Traugott

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kapitel 4

Simon und ich lernten uns in einem Transferbus kennen. Unser Flug von Paris nach Wien wurde umgeleitet und wir landeten außerplanmäßig in Budapest. Der Schneefall war am Nachmittag so ergiebig und ausdauernd gewesen, dass der Flugbetrieb in Wien eingestellt worden war. Wir warteten ewig. Rund um mich herum, gab es nur fragende und aufgeregte Gesichter – und Simon. Simon wirkte so entspannt, dass sein fröhlicher Gesichtsausdruck inmitten der gereizten Menge fast schon unanständig erschien.

Die Leute waren ungeduldig und sahen immer wieder auf die Uhr. Wir wurden in zwei Busse verfrachtet. Simon stand hinter mir in der Schlange und als ich mich umdrehte, lachte er mich an. Sein Lachen war wie ein heller Lichtstrahl. Ich stieg ein und er setzte sich ganz selbstverständlich auf den freien Platz neben mir. Er teilte mit mir sein Salami-Sandwich und dazu zauberte er aus seinem Rucksack eine Flasche edlen Rotweins, die eigentlich für das Weihnachtsfest gewesen wäre.

»Budapest schauen wir uns ein anderes Mal an, einverstanden?«, sagte er und seine grünen Augen blitzten auf, während er mit einem Leatherman die Flasche öffnete. »Vielleicht im Frühling, wenn es wärmer ist?«

Es war unser erstes Date, vier Tage vor Weihnachten, vor fast zehn Jahren. Der Schnee fiel dicht und geräuschlos durch die dunkle Nacht und es war die schönste Transferfahrt meines Lebens.

Wir trafen uns am nächsten Abend und am Übernächsten und von da an schliefen wir keine Nacht mehr alleine. Auch nicht zu Weihnachten. Wir waren unwahrscheinlich ineinander verliebt, telefonierten drei Mal am Tag, kauften dieselben Winterhauben, gingen Schlittschuhfahren, verwechselten unsere Zahnbürsten.

Im Frühling fuhren wir nicht nach Budapest. Wir zogen in eine hübsche Wohnung ans andere Ende der Stadt mit einer kleinen Terrasse mit Blick ins Grüne und einem Kinderzimmer. So wie viele junge Paare es sich wünschen, wenn sie jung sind und Pläne schmieden. Wir waren glücklich und wünschten uns nur, zusammen alt zu werden.

Wir träumten von einer eigenen Familie und Kindern. Man braucht Gott nicht, wenn man glücklich ist. Man muss sich nicht an ihn wenden. Man vergisst ihn. Wenn die Sinne verwöhnt sind und es das Leben gut mit einem meint, vergisst man nicht nur Gott, sondern auch sich selbst.

Dann kam Nico und unser Glück war perfekt. Simon arbeitete mehr, weil die Verantwortung jetzt größer war, wollte mehr verdienen, arbeitete noch mehr und irgendwann waren wir weniger verliebt. Das geschah schleichend, ich weiß nicht mehr genau, wann es begonnen hat. Er war ein hervorragender Osteopath und seine Hände waren sanft und bewirkten Wunder. Und je mehr Wunder er vollbrachte, desto begehrter wurde ein Termin bei ihm.

Dann kam eine Fehlgeburt. Das Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Ich kam aus dem Krankenhaus und konnte nicht aufhören zu weinen. Simon legte seine Hände auf den Nacken einer der vielen Damen, die unter Verspannungen litten, während ich fast an meinen Tränen erstickte und mir nur wünschte, dass seine Hände mich umarmten. Mich, meinen Schmerz und meinen Bauch, der so leer war.

Die Damen mit den Verspannungen stellten sich an und wahrscheinlich wählte er eine aus. Ich roch das neue Rasierwasser, ich sah neue Hemden. Ich spürte sein schlechtes Gewissen, verstand die noch längeren Arbeitszeiten, die Einsilbigkeit seiner ausweichenden Antworten und wusste, dass er mich betrog.

Ich liebte Simon und ich liebte ihn wahrscheinlich auch noch, als er mir zu verstehen gab, dass wir ihn nur noch am Leben hinderten. Mein Kummer schien ihm erträglich. Ich hatte ihm meinen Schmerz auf eine für ihn erträgliche Art und Weise gezeigt. Ich schwieg und litt still vor mich hin. Und mein Schweigen kam einem Einverständnis gleich.

Nico nahm er in den letzten Wochen kaum noch mehr in den Arm, vermutlich, damit es ihm weniger wehtat, wenn er ging. Was für eine elende, verworrene Zeit!

Ich lege das Notizbuch zur Seite, gehe ins Badezimmer, halte meine Hände unter das kalte Wasser und wasche mir das Gesicht. Ich denke an Traugott. Alleine die Vorstellung seines Lächelns ist wie eine lindernde Umarmung. Traugott hat mich gelehrt, dass es nichts Zufälliges geben kann, dass es im Leben kein Versehen gibt und dass jede Schneeflocke zur rechten Zeit am rechten Ort landet. Simon und ich – wir waren nie wieder in Budapest.

Je mehr ich an Traugott denke, desto mehr kommen mir bruchstückhaft wieder seine Worte in den Sinn:

»Sei geduldig. Wer Geduld hat, versteht, dass er immer jetzt am richtigen Ort ist. Muße ist nicht Trägheit, genauso wenig wie Zufriedenheit Stagnation bedeutet. Wer Muße hat, ist reich, denn er hat immer ausreichend Zeit für das, was ihm das Leben jetzt gerade bietet.«

Traugott hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, auf die kleinen Dinge zu achten, die das Leben uns allen schenkt, und zu vertrauen, dass jeder so wie er ist geliebt wird. Er hatte mich aufgefordert, die Priorität meiner Werte zu überdenken und neu zu sortieren.

Ich setze mich auf das Sofa mit der beängstigenden Einsicht, wie wenig ich mich im Leben und mit mir selbst auskenne. Auf der dritten Seite von Traugotts Notizbuch findet sich nur ein Satz und ein Pfeil fordert zum Umblättern auf.

Know you are loved →

3. Notiz (die Erklärung dazu)

Es ist wirklich sehr einfach: Es gibt zwei Wünsche, nach deren Erfüllung alle Menschen permanent streben. Nur diese zwei. Und darum dreht sich die ganze Welt. Der eine ist der Wunsch nach Liebe und der andere der Wunsch nach Anerkennung.

All unser Streben lässt sich auf diese zwei Wünsche reduzieren. Jeder von uns will geliebt und anerkannt werden. Wir streben danach in einem Ausmaß, als würde unser Leben davon abhängen. Die Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich dieser beiden Wünsche mögen unterschiedliche Ausprägungen haben, die Wurzel ist jedoch immer dieselbe.

Du willst geliebt werden – so wie du bist, für das, was du bist. Und du suchst diese Liebe im Außen. Du willst sie von anderen bestätigt wissen. Wenn du verstanden hast, dass du so wie du bist bereits geliebt wirst, brauchst du im Außen nicht mehr zu suchen. Liebe von außen ist ein Konstrukt, das irgendwann zusammenbricht. Denn in der polaren Welt ist nichts einseitig von Dauer. Jeder Pol hat seinen Gegenpol und Mensch zu sein heißt, die Erfahrung der Polarität zu machen.

Du wünschst dir, geliebt zu werden, und glaubst, dass du dir diese Liebe verdienen müsstest! Du malst ein Bild von dir selbst, dem du entsprechen möchtest, und siehst zu, dass du diesem Bild ähnlich wirst. Du glaubst, dass wenn du diesem Bild entsprichst, du dir die Liebe verdienen könntest! Mehr noch, du glaubst sogar, du hättest dann einen Anspruch auf die Liebe, weil du an diesem Bild akribisch feilst, und bist enttäuscht, wenn es nicht so ist. Welche Anstrengungen du permanent unternehmen musst, damit sich der Wunsch nach Liebe für dich erfüllt!

Selbst wenn er sich für dich eine Zeit lang erfüllt, ist die Befriedigung nur von kurzer Dauer: Entweder es keimen neue Wünsche auf oder du hast Angst, sie wieder zu verlieren. Du lebst immer in der Polarität von Erwartung und Befürchtung.

Wahr ist vielmehr, dass du dir diese Liebe nicht verdienen musst. Du kannst sie dir gar nicht verdienen, weil du so wie du bist, schon geliebt bist.

Du musst keinem anderen Bild entsprechen als jenem, das Gott von dir schon gezeichnet hat! So wie du bist, bist du von Gott gewollt. Sonst wärst du gar nicht hier auf Erden!

Du musst nichts an Gottes Werk verbessern, korrigieren oder berichtigen. Denn das würde bedeuten, Gott nicht dafür wertzuschätzen, was er in dir veranlagt hat, und dich nicht wertzuschätzen für das, was du in dieser Welt zum Ausdruck bringen sollst. Und wenn du selbst nicht wertschätzt, was Gott in dir veranlagt hat, kannst du auch jene nicht wertschätzen, die dich lieben, und damit kann diese äußere Form der Liebe auch nicht beständig sein.

Du stellst nicht nur dich selbst infrage, sondern auch jene, die dich lieben, und am Ende auch Gott selbst. Die Anerkennung messen wir in den unterschiedlichsten Einheiten: Es geht um Status, um Wohlstand, um Macht, um Intelligenz, um Aussehen – je nachdem, was uns gerade am meisten fehlt oder von dem wir glauben, dass es uns am dienlichsten ist, um Anerkennung wirksam im Außen finden zu können und von anderen bestätigt zu wissen.

Anerkennung von außen ist auch ein Konstrukt, das niemals ewig standhalten kann: Denn selbst der mächtigste Mensch, wird im Angesichts des Todes all seine Macht abgeben und sie Gott aushändigen müssen. Selbst der reichste Mensch wird sich irgendwann von seinem Reichtum trennen müssen und auch das attraktivste Gesicht und der sportlichste Körper werden altern und irgendwann erschlaffen. Alles, wonach ihr strebt, ist vergänglich. Vergänglichkeit ist die Natur aller Dinge.

Du willst anerkannt werden für das, was du bist, für deine Werke und deine Taten? Erkenne dich selbst an, erkenne Gott in dem an, was er in dir und durch dich zum Ausdruck bringt. Und du wirst Demut und Dankbarkeit empfinden für das, was du bist, und nicht mehr nach Liebe und Anerkennung im Außen suchen.

Du wirst verstehen, dass dich Gott anerkennt, so wie du bist, und dass du nichts tun oder sein musst, um dir diese Anerkennung zu verdienen, weil sie gottgegeben ist. Suche nicht im Außen das, was im Inneren bereits vorhanden ist. Wende dich nach innen, lebe von innen nach außen und erfahre in dir Gottes Liebe und Anerkennung.

 

Weil du im Außen immer nur versuchst, deine Wünsche zu erfüllen, ist dein Leben anstrengend. Du wendest ein hohes Ausmaß an Energie auf, um permanent einem Bild zu entsprechen, das du dir selbst auferlegst. Du tust Dinge, von denen du meinst, dass sie dir die Anerkennung bringen, der du glaubst zu bedürfen. Du läufst immer selbst gesteckten Erwartungen hinterher, weil an ihnen dein Glück zu hängen vermag. Aus einem Bedürfnis entstehen immer Zwang und Perfektionismus. Und Zwang ist das Gegenteil von Freiheit. Deshalb fühlst du dich gefangen. Du nimmst dir selbst deine Freiheit.

Erkenne dich selbst an, dann kannst du frei sein, frei handeln. Du tust dann nur noch Dinge, die dein Ausdruck von Gott sind, und nicht mehr ausschließlich solche Dinge, die Ausdruck deiner Bedürfnisse nach Liebe und Anerkennung von außen sind.

Wünsche sind ein Fass ohne Boden, denn kaum sind sie erfüllt, entstehen neue Wünsche, die als Nächstes erfüllt werden wollen. Denn auch die Befriedigung der Wunscherfüllung ist vergänglich.

Stell dir vor, jeder würde erkennen, dass er so wie er ist anerkannt und geliebt ist. Jeder wäre frei in seinen Handlungen und müsste nicht permanent versuchen, seine Wünsche nach Liebe und Anerkennung zu erfüllen. Das wäre ein Leben in Freiheit und Harmonie, in dem jeder in jedem Gott erkennen würde. Dann wäre jeder frei von seiner Bedürftigkeit und könnte sich in Freiheit seinen tiefsten Sehnsüchten und seiner ureigenen Lebensaufgabe zuwenden. Das wäre das Paradies.

Ja, es ist so. Die meisten wollen nur geliebt werden und strengen sich dafür außerordentlich an. Ganze Industrien leben ziemlich gut davon, dass die Menschen Liebe und Anerkennung brauchen. Mode, Sport, Diäten, Kosmetik, Wellness … Die Liste ist lang. Wie wäre die Welt, wenn die Menschen in dem Ausmaß lieben würden, wie sie geliebt werden wollen?

Ist es wirklich Liebe, wenn ich mich an Simon festklammere? Ist es Liebe, wenn ich ihn gefühlsmäßig für mein Glück so sehr brauche?

4. Notiz

Wenn du mit deinem Leben nicht zufrieden bist, dann denke neu, erfinde dich neu. Male dir in den schönsten Farben ein neues Leben aus und lass das alte los. Schau nicht zurück.

Du kannst nicht am alten Leben hängen, es beklagen, es bedauern und gleichzeitig dein neues Leben entwerfen wollen. Nimm ein neues Blatt Papier, ein unverbrauchtes, leeres Blatt, und male dir deine erhabensten Wünsche aus. Überlege, wie du dein Potenzial und deine Talente am besten zum Ausdruck bringen kannst, und mache dich auf den Weg. Beklage nicht, was jetzt ist – du hast es so gewählt –, sondern akzeptiere, dass du so gewählt hast, und mache dich auf zu neuen Ufern.

Warte nicht auf ein Ereignis im außen, um dich auf den Weg zu machen, es kommt jetzt nicht.

Wirkliche Veränderungen finden von innen nach außen statt, nicht von außen nach innen.

Du musst über den Tellerrand hinausblicken. Es gibt nichts, was du zu beklagen hättest. Das Leben meint es gut mit dir. Du hältst an dem Vertrauten fest, du hast Angst, es loszulassen, weil es dir Sicherheit gibt. Aber das ist nur eine scheinbare Sicherheit. Es gibt nichts im Leben, das man festhalten könnte. Du musst alles loslassen, damit es zu dir zurückkommt. Nichts, woran du festhältst, wird dich auf Dauer glücklich machen.

Loslassen heißt, etwas freigeben. Nichts ist von Dauer. Alles, was besteht, ist dem Wandel unterworfen. Bewege dich mit dem Wandel und denke neu. Was du festzuhalten versuchst, kann sich nicht verändern.

Durch dein Festhalten versuchst du, ein universelles Gesetz zu unterbinden. Was du festhältst, kann sich nicht weiterentwickeln. Was du festhältst, kann nicht wachsen, es kann sich nicht entfalten, es verdirbt in deinen Händen. Das was du am meisten liebst und am meisten fürchtest, musst du loslassen.

Loslassen heißt, es gehen zu lassen, keine Erwartungen und Befürchtungen mehr zu hegen, es einfach sein zu lassen. Keine Emotionen aufkommen zu lassen. Das ist ein Prozess und je höher der Leidensdruck, desto eher wirst du immer darauf gestoßen, es zu praktizieren. Dafür bedarf es der Geduld, der Ausdauer und der Disziplin.

Bei geringem Leidensdruck wird es an Disziplin mangeln, je höher aber der Leidensdruck, desto höher wird deine Bereitschaft sein zu verändern.

Ich lausche dem Regen, der jetzt auf die Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses klopft. Ich betrachte Simons Foto und lege es in die Schachtel. Er wollte uns nicht genug, um bei uns zu bleiben. Vorläufig.

***

Kapitel 5

Sanft klingelte ein Glockenspiel, als ich eintrat. Dabei umklammerte ich mit der linken Hand den Herzstein in meiner Hosentasche, als könnte ich mich an ihm festhalten. Traugott stand auf einer Holzleiter, drehte den Kopf zur Eingangstür und grüßte mich freundlich. Ich war erstaunt, dass er meinen Namen kannte. Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört, aber er sagte tatsächlich:

»Grüß Gott, Theo.«

»Hallo Traugott«, antwortete ich. »Woher kennst du meinen Namen?«

»Nun, ich habe ihn deine Mutter einmal rufen gehört und er ist mir im Gedächtnis geblieben. Dein Name ist bedeutungsvoll. Und vielleicht auch, weil er für ein Mädchen eher ungewöhnlich ist«, antwortete Traugott und stieg von der Leiter hinunter.

»Wieso ist Theo ein bedeutungsvoller Name?«, fragte ich.

»Nun, Theo heißt Geschenk Gottes und das ist doch wahrlich bedeutungsvoll!« Er beugte sich zu mir herunter und reichte mir die Hand. Sein Händedruck war kräftig und kurz.

Ich schwieg. In die Stille hinein fragte er: »Und woher kennst du meinen Namen, Theo?«

»Er steht in großen Buchstaben da oben über der Eingangstür«, sagte ich und musste kichern. »Ich gehe mindestens zwei Mal am Tag daran vorbei!«

»Ach ja, stimmt, da hast du recht, daran habe ich gar nicht gedacht«, lächelte er, kratzte sich am Kinn und schob seine Brille zurecht.

Traugott wirkte jung. Er hatte auffallend viele Locken und einzelne Strähnen tanzten bei jeder noch so kleinen Kopfbewegung am oberen Rand seiner Brille. Er war groß und sehr schlank, sein weißes Hemd hing ihm aus der Hose. Er schaute mir vielsagend in die Augen. Sein Blick war offen und ehrlich. Die wenigsten Menschen schauten einem wirklich in die Augen. Ich habe das beobachtet. Die meisten machten das nur kurz und dann war es ihnen irgendwie unangenehm und sie schauten weg.

»Theo, hast du geweint? So traurige Augen! Bist du alleine? Wo ist deine Mama?«, fragte er und nahm mir die Jacke ab, als wäre es für ihn ganz selbstverständlich, dass ich länger bleiben würde.

»Das weiß ich nicht. Ich habe vor der Schule auf sie gewartet, aber sie ist nicht gekommen«, antwortete ich.

»Hat sie sich verspätet, was glaubst du? Wollen wir sie einmal anrufen?« Er holte ein Taschentuch hervor und reichte es mir.

»Ja bitte«, ich nicke. »Die Nachmittagsbetreuerin hat es schon versucht, aber sie hat nicht abgehoben.«

Die Telefonnummer meiner Mutter konnte ich seit meinem fünften Lebensjahr auswendig. Sie hatte diese Nummer sehr oft mit mir geübt. »Man kann nie wissen«, hatte sie mehrmals betont. Früher habe man noch alle wichtigen Nummern auswendig gewusst, aber seitdem man sie einspeichern könne, mache man sich die Mühe nicht mehr. Meine Mutter sagte immer, sie kenne keine einzige Telefonnummer mehr auswendig.

Traugott holte sein Mobiltelefon aus der hinteren Hosentasche. Ich sagte ihm die Nummer an. Es läutete. Niemand nahm ab. Meine Augen begannen sich wieder mit Tränen zu füllen, aber nicht, weil ich so einsam war, sondern weil ich Angst um meine Mama hatte.

»Sie musste zum Flughafen, hatte aber gesagt, dass sie sicher rechtzeitig wieder da ist. Sie war noch nie zu spät«, schluchzte ich. Auf meine Mama konnte man sich wirklich verlassen.

»Hat sie gesagt, wohin sie geflogen ist?«, fragte Traugott nach.

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie hatte es sehr eilig. Ich habe auch nicht nachgefragt.«

Traugott schwieg.

»Es kann nicht sehr weit weg sein, wenn sie gesagt hat, dass sie dich um sechzehn Uhr wieder abholt.«

»Ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte ich.

Er dachte nach, legte dabei seine Hand über den Mund und verharrte in einer Position, als würde er über etwas ganz Wichtiges nachdenken. Er wirkte plötzlich sehr konzentriert. Es sah so aus, als hätte er sein Lächeln einfach von seinen Lippen genommen, um es in seiner Hand festzuhalten. Nach kurzer Zeit setzte er sein feines Lächeln wieder auf, strich mir mit der Hand über den Kopf und sagte:

»Ich bin mir ganz sicher: Deine Mama ist wohlauf und es geht ihr gut. Wahrscheinlich hat sie sich nur verspätet. Ich würde vorschlagen, dass du ein bisschen bei mir bleibst. Sie wird bestimmt bald kommen, davon bin ich überzeugt.«

»Meinst du wirklich? Aber dann hätte sie doch in der Schule angerufen und Bescheid gegeben. Das hätte sie bestimmt gemacht. Oder sie hätte Rosie angerufen und Rosie wäre gekommen. Rosie holt mich öfter von der Schule ab.«

»Wer ist Rosie?«, fragte Traugott.

»Rosie ist eine ältere Dame, sie wohnt im Mezzanin.«

»Ja«, sagte Traugott, »ich glaube ich kenne sie vom Sehen. Vielleicht ist der Akku ihres Handys leer oder sie hat niemanden erreicht oder sie sitzt noch im Flugzeug. Da kann man ja bekanntlich nicht telefonieren. Es geht ihr gut, ganz bestimmt«, versicherte Traugott.

»Und woher weißt du das?«

Traugott nahm mich bei der Hand und zog mich näher an sich heran. Dann flüsterte er mir etwas zögerlich und leise ins Ohr:»Gott hat es mir geflüstert! Wir werden einfach gemeinsam warten, bis sie kommt.«

Ich lächelte. Ich war so dankbar, dass Traugott, der mich kaum kannte, so warmherzig aufnahm. Hier war alles so friedlich, Traugott war sicher einer jener Menschen, die einverstanden waren mit der Welt.

»Gott hat dir etwas zugeflüstert?«, fragte ich nach. »Du kannst mit Gott sprechen? Wie machst du das ‒ mit Gott sprechen? Kannst du dich mit Gott unterhalten, weil du Traugott heißt? Ich würde auch gerne einmal mit Gott sprechen.«

Traugott schmunzelte.

»Ich kann es dir erklären. Allerdings könnte das etwas Zeit in Anspruch nehmen ‒ wenn ich so viele Fragen auf einmal beantworten muss. Ich hole uns erst einmal etwas zu trinken.« Er verschwand hinter einem hellgrünen Filzvorhang in der hinteren Ecke seines Ladens.

Es war schon komisch. Manchmal begegneten einem Menschen, die einem völlig fremd waren und einem dennoch so vertraut vorkamen, als würde man sie schon ganz lange kennen. Für Traugott schien es selbstverständlich zu sein, dass ich hier bei ihm war und auch blieb. So als wären wir bereits sehr lange befreundet gewesen.

Da fiel mir plötzlich Allegra ein. Allegra und Pauli waren die Kinder einer Freundin meiner Mutter, die in Belgien wohnten und uns einmal besucht hatten. Allegra war damals vier Jahre alt gewesen und ihr Bruder Pauli acht, so alt wie ich. Das war also vor fast zwei Jahren gewesen.

Ich hatte Allegra noch nie vorher gesehen, aber sie hatte mich begrüßt, als wäre ich ihre beste Freundin. Eigentlich fand ich ja kleine Kinder ein bisschen anstrengend, so wie meine kleine Halbschwester, die ich sah, wenn ich ab und zu bei meinem Vater war. Und ich brach nicht gleich in Entzücken aus, wenn ich ein kleines Mädchen sah, wie das die meisten Erwachsenen taten. Aber Allegra war speziell gewesen. Sie war mir nicht von der Seite gewichen, den ganzen Nachmittag nicht. Sie hatte zu mir gesagt: »Dich kenne ich schon ganz lange, wir sind schon einmal miteinander auf einem Pferd geritten.«

Ich hatte sie nie zuvor gesehen und war auch in meinem ganzen Leben noch nie auf einem Pferd geritten, außer auf dem Karussell auf dem Weihnachtsmarkt. Damals hatte ich gedacht: »Die redet lauter Unsinn, weil sie noch so klein ist.«

Aber weiterhin hatte sie mir erzählt, dass sie auch den Pauli schon ganz lange kannte und sie ausgemacht hatten, zusammen auf die Welt zu kommen. Erst sie und danach der Pauli. Aber Pauli hätte sich nicht an die Vereinbarung gehalten, er wäre schneller gewesen und hätte sich einfach vorgedrängelt. Sie hätte dann noch lange warten müssen.

 

»Naja, die spinnt gründlich«, hatte ich gedacht, »ganz gewiss.« Aber trotzdem hatte ich immer wieder darüber nachdenken müssen.

Sie war wirklich lieb gewesen, so total anhänglich, und sie hatte unglaublich gut Geige gespielt, das war wirklich unbegreiflich gewesen! Immerhin war sie ja noch so klein gewesen. Der Geigenkasten hatte ihr fast bis zum Kinn gereicht. Komisch, dass mir die Geschichte gerade jetzt bei Traugott einfiel.

Ich sah mich um. Der Buchladen war sehr gepflegt, luftig, mit hohen Wänden und einer breiten Schaufensterfront zur Straße. Es war hell, sauber und freundlich. Alles war ordentlich. Die Bücher reihten sich in den meterhohen, bis unter die Decke emporrankenden Regalen aneinander und ich war überzeugt davon, dass Traugott jedes einzelne blind finden würde. In der Mitte des Ladens standen kleine Tische rund um eine Säule und auf diesen lagen kleine und größere Büchertürme. Die Säule war hellgelb tapeziert und an ihr hafteten bunte Notizzettel mit Zitaten aus Büchern. Darüber stand in großen schwarzen Buchstaben: Wortewand.

Traugott sammelte also Worte, etwa so wie andere Briefmarken, Münzen oder Postkarten sammelten? Ich stand auf, ging zur Säule und las:

Das Hohe Lied der Liebe

Nehmen ohne Liebe macht habgierig.

Sachkenntnis ohne Liebe macht rechthaberisch.

Klugheit ohne Liebe macht gerissen.

Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch.

Besitz ohne Liebe macht geizig.

Ich verstand die Sätze nicht. Ich las noch einmal: Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch.

»Was heißt heuchlerisch?«, rief ich Traugott zu, der hinter seinem Vorhang werkte.

»Hm, das heißt scheinheilig, eben nicht aufrichtig«, erwiderte er und lugte kurz hinter dem Vorhang hervor.

»Warum?«

»Es steht hier auf dem Notizzettel an deiner Wortewand: Freundlichkeit ohne Liebe ist heuchlerisch«, wiederholte ich.

»Jetzt weiß ich, warum die Höflichkeit unseres Nachbarn mir so unehrlich vorkommt. Es fehlt die Liebe. Aber er muss mich ja nicht lieben, er kennt mich ja nicht wirklich«, dachte ich. »Kann man Menschen lieben, die man kaum kennt?«

Traugotts Freundlichkeit fühlte sich ganz anders an. Und auch er musste mich ja nicht lieben, denn er kannte mich genauso wenig. Ich verstand den Satz noch immer nicht.

Ich setzte mich in einen Sessel, der bei einem Tisch vor dem linken Schaufenster stand. Abwechselnd schaute ich hinaus und dann wieder auf meine Beine, die nach vorne und dann wieder nach hinten baumelten.

Camille ging mit ihrem federnden Gang am Laden vorbei. Sie trug ein blau-weißes Blumenbouquet im Arm und wirkte sehr geschäftig. Ich winkte ihr zu, sie lächelte, winkte mir zurück. Danach verschwand sie im nächsten Haustor.

Traugott kam wieder hinter dem Vorhang hervor. Er brachte uns zwei Gläser mit Strohhalmen und frisch gepresstem Apfelsaft. Dankbar lächelte ich ihm zu. Wir tranken und Traugott blies in den Strohhalm, sodass es im Glas nur so blubberte. Ich lachte. Meine Mama mochte das gar nicht. Aber wenn Traugott es schon blubbern ließ, tat ich ihm einfach gleich und wir lachten beide. Die Gläser waren ganz kalt, sie hatten bestimmt im Kühlschrank gestanden. Ich sah auf das beschlagene Glas und verwischte dabei die Abdrücke, die meine Finger darauf hinterlassen hatten. Traugott malte mit dem Zeigefinger ein lachendes Mondgesicht auf sein Glas und drehte es in meine Richtung. Dann verschwand er erneut hinter dem Vorhang und kam kurze Zeit später wieder zurück.

»Erdbeereis?«, fragte er.

»Oh ja, sehr gerne.«

Wir knabberten beide schweigend die Schokoladenglasur herunter, bevor wir in das köstliche Eis bissen. Eigentlich wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen, so dankbar war ich. Seine Anwesenheit und seine Zuversicht beruhigten mich. In seiner Gegenwart fühlte ich mich in absoluter Sicherheit. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht wegen seiner großen dunkelbraunen Augen, die gütig waren und immer lächelten?

Traugott konnte mit den Augen lächeln. Er hatte einen durchdringenden Blick, sodass ich das Gefühl hatte, dass er in mein Herz schauen und meine Gedanken lesen könnte. Ich stellte später immer wieder fest, dass, während er zu mir sprach und ich seine Worte förmlich aufsaugte, gleichzeitig Fragen in mir auftauchten, die er, noch bevor ich sie stellen konnte, schon beantwortete. So als ob er sie irgendwo ablesen könnte.

Nachdem wir das Eis fertig gegessen hatten, stand er auf. Er nahm ein weißes Blatt Papier, befestigte zwei Klebestreifen daran und sagte:

»Du hinterlässt am besten eine Nachricht an eurer Wohnungstür, damit deine Mama sofort weiß, wo du bist, sobald sie nach Hause kommt. Es könnte ja sein, dass wir sie vom Laden aus nicht sehen, wenn sie heimkommt.«

»Das ist eine gute Idee.« Ich nahm den Stift, den mir Traugott entgegenhielt und schrieb auf das Blatt:

Liebe Mama,

ich bin bei Traugott.

Bitte hohle mich ab! Ich warte hier auf dich.

Deine Theo

Ich zog den herzförmigen Kieselstein, der mich zu Traugott geführt hatte, aus meiner Hosentasche.

»Ein hübscher Stein«, sagte er, betrachtete ihn und nahm ein weiteres Taschentuch, um ihn zu polieren. Wir klebten ihn mit einem zusätzlichen Klebestreifen auf das Papier.

Ich lief aus dem Laden. Die bunten Notizzettel an der Säule flatterten im Luftzug, als wollten sie zu Wort kommen und unbedingt etwas mitteilen. Ich drückte unser schweres Haustor auf, rannte die vier Stockwerke hinauf und sperrte die Wohnungstür auf. Den Zettel legte ich ins Vorzimmer auf die weiße Kommode. Das ist der Ort, wo meine Mama immer die Schlüssel und ihre Tasche ablegte, bevor sie die Schuhe auszog. Da würde sie ihn bestimmt nicht übersehen. Dabei fiel mir auf, dass man ›hohle‹ nicht mit stummem ›h‹ schreibt. Naja, das war jetzt auch wirklich nicht wichtig. Sie würde es sicher trotzdem verstehen.

Ich zog die Türe hinter mir zu. Da erschrak ich. Mir fiel plötzlich ein, dass sie ja doch zu Hause sein könnte. Vielleicht war sie krank und lag im Bett und war einfach eingeschlafen? In ihrem Schlafzimmer hatte ich noch gar nicht nachgesehen.

Ich sperrte noch einmal auf und ging schnell ins Schlafzimmer. Sie war nicht da. Das Bett war frisch gemacht. Sicherheitshalber sah ich noch einmal in allen Räumen nach.

»Mama, bist du da?«, rief ich laut … Keine Antwort. Ich schloss die Tür und ging zurück zu Traugott. Im ersten Stock läutete ich noch einmal bei Rosie. Aus Rosies Wohnung drang auch dieses Mal kein Laut.

***

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?