“Aber David,” sagten sie zu mir, “das Hühnchen ist doch nicht bei den Juden geboren!”

Es wurde am Zaun unseres Gartens begraben. Als ich es in das Grübchen legte, stand Mutter neben mir mit Tränen in den Augen ... Wer weiß, an was sie sich erinnerte. Von dünnen Hölzern gemacht, stellte ich ein Kreuz auf das Grab.

“Was machst du denn da?”, fragte Mutter.

“Es ist ja bei den Christen geboren, da gebührt ihm das Kreuz.”

“Wenn Vater das sehen wird?”

“Mamme, es ist nur Gerechtigkeit.”

Doch Vater bemerkte von alledem nichts.

Die Hühnchen wuchsen, meine Schwestern standen mir beim Namengeben bei: Die weiblichen bekamen die Namen der Stammmütter, die männlichen die der Stammväter. Einen nannten wir ‘König David’. Er war sehr schön und grüßte schon singend den Morgen.

Die Schule begann diesmal ohne mich. Vater meinte, dass mein weltliches Wissen ausreichend für einen frommen Juden sei.

“Soweit die Wissenschaften Gott dienen, wirst du sie langsam im Talmud finden. Es ist besser, dass du sie dort lernst als in einer weltlichen Schule mit christlichen Anschauungen.”

So wurde ich mehr und mehr in Vaters Studierzimmer gerufen. Die Hühnchen wurden zu Hühnern. Zum Austausch für Mutters Arbeit baute uns der Nachbar im Garten ein richtiges Hühnerhaus. Er sagte: “Einige deiner Hühnchen, David, sind von der selben Rasse wie die unsrigen.”

Ich wurde rot vor Schreck und Scham. Er schien sich aber gar nicht darüber zu wundern, stellte ruhig in die Mitte des Hauses eine stolze, breite Hühnerleiter.

“David, unten ist der Platz für die Gänse.”

Gerechtigkeit

Es erwachten nun meine Großgrundbesitzerideen: Welches ungarische Haus kennt nicht die berühmten Stopfgänse!

“Schmalz für den Winter”, sagten die Frauen.

Ich hörte von diesen Stopfgänsen sogar in der Synagoge sprechen, derweil Vater sehr ernsthaft aus der Thora las und Mutter leise in ihr Gebetbuch hinein lächelte. Ach, wie liebte ich Mutter! Darum stahl ich mich manchmal aus der Männerseite unseres Synagögchens zu der Frauenseite hinüber und Mutter flüsterte: “Schnell, David, geh zurück!” Aber sie freute sich doch über mein Wagnis.

Die Frauen erzählten sich einmal von fünf oder sechs Gänsen, die sie schlachteten, so gab es Fett für den ganzen Winter. Bei uns gab es diesen Abend Bohnensuppe mit kalten Kartoffeln. Fleisch und Fett im Winter zu essen schien mir Ausdruck der Gerechtigkeit der Welt und ich hoffte auf Gottes Hilfe.

Es kam nun Jossele, ein zwölfjähriger Junge zu Vater, seine Bar-Mitzwa vorzubereiten. Er brachte jedesmal etwas Gänseschmalz als Geschenk für Mutter mit. War dies schon ein erstes Zeichen, dass der Allmächtige meine Wünsche verstand?

Endlich kam auch der Moment, es war ein Sabbat, an welchem die Bar-Mitzwa gefeiert wurde, und Jossele musste sein Können beim Lesen der Thora zeigen, um als Mann in der Gemeinde wirken zu dürfen. Seine Eltern luden alle Juden des Dorfes zum Feste ein, auch einige christliche Großgrundbesitzer saßen am selben Tisch mit Vater und dem Bürgermeister zusammen. Viele Neugierige kamen um zu sehen, wie man bei den Juden feierte. Es gab Tee mit Branntwein und viel Kuchen! Vater trank nur Tee.

Alle Leute baten jetzt Jossele, den neuen Mann, er möge seine Geige holen, um das berühmte ‘Kol Niedere’ zu spielen. Er war von allen Aufregungen so überwältigt, dass der zarte Jossele zitterte, es kam aus seiner Geige nur Krächzen wie Katzenjammer heraus. Dicke Tränen rollten über sein Gesicht.

Vater stand auf und rief ihn zu sich: “Jossele, du hast eine sanfte, gute Seele, nimm dir viel Zeit für deine Geige. Man muss seiner Violine das Singen beibringen, auf dass sie singe, so wie deine Seele singen möchte! Du kannst einmal ein Meister werden, du hast eine singende Seele und alle Menschen werden dem Gesang deiner Geige lauschen. Dann wirst du dich erinnern, wie der Herr Rabbiner zu deiner Bar-Mitzwa auf deiner Geige gespielt hat, und du wirst dann meine Worte verstanden haben. Komm, gib mir die Geige.”

Wir hielten den Atem an, nie hatte Vater Violine gespielt. Wir wussten nur, dass sein Leben vor der Flucht aus Russland ein ganz anderes gewesen war.

Das ‘Kol Niedere’ ertönte sanft und schön. Alles lauschte, still befriedigt. Dann aber wählte Vater das Lied ‘Szol-a-Kakasmar’, was in ungarischem und in jiddischem Text von allen Männern mitgesungen wurde, sogar draußen auf der Straße. Beflügelt schmetterte auch mein Sopran in den Chor. Begeisterung. Lauter Beifall. Alles klatschte: “David muss das Lied alleine mit der Violine singen!”

Nach dieser Ehrung gab Vater mir das Zeichen aufzuhören.

“Nicht du sollst heute glänzen!”

Er legte die Geige in die Hände Josseles zurück.

“Sie ist ein gutes Instrument, du kannst deinen Eltern Dank sagen. Schöne Klänge werden aus ihr kommen. Lege sie liebevoll an deine Seele, Jossele, dann wird sie singen. Und du ein Meister werden.”

Vater konnte sehr gütig sprechen.

Der Bürgermeister wurde aufgeschlossen: “Herr Rabbiner, welch gottbegnadete Familie haben Sie, Ihr David hat ja Gold in der Kehle! Sind bei Ihnen Dach und Haus in gutem Zustand? Brauchen Sie noch etwas?”

Vom Erfolg angespornt war ich es, der sofort antwortete:“Herr Bürgermeister, wir haben schon ein Hühnerhaus und unten gibt es Platz für Stopfgänse.”

“Habt ihr auch schon Hühner, David?”

“Ja, ich habe 18 Stück. Aber es gibt noch Platz für Gänse!”

Er lachte und trank einen tüchtigen Schluck Branntwein.

Am Sonntagmorgen in der Frühe kam ein Wagen vorgefahren. Vater und ich saßen längst beim Studium. Mutter war es, die öffnete. ‘König David’ schrie Krawall, es gab Aufruhr im Hühnerhaus. Der Bürgermeister trat ein. “David, ich habe dir zwei Gänse in dein Hühnerhaus gebracht, mit einem Sack Kukurutz, damit kannst du sie fett machen.” Er reichte fröhlich Vater die Hand und dann Mutter. Mutter machte einen Schritt zurück.

“Herr Bürgermeister, ich reiche niemals einem Manne die Hand, es ist bei uns nicht Sitte.”

Mutter sagte es mit viel Liebenswürdigkeit und einem kleinen schelmischen Lächeln. Er lachte laut.

“Frau Rabbiner, das müssen wir auch bei uns einführen, dann brauchte manches Mädchen nicht so früh unter die Haube!”

Er war lustig, zog aus der Westentasche seinen Tabaksbeutel, schob eine gute Menge des groben Krautes in einen Mundwinkel und sagte: “So, jetzt kann ich zur Kirche gehen, mir unseren Geistlichen anhören.”

 

Still ging er hinaus, fast sorgenvoll, und drehte sich nochmals um: “Wenn David auch ein kleines Schweinchen aufziehen will, dann bringe ich ihm eines.”

Sogar auf Vaters Gesicht spielte Lustigkeit, dann seufzte er und sagte: “Ribeuno-Schel-Eulam, Schöpfer der Welt, könnten nicht alle Menschen in Freundschaft am Tisch beisammen sitzen?”

Er aber schien Vater zu antworten: “Geduld, Geduld.”

Und Vater seufzte abermals.

Ich war überzeugt von Gottes Gerechtigkeit, man musste Ihn ja nur darum bitten! Er hatte mir schon geantwortet: Fleisch und Fett für den Winter! Dass Gott aber die Gerechtigkeit und die Verteilung der Schätze der Welt anders sah als ich, das musste ich erst langsam von Ihm lernen.

Die Geige

“Papa, wie kommt es, dass du Geige spielen kannst?”

“Das war ein Geschenk meines Bruders, der Musik studierte. Er hat mir seine Geige anvertraut und auch meine Hände auf sein Klavier gelegt; so haben wir zusammen Tage und Nächte musiziert, zur Freude unserer Mutter, aber auch der Kameraden und uns selbst.”

“Papa, was ist ein Klavier?”

“Der König David spielte eine Harfe zu seinen Gesängen. Er trug sie zum Sonnenuntergang, wenn der Wind erwachte, auf die Terrasse seines Schlosses in Jerusalem. Dort also spielte der Wind leise in ihren Saiten und David lauschte dieser Musik des Schöpfers. Darauf sang der König wohl die schönsten Liebeslieder der Welt, die Psalmen zu Ehren des Allmächtigen. Später glaubte man, dass eine Riesenharfe größere Musik erzeugen würde und man erfand das Klavier. Man spielte viele Saiten darauf, so viele, dass das Klavier zu schwer war, im Wind zu singen. Nur eine komplizierte Technik erlaubt, alle diese Saiten zu berühren. Nun wollte ein jeder Klavier spielen. Aber Menschen, die nicht des Schöpfers Musik erlauschen, sie können nur Lärm erzeugen.”

“Papa, ist es auch ein Klavier, das am Sonntag in der Kirche erklingt?” Ich zitterte. Vaters dunkelblau leuchtende Augen schauten mir bis in mein Innerstes. Dann antwortete er freundlich: “David, in der Kirche hier spielt nur ein kleines Harmonium. In großen Kirchen ertönt die Orgel. Die Menschen haben nach immer größerer Harmonie und Kraft in der Musik gesucht, sie haben viele Flöten, große und kleine, zusammengefügt zu dem größten Instrument von Menschenhand, das ist die Orgel.”

“Aber Papa, wer bläst denn in alle diese Flöten hinein? Sind denn alle Christen in der Kirche Musiker?”

“Nein, David, nein, das wäre ja schön; es bläst nur ein Blasebalg – so wie der Schmied ihn braucht, um sein Feuer zu schüren – in alle diese Flöten. Es ist ein einziger Musiker, der die Gewalt dieses Instruments anfachen muss. Aber es gibt Begnadete, die es können. Doch eine einzige Hirtenflöte klingt oft lieblicher zu Gott als die Gewalt der Orgel.

Die Musik ist eine der wunderbarsten Sprachen unserer Seele. Ist die Seele lustig, so tanzt es in der Musik, weint die Seele, so schluchzt es durch sie hin. Es klingen Licht und Finsternis aus der Musik, sie spricht auch vom Leben und sie spricht vom Tod. Sie ist eine der wunderbarsten Sprachen unserer Seele zu Gott.

Es gibt auch Orchester, wo viele Musiker mit vielen Instrumenten mit der Kraft eines ganzen Volkes zum Allmächtigen sprechen. Klingt aus solch einem Orchester einmal ein einziges Instrument in seiner Einsamkeit allein, das ist ein ‘Gebet’. So steht der Kantor in der Synagoge in seiner Einsamkeit allein vor Gott, um alle Seelen mit zu ihm zu tragen.”

“Papa, wie kann der Kantor die Seelen anderer mit sich tragen?” Vater lächelte, was er selten tat.

“Davidel, unsere Augen können die Seelen nicht sehen, wie unsere Hände sie nicht fassen und tragen können, aber die Seelen können in der Musik tanzen, denn sie sind aus Licht. Die Seelen sind nur winzige Funken von Gottes Licht. Gottes Licht aber hat die Kraft, den Staub der Erde aufzuheben. Dieser kleine Funken Licht in uns selbst, unsere Seele, hat die Kraft, viel zu tragen, zu heben und sogar zum Tanze mitzunehmen. Wenn es warm in der Seele wird und sie liebt, dann kann sie viel aufheben.”

Wenn ich auch noch ein Kind war, ich hatte den Sinn von Vaters Worten verstanden, suchte seine Hände und küsste sie.

Der erste Stein

Es kamen von Zeit zu Zeit Kameraden aus der Schule mich besuchen. “Warum kommst du nicht mehr mit uns lernen?”

Gerne wäre ich gegangen, doch Vater hatte bestimmt, ich solle das weltliche Wissen nicht mit christlichen Anschauungen lernen. Wie konnte ich ihnen das erklären?

“Alle meine Zeit brauche ich für die heiligen Schriften”, antwortete ich.

“Und den heiligen Katechismus? Lernst du den nicht?”

“Das ist zu vieles zusammen.” Verdrossen gingen sie fort. Bald darauf schrie Peter, der Sohn unseres Nachbarn, mir aus vollem Halse nach: “Verstunkener Jude!”

Eine große Traurigkeit überfiel mich. War ich stark genug, den großen Jungen zu schlagen? Ja! Meine Seele sagte laut “Ja!” Aber meine Hand wollte sich nicht heben und ich ging still weiter. War es nicht Mutter, die bei den christlichen Nachbarn bis tief in die Nacht hinein waschend und stopfend unser Brot verdiente? Wir waren fünf am Tisch. Mutter arbeitete mehr und mehr. Von seinen drei Gulden wöchentlich legte Vater zehn Prozent für Arme oder heilige Zwecke in eine Büchse.

“Sind wir nicht die Ärmsten der Armen?” hatte Mutter einmal gesagt und Vater antwortete: “Gott will es so. Zehn Prozent sind nicht für uns!”

Eines Abends beim Milchholen lief mir eine Gruppe Schulkameraden nach und ich hörte sie hinter mir schreien:

“Da ist der Jude! Da ist er! Der Jude!”

Ich wollte mit ihnen sprechen und drehte mich um. Da flog mir ein Stein an die Stirn. Das Blut rann schnell in die Augen, aber ich hatte gesehen, wer den Stein warf. Aufrecht, aber doch ein wenig schwankend, ging ich sehr langsam heim. Ich war “Jude” geworden. Sie liefen mir nicht nach. Mutter wusch mit zitternden Händen die Wunde und meine Kleider.

“Mamme, es war der Nachbarsohn.” Zu Vater sagte ich, ich wäre auf einen Stein gefallen. Diesmal beschaute er die Wunde.

“Bis zur Zeit, wo du mit Tephilin beten darfst, wird sie geheilt sein.”

Die Narbe ist geblieben, aber die Hoffnung, einmal die heiligen Gebetssprüche auf meiner Stirn zu tragen, war mir Balsam, denn dies bedeutete, die heiligen Gebote wirklich im Inneren zu tragen und danach zu leben, also ein “frommer” Jude zu sein. Meine Wunde tat nicht mehr weh, aber mein ganzes Inneres.

Am Morgen kam die Nachbarin mit Butter und Eiern für mich, setzte sich lange an mein Bett, nickte eine ganze Weile mit dem Kopf und sagte: “Ich habe aber Peter tüchtige Ohrfeigen gegeben! Der Geistliche hat im Katechismus zu den Kindern gesagt, dass die Juden den Heiland getötet haben, da wollte Peter in seiner Wut einen Juden töten. Er ist aber sonst kein schlechter Junge, mein Peter!”

Mutter stopfte eben Peters Hemd. Die gute Frau war sehr gerührt und rang die Hände: “Pop-Neni (Tante Geistliche), seien Sie nicht böse, kommen Sie bitte weiter zu uns herüber. Wenn Sie den Gendarmen nichts erzählen wollen, wird der gute Heiland Sie sicher dafür segnen.”

“Gut, gut”, sagte Mutter.

So verstrichen einige Wochen. Vater ging manchmal erregt im Zimmer auf und ab. Diesen Abend schien er sehr vertieft; ich profitierte davon und schlich mich leise hinaus, denn wir drei Geschwister wollten zur Sandgrube gehen, wo man so herrlich herunterrutschen konnte. Die Sonne stand noch am Himmel. Viele Kinder liefen auf dem gleichen Weg entlang und wir sahen den Herrn Lehrer, der auch der Dorfgeistliche war, mit einigen Großgrundbesitzern, ihre Büchsen geschultert, zur Grube zum Zielschießen gehen; die große Scheibe wurde am anderen Ende etwa dreissig Meter entfernt aufgestellt und die Herren begannen ihre Künste zu prüfen. Wir sahen jedesmal eine kleine Flamme aus dem Gewehr aufleuchten. Es war aufregend und so wir vergaßen zu rutschen. Plötzlich verlor die Zielscheibe ihr Gleichgewicht. Der katholische Geistliche rief mir zu: “David, stell sie wieder auf!”

Ich fühlte mich sehr geehrt und rannte eilends los. Kaum hatte ich meine Arbeit verrichtet, da ertönte ein Schuss. Verwirrt hörte ich aufgeregte Rufe. Karoline und Frieda rannten herbei, mich vom Platz reißend. Da kamen auch die Herren, um zu sehen, ob mir nichts fehle? Höhnisch sagte der Geistliche: “Sehen Sie, meine Herren, es ist ihm nichts geschehen, seine Seitenlocken werden keine Feuersbrunst ins Dorf tragen. Sie haben noch nicht Feuer gefangen.”

Plötzlich verstand ich und schrie: “Der Gott, der den Blitz und das Feuer ins Dorf geschickt hat, der Gott wird auch den Blitz zum Herrn Lehrer schicken! Amen!”

Karoline erzählte daheim erregt die Geschehnisse. Vater erhob sich sehr langsam und schwer, ging zum Schrank, wo sein Stock stand, holte ihn heraus und ein erstes Mal fühlte mein Rücken seine sehr harten Schläge. Vater sagte kein Wort. Ich weinte nicht. Ich lief nicht fort. Ich verstand “die Gefahr” draußen. Ich verstand, dass Vaters Liebe mich schlug. Ich verstand, dass ich ein Jude war. Dann gab Vater mir den Stock in die Hand. Ich durfte ihn zurück in den Schrank stellen.

Die Zadekeste

Wie fröhlich war es, wenn unser ‘König David’ und ich zusammen den Sonnenaufgang begrüßten. Er schmetterte laut sein Aufwecklied, ich betrachtete, wie das feurige Licht in den Himmel floss und dachte, das ist die unhörbare Musik, von der Vater sprach. Meine Lieblinge schüttelten derweil ihre Federn und kamen, mir die Maiskörnerchen vom Mund zu picken; dies war unsere Begrüßung, wir hatten uns wirklich gern. Aber der Kukurutzsack des Bürgermeisters wurde leer. Vater ging im Herbstregen seltener in die umliegenden Dörfer “zu seinen Juden”, wie er sagte. Es fehlte Futter und meine nun großen Gänse hatten sehr großen Appetit. Bald fing der erste Schnee zu fallen an und plötzlich hörte ich die Worte der Frauen wieder: “Fett und Fleisch für den Winter.” Ich erschrak. Ich erschrak sehr.

Und es geschah tatsächlich, dass auf unseren Tisch zu Ehren des heiligen Sabbat Fett und Fleisch kamen, dass es in der großen Suppenschüssel Geflügelbrühe gab. Langsam wurde es stiller und stiller in meinem Hühnerhaus. Eines Tages begrüßte auch ‘König David’ den Morgen und mich nicht mehr. Die Sonne stieg ohne Freude zum Himmel hinauf. Statt “Gottes unhörbarer Musik” tönte es in meinen Ohren “Fett und Fleisch für den ganzen Winter” und ich weinte, weinte bitterlich.

Rachel, die letzte, wollte nicht mehr alleine im Hühnerhaus bleiben, sie lief mir nach in die Küche; sie legte sich wie schutzsuchend zu Vaters Füßen und blieb dort liegen, derweil Vater studierte. Es wurde ihr Platz. Sie lief hinter Vater her, wenn er im Zimmer auf und ab ging. Vater duldete Rachel sogar auf seinen Knien und streichelte sie. Jeder gab ihr von seinem Teller etwas, so wurde sie eine große Henne und eines Tages legte Rachel uns ein Ei! Es wurde allerseits bewundert und sie schien sehr glücklich darüber zu sein. Rachel folgte Vater jetzt auch bis zur Synagoge. Da geschah es eines Tages, dass Vater, vertieft im Morgengebet, sie nicht beachtete und ihr auf den Fuß trat. Rachel schrie laut auf, lief aber dann dennoch hinkend hinter ihm her zum Studierzimmer zurück. Vater war gerührt und sagte mit freundlicher Stimme leise vor sich hin: “Zadekeste”. Das heißt etwa: “gütige Weise”.

Der Winter wurde härter und kälter, Vater musste fast gänzlich unsere Wanderungen einstellen, der Schnee lag zu hoch. Eines Freitagmorgens kam ein junger Sakrifikateur zu Vater, um Rat zu erbitten. Vater schickte mich hinaus und ich half Mutter in der Küche, unsere Gänsefedern schleißen. Dies wurde der Tag, an dem Rachel unsere Welt verließ, der heilige Sabbat, an dem sie ihre irdische Güte an uns verteilte. Es wurde der Tag, an dem ich keinen Bissen herunterschlucken konnte. Vom Jenseits blickte Rachel zu mir hernieder, mit viel stiller Güte, derweil ich fastete. Gott ließ unsere ‘Zadekeste’ auf meine Großgrundbesitzerwünsche und Ideen der Gerechtigkeit antworten.

Die Arten des Hungers

“Papa, warum ist das Messer des Sakrifikateurs von beiden Seiten so aufs Feinste geschliffen?”

“Damit den Tieren kein Leid geschehe, dass ihre Seele ohne Schmerzen in Gottes Licht gleite. Sie sind seine Geschöpfe.”

“Warum hat der Sakrifikateur Rachels Seele zum Allmächtigen geschickt und nicht du?”

“Wenn du ein Tier gerne hast, ist deine Hand nicht ruhig. Ich durfte es nicht, meine Hand hätte gezögert und ich hätte Rachel weh getan.”

 

“Papa, wir haben alle Rachel gern gehabt, warum durfte sie nicht bei uns bleiben und im Frühling Kinder haben? Sie legte doch schon Eier?”

“David, es ist nicht unseres Bleibens hier in Bakony-Tamasi! Du wirst keinen Garten und kein Hühnerhaus mehr haben. Wir hätten Rachel nicht mitnehmen können. Aber ihre kleine Seele, die wird immer mit uns gehen!”

“Ja, Papa, das habe ich gefühlt! Aber ich glaube, viele Menschen haben die Tiere nicht gerne, sie lassen sie nur arbeiten, schlagen sie und essen sie auf.”

“Das sind schwere Gedanken, David. Mir scheint, es kommt daher, weil viele Menschen nur den Hunger ihres Magens fühlen und sie glauben, nur er sei zu stillen. Der wahrhaftige Hunger des Menschen kommt viel tiefer aus unserer Seele, das ist der Hunger nach Liebe. Und nur der Mensch, der geliebt hat, dessen Hunger ist gestillt! Das wissen nur wenige Menschen, David.”

Und so endete meine Hühnergeschichte.

Der Friedhof

Es wurde Frühling. Aber unser Garten mit seinem ersten Grün lockte mich nicht mehr hinaus. Die Stille im Hühnerhaus trug meine Gedanken zu weit in jene Welt, wo, wie es scheint, die Seelen weilen. Vater war sorgenvoll. Er fühlte, dass unsere Anwesenheit den katholischen Geistlichen tief erregte und die Freundschaft des Bürgermeisters, in dessen Haus wir wohnten, ihm auch nicht gefiel. Diese Art Dinge bewirkten in Vater eine Traurigkeit, aber niemals Angst, denn Vater fühlte sich, wo er auch war, im Dienste Gottes. Als die Bauern am Sonntag aus der Kirche kamen und die Großgrundbesitzer in ihren Kaleschen heimfuhren, drang durch die ersten warmen Sonnenstrahlen plötzlich Geschrei und Jammern zu uns. Jüdische Frauen und Kinder eilten herbei, um sich bei uns in der Synagoge zu verbergen, derweil ihre Männer im Haus blieben, Hab und Gut zu verteidigen. Die Bauern seien mit wütendem Geschrei aus der Kirche gekommen, durch das Dorf gelaufen und dann zum Friedhof gerannt, hätten begonnen, Grabsteine zu zerschlagen, umzuwerfen und seien dabei, sie zu beschmutzen.

Vater sprang auf.

“Jetzt hat er, dieser Pfaffe, mich aufgerufen! Er hat das Heer seiner armen Bauern, die an ihn glauben sollen, gegen uns geschickt. Gegen mich, den Rabbiner! Gegen mich, den Juden! Gegen seinen Feind: mein Volk!”

Die Gestalt Vaters wurde unheimlich groß, in seinen Augen leuchtete es wie Flammen.

“David, gib mir meinen Stock und komm!”

Meine Beine mussten rennen, um Vaters Schritten zu folgen. Bald hörten wir vom Friedhof Lachen und Kreischen. Unser Weg lief abwärts, wir konnten das ganze Spektakel übersehen. Die nackten Hinterteile der Burschen erweckten das Beifallskreischen der Mädchen, derweil die umgeworfenen Grabsteine besudelt wurden. Ältere Bauern und Frauen hielten etwas Abstand, aber sie lachten befreit und belustigt.

Mein Vater trat, wie vom Himmel gefallen, genau in ihre Mitte. Es wurde plötzlich still. Man wich zurück. Das Lachen verstummte.

“Ja, da bin ich! Der Rabbiner! Der Jude! Und ich sage euch: Euer Jesus war auch ein Jude. Jesus würde sich euer schämen. Jesus, der Jude, hat von Liebe gesprochen! Sind eure Seelen so verführt, dass ihr an den Toten Ungerechtigkeiten begeht? Hier bin ich! Ein Lebendiger! Hat Jesus euch gelehrt, ohne Scham zu sein? Hat Jesus, der Jude, gelehrt, über Unreinheit und Schamlosigkeit zu lachen?”

Ein junger Mann warf einen Stein, der dicht neben mir auf ein Grab fiel. Da hob Vater seinen Stock, fürchterlich groß erschien er, und schritt auf den jungen Mann zu.

“Sieh, ich bin da! Der Rabbiner! Ich bin allein. Allein gegen euch alle. Aber Gott ist mit mir! Und auch der Jude Jesus!”

Und sie wichen zurück, zogen ihre Hosen hinauf und glitten verschüchtert vom Friedhof. Einige Bauern murmelten: “Es ist eine Schande, was geschah.” Eine Frau schrie: “Die Gendarme kommen. Die Gendarme, die schwarzen Raben!”

“Holt Schaufeln und Eimer aus dem Friedhofshaus, um eure Schande abzuwaschen!”, sagte Vater. “Helft mir, die Steine aufzurichten!”

Und die Bauern kamen. Die Gendarme, die das Volk ‘schwarze Raben’ nannte, erschienen, mit ihren stolzen Federn am Hut.

“Was geht hier vor?” fragte einer erstaunt.

Vater antwortete: “Es ist etwas vorgefallen, aber wir werden es reparieren. Sie können weitergehen, wir machen zusammen Ordnung.”

Vaters Worte erstaunten das Volk: Keine Klage, keine Beschuldigung?! Still beschämt wurde weiter Ordnung gemacht. Darauf gingen alle gedrückt nach Hause. Vater und ich blieben allein auf dem Friedhof zurück. Vater schaute zum Himmel als wenn er in weiter Ferne zu Gott sprechen würde, dann stimmte er das ‘El mole rah’amin’ an, das Gebet für die Toten.

Dann holte ich Vaters Stock und wir gingen hinunter zum Bach, uns gänzlich zu waschen und dreimal unterzutauchen.

An diesem Sonntag blieben die Schenken leer, trotz der lockenden Sonne. Daheim angekommen, küssten die jüdischen Frauen und Kinder Vater die Hände und wanderten dann auch zu ihren Häusern zurück. Vater trat still in die Synagoge, öffnete den Schrein der Thora, warf sich, das Gesicht zu Boden, auf die Erde und weinte bitterlich. Nicht wegen der Geschehnisse in Bakony-Tamasi, nein! Ihn schüttelte aus den Tiefen der Vergangenheit alles Leid des Volkes Israel, die kindische Verführbarkeit der Christenwelt. Mir war, als ob der Messias selbst in Vater schluchzte.

Es dauerte lange, bis er zur Ruhe kam.

Der Abschied

Es folgten stille Tage im Haus, wie auch im Dorf. Man sprach in Bakony-Tamasi nicht vom Friedhof, man flüsterte nur. Nach langer Abwesenheit erfuhr der Bürgermeister entsetzt die Geschehnisse. Er klopfte noch spät am Abend an unsere Tür, trat mit weit aufgerissenen Augen ein und eilte zu Vater: “Herr Rabbiner, Herr Rabbiner, ich war nicht da. Ich hörte erst jetzt von den Geschehnissen.” Darauf wandte er sich um und verschwand in der Nacht. Vater sagte: “Channe Fegele, in diese Gemeinde gehört ein kleiner, schüchterner Rabbiner, der in dem katholischen Geistlichen keine Eifersucht erregt. Der Bürgermeister wird die Juden schützen. Ich schrieb an mehrere Gemeinden um einen Austausch; wir werden Bakony-Tamasi verlassen.”

Ein kleiner, junger Rabbiner kam von Oroszwár, einem Dorf neben Pozsony, mit einem Brief: Vater könne sofort im Austausch den Posten eines Kantors antreten.

“David, geh zum Bürgermeister und mach mir einen Termin bei ihm.” Nicht Vater ging zum Bürgermeister, aber der Bürgermeister kam sofort mit mir zurück.

“Herr Rabbiner, ich habe mir erlaubt, sogleich mit ihrem Sohn zusammen eine gute Nachricht zu bringen. Ich erhielt soeben als Antwort auf mein Ersuchen bei seiner Heiligkeit, dem Bischof, dies Schreiben.”

Und er las: “Ich wünsche Religionsfrieden und enthebe den Geistlichen von Bakony-Tamasi seiner Funktion.”

Diesmal strahlten die Augen des Bürgermeisters froh. Vater war aufgestanden, reichte ihm die Hand. Ich erschrak. Die beiden großen Männer umarmten sich wie zwei Brüder. Es wurde mir warm im Herzen. Sie waren beide in einer anderen Welt, wo man sich nicht hasst und steinigt. Niemals mehr habe ich gesehen, dass Vater einen Mann umarmte. Dann sprach Vater traurig: “David, hole den neuen jungen Rabbiner herein.”

“Er ist in der Synagoge, Papa, und betet.”

“Herr Bürgermeister, Ihr Haus hat eine Synagoge beherbergt, möge Gottes Güte mit Ihnen und den Ihren sein.”

Dann gingen sie zusammen zur Synagoge.

“Hier ist schon Ihr neuer Rabbiner im Gebet. Wir wollen ihn nicht stören, er tauschte mit mir seinen Platz.”

Zwei seltsam verschiedene Freunde schauten einander an in einer stillen Traurigkeit und verabschiedeten sich.

Die Nachricht unserer Abreise hatte sich schnell verbreitet. Zu uns kam noch schnell manche Bäuerin gelaufen und steckte, wie heimlich, ein Geschenk für Mutter in den Wagen: ein Säckchen Bohnen, Mehl, Erbsen, einen Topf mit Butter. Sie alle hatten Mutter sehr geschätzt, ja geliebt, denn Mutter hatte nicht nur die Kleider, sondern auch die Seelen darin ausgebessert.