Buch lesen: «Kurzgeschichten - Mystery -»

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Daniela Mattes

Kurzgeschichten

Mystery

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Impressum

Texte: © Daniela Mattes

Umschlagfoto: © Susanne Klimt

Verantwortlich

für den Inhalt: Daniela Mattes

Schwarzwaldstr. 13

78549 Spaichingen

www.daniela-mattes.de

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Der Teich

Lebenszeit

Durch den Spiegel

Tödliche Umarmung

Nachtschwester Gundula

Hausputz

Wo ist Oma?

Die Clique

Fenster zur Hölle

Der Buchhalter

Bettgeflüster

Wieder zurück

Frühstück mit Leiche

Ausgang in Sicht

Die Geschichten stellen eine Auswahl der besten Geschichten aus den beiden vergriffenen Bänden „Grey Anthology“ und „Dark Ladys Night“ dar.

DER TEICH

Wie schon an jedem Tag in diesem Sommer, der eigentlich viel zu heiß für die Gartenarbeit war, machte sich Birgit auf den Weg zu ihrer besten Freundin Martina, um ihr beim Anlegen des neuen Gartenteiches zu helfen. Die beiden Enddreißigerinnen waren bereits seit Kindertagen eng befreundet und gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Das Leben hatte es jedoch unterschiedlich gut mit ihnen gemeint.

Während Birgit alleinerziehende Mutter eines 10-jährigen Sohnes war und in einer kleinen Wohnung im 3. Stock des Hochhauses mitten in der Stadt wohnte, war Martina gut situiert verheiratet und stolze Mitbesitzerin eines kleinen Häuschens im Neubaugebiet in bester Wohnlage. Birgit beneidete die Freundin seit dem Einzug, besonders um den hübschen Garten, den sie in ihrer Hochhauswohnung schmerzlich vermisste.

Umso lieber war sie bereit, von Zeit zu Zeit mit anzupacken und der Freundin bei der Gestaltung unter die Arme zu greifen. Sie genoss es sichtlich, die Aufteilung der Gemüsebeete mitbestimmen zu dürfen und sogar ein, wenn auch kleines, Mitspracherecht bei der Auswahl der Zierpflanzen und Büsche zu haben.

Rund um das Grundstück hatten sie gemeinsam hohe, dichte Büsche gepflanzt, weil Martina viel Wert auf ihre Privatsphäre legte. Nach kleineren Veränderungen im Garten wollten die beiden nun noch einen hübschen Teich anlegen. Die im Versandhaus bestellten Utensilien waren vor Tagen eingetroffen und lagen überall im Garten herum.

Sobald das Loch für die Wanne groß genug gegraben war, wollten sie sie einsetzen und rund um den etwas erhöhten Rand Steinplatten legen. Erst wenn auch die Pflanzen eingesetzt waren und das Pumpen- und Filtersystem funktionierte, wollten sie gemeinsam Goldfische kaufen gehen. Sie kamen sich vor wie kleine Kinder, die zum ersten Mal ein Aquarium bekamen.

Schwitzend war Birgit knapp nach 15.00 Uhr eingetroffen und klingelte noch etwas außer Atem an der Haustür, die gleich darauf schwungvoll geöffnet wurde. Martina strahlte ihr entgegen und winkte sie hinein.

»Wo warst du denn so lange?«, fragte sie gespielt vorwurfsvoll. »Wir müssen noch eine ganze Weile graben, um die Wanne einsetzen zu können – und das sollten wir erledigt haben, bevor es zu regnen anfängt. Ich möchte nicht, dass uns die halb fertige Arbeit davon schwimmt!«

Birgit winkte ab. »Ach, mein Sprössling musste mal wieder nachsitzen und ich wusste nicht, wo er war. Bevor er nicht zu Hause war, wollte ich auf gar keinen Fall losgehen!«

»So ein Schlawiner. Aber das sind die Gene. Du warst schließlich auch ein ganz schönes Früchtchen damals! Und vielleicht hat er auch etwas von seinem Vater geerbt ...« Martina verstummte. Obwohl sie beste Freundinnen waren, hatte ihr Birgit auch nach all den Jahren noch nicht verraten wollen, wer eigentlich der Vater des Kindes war.

Sicher, Birgit hatte eine Menge Freunde gehabt, aber sie war intelligent genug, um zu wissen, was sie tat und eigentlich müsste sie auch ganz genau wissen, wer der Erzeuger des quirligen Jungen war. Warum nur, wollte sie nie darüber reden? Martina selbst war leider kinderlos geblieben und wollte nur zu gerne immer über das Thema reden, um an etwas teilnehmen zu können, das sie selbst nie haben würde. Doch auch heute war Birgit verstockt und warf ihr nur einen bösen Blick zu.

»Schon gut, schon gut! Lass uns lieber in den Garten gehen!« Die Freundinnen gingen durch das Haus in den unteren Stock und von dort aus in den Garten. Martina trug trotz der Hitze Gummistiefel, weil sie es nicht mochte, in der harten, trockenen Erde zu stehen oder in Steine zu treten. Sie trug ein altes, vom Waschen verfärbtes T-Shirt und hatte eine alte Arbeitshose ihres Mannes mit einem breiten Gürtel um die pummelige Taille befestigt. Die schwarzen störrischen Locken waren gebändigt und unter einem alten Kopftuch versteckt.

Birgit schaffte es, wie schon früher und sehr zum Neid der Freundin, auch bei der Arbeit ganz entzückend auszusehen. Mit engen 7/8-Leggins und einem ebenso engen Spaghettiträger-Top mit Glitzerdruck, festen Halbschuhen und einem weißen Sonnenhut, aus dem hinten das lange, geflochtene Haar heraushing und in der Sonne glitzerte wie fein gesponnenes Gold, sah sieh viel zu fein aus für die Gartenarbeit.

Aber sie war schon immer die Hübschere gewesen und Martina konnte zu ihrem eigenen Leidwesen nie über ihren Schatten springen, und sich statt in praktischer Arbeitskleidung in schicken Sommer-Outfits an die Gartenarbeit zu machen. Es kam ihr unnatürlich vor. Außerdem hatte sie sich mit der Zeit daran gewöhnt und hier im Garten konnte man von draußen sowieso nichts sehen. Niemand würde die schöne Freundin bemerken.

Die Frauen spuckten in die Hände und begannen anfangs unter Gekicher und flotten Sprüchen, später schweigend und konzentriert eine große Grube auszuheben, die sie vorher ausgemessen hatten. Die übrige Erde türmten sie hinter dem Teich auf und formten daraus ansatzweise bereits einen Hügel, den sie später noch bepflanzen wollten.

Als die Sonne langsam unterzugehen begann, stützte sich Martina schnaufend auf ihre alte Schaufel und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß aus der Stirn.

»Wir hätten so spät nicht mehr anfangen sollen zu graben. Es wird bald dunkel und ich will nicht bis Mitternacht hier graben und gestalten und Hügelchen aufschütten. Meinst du, die Grube passt jetzt in etwa?« Birgit lachte.

»Wahrscheinlich ist sie sogar zu tief, aber aufschütten geht ja viel schneller, als ausheben. Hören wir am besten auf und bestellen uns eine Pizza. Vielleicht schicken sie einen knackigen Lieferanten?«

Kichernd wie zwei Teenager setzten sie sich auf die weißen, gepolsterten Stühle in die Gartenlaube, die bereits fertig war und Martina zückte ihr Handy, um die Nummer zu wählen, die sie schon auswendig kannte. Sie bestellte einen großen Salat und eine Pizza Romana und versuchte dann nochmals ihre Freundin auf den kleinen Sohn anzusprechen. Es blieb genug Zeit für ein ausführliches Gespräch, da die Lieferung mindestens eine Stunde dauerte, wie der überlastete Mann am Telefon ihr verraten hatte.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum du es mir nicht verraten willst. Was wäre schon dabei? Was ist denn so schlimm an diesem Mann, dass ich nicht wissen darf, wer es ist? Ist er etwa ein Mörder? Oder eine Berühmtheit? Ein Sänger, ein Filmstar? Oder jemand, den ich kenne?«

Martina lachte beim letzten Satz lauter. Es wäre ihr sicher aufgefallen, wenn einer ihrer Bekannten zeitweise mit Birgit liiert gewesen wäre. Doch Birgits Lachen an dieser Stelle setzte etwas zu spät und zu gekünstelt ein. Genau genommen sah sie etwas erschrocken aus. »Aha!«, dachte sich Martina.

»Du bist eine Nervensäge«, antwortete Birgit und versuchte, die Situation zu retten. »Du kennst ihn natürlich nicht und ich wollte nichts erwähnen, weil der Mann verheiratet ist. Ich will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen, deshalb möchte ich es geheim halten.«

»War es denn ein One-Night-Stand oder etwas Ernstes?«, fragte Martina und beugte sich interessiert vor. Vielleicht bewegte sie ihre beste Freundin heute doch noch zu einem Geständnis.

»Nun ja«, druckste Birgit herum, »ich denke, wir haben uns wirklich geliebt, aber er wollte seine Frau nicht verlassen und ich wollte nicht nur die heimliche Geliebte sein. Es war schlimm genug, mit einer Lüge zu leben. Jahrelang musste er seiner Frau etwas von Tagungen und Fortbildungen erzählen, um sich abends oder übers Wochenende wegschleichen zu können. Wir haben uns dann in Hotels getroffen, weit weg, wo uns niemand kannte und wir uns als Ehepaar ausgeben konnten. Irgendwann ist es dann passiert und ich war schwanger. Da er keine eigenen Kinder haben kann, wusste er nicht, was er tun sollte. Vielleicht hätte er sich ja doch scheiden lassen, aber ich brachte es einfach nicht übers Herz, seine Ehe zu zerstören.«

Birgit blickte in das Glas mit Mineralwasser, das Martina ihr während der kurzen Rede schweigend gereicht hatte. Nervös drehte Birgit das Glas in den schmalen Händen hin und her.

Martina war wie versteinert. Vor mehr als zehn Jahren hatte ihr Göttergatte drei Jahre lang fleißig Schulungen und Wochenendkurse in Frankfurt und Stuttgart besucht und war sehr oft nicht zu Hause gewesen. Damals hatte er schon gewusst, dass Martina keine Kinder bekommen konnte und sie hatte angenommen, dass er freiwillig die vielen Kurse besuchte, um nicht mit einer Versagerin, wie sie sich selbst bezeichnete, zusammen sein zu müssen.

Die Schulungen hatten plötzlich aufgehört und dann nie wieder stattgefunden. Die Gründe dafür waren ihr damals weder wichtig noch besonders interessant vorgekommen. Er war einfach gut in seinem Job und brauchte keine weiteren Fortbildungen mehr.

Aber jetzt klangen Birgits Worte in ihr nach. Martina hatte Birgit gegenüber nie erwähnt, dass sie keine Kinder haben konnte. Sie hatte immer behauptet, dass sie keine Kinder wollte.

Dieses Statement hatte sie schon seit der Schulzeit von sich gegeben, und da alle ihre Bekannten das wussten, wunderte sich niemand, dass sie mit 39 noch kinderlos war – nach 15 Jahren Ehe. Sie hatte sich Birgit nicht anvertrauen wollen, obwohl sie sich schon damals als Kinder geschworen hatten, dass sie die besten Freundinnen sein wollten, bis dass der Tod sie scheiden würde.

Das Thema war ihr einfach unangenehm und mit schmerzhaften Erinnerungen an diverse Diskussionen mit ihrem Mann und auch diversen ärztlichen Untersuchungen verbunden. So hatte sie dieses kleine Geheimnis sogar vor Birgit bewahrt.

Ihr Mann Klaus war Birgits Jahrgang, die ein Jahr älter war und Klaus war auch in dieselbe Klasse gegangen wie Birgit. Er hatte schon mal lachend zugegeben, dass er immer für die hübsche Blondine mit den langen Beinen und den tiefgrünen Augen geschwärmt hatte und sich immer noch freute, wenn er sie ab und zu bei Martina zu Besuch sah. Das kam allerdings nur jedes Schaltjahr einmal vor, denn er arbeitete oft sehr lange und die Freundinnen trafen sich nachmittags.

»Und mir ist nie etwas aufgefallen«, murmelte Martina.

»Was hast du gesagt?«, fragte Birgit und schaute von ihrem Glas auf.

»Ach nichts, ich habe mich nur gerade gefragt, warum ich nie gemerkt habe, dass du mit meinem Mann vögelst«, sagte sie beiläufig. Jetzt war es Birgit, die erstarrte und totenbleich wurde.

»Wie kommst du denn auf diese absurde Idee?«, stotterte sie. »Das würde ich doch niemals tun. Ich zerstöre doch nicht die Ehe meiner besten Freundin.«

»Ja, das sagtest du bereits«, erwiderte Martina kalt. »Aber es ist doch ein arger Zufall, dass du immer gerade dann bei Freunden und Bekannten zu Besuch warst, wenn mein Mann auf Schulung war. Und dass ich euch immer beide gleichzeitig nicht erreichen konnte.

Im Nachhinein betrachtet hätte ich selbst darauf kommen müssen. Oh mein Gott! Und der kleine Klaus-Dieter wurde nicht nach deinem Opa getauft, sondern nach meinem Mann! Wie konnte ich nur so bescheuert sein. Wie konntest du mir das nur antun!«

Martina war aufgesprungen und hatte sich mit in die Hüften gestemmten Armen vor Birgit aufgebaut, die wie ein Häuflein Elend am Tisch zusammengesunken war.

»Jetzt bist du wohl sprachlos, du Schlampe!«, zischte Martina, die keine Kraft mehr hatte, zu schreien. »Ich hoffe, du bist stolz auf dich. Ich glaube, ich arbeite lieber im Garten weiter, damit ich deinen Anblick nicht mehr ertragen muss!« Wütend und verletzt stampfte Martina an die Grube zurück.

Birgit rannte ihr nach und legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Bitte, lass es mich doch erklären«, begann sie. Doch Martina schlug die Hand weg und griff nach der Schaufel, die sie bei der Grube hatte stecken lassen. »Bitte, Martina«, versuchte Birgit es noch einmal. Rasend vor Wut hob Martina die Schaufel und schlug sie Birgit mit voller Wucht seitlich gegen den Kopf.

»Lass mich in Ruhe!« Birgit hatte nicht einmal Zeit, einen Schmerzenslaut auszustoßen. Sie fiel hintenüber wie ein gefällter Baum und schlug mit dem Kopf hart auf den Waschbetonplatten auf, die der Umrandung des Teiches dienen sollten.

Martina starrte fassungslos über ihre eigene Tat auf Birgit, die jetzt ohne den schicken Sonnenhut reglos auf dem Boden lag und deren goldenes Haar sich langsam blutrot zu färben begann. Wie in Trance näherte sie sich der Freundin und fühlte vorsichtig nach dem Puls. Doch weder am Hals noch am Handgelenk konnte sie etwas spüren.

Als sie die Freundin ins Gras legen wollte, um sie bequemer zu betten und die Kopfwunde zu untersuchen, bemerkte sie, dass der Kopf in einem unnatürlichen Winkel vom Hals abstand. Panik ergriff sie jetzt. Mord! Du hast Deine Freundin ermordet! schrie es in ihrem Kopf. Du wirst in den Knast kommen! Klaus wird sich scheiden lassen!

Was sollte sie nur tun? Da fiel ihr Blick auf die Grube, die im schwindenden Tageslicht aussah, wie ein großes Grab, bereit sie beide aufzunehmen. Kurz entschlossen packte Martina die leichtgewichtige Birgit, die tot gar nicht mehr so leicht war, und schleppte sie in die Grube. Wie hatte Birgit vorhin so schön gesagt: »Wahrscheinlich ist sie sogar zu tief, aber aufschütten geht ja viel schneller, als ausheben.«

Ohne Zeit zu verlieren, begann sie hektisch, Erde auf Birgit zu schaufeln. Ihr Herz schlug wie wild, als sie den einzelnen Schaufeln voll brauner Erde nachsah, die über die Leggins und das Top der Freundin fielen und die Steinchen, die wieder herunterrollten. Bald hatte sie Birgit gleichmäßig bedeckt und auch das Gesicht mit den immer noch offenen, überraschten Augen, war unter der letzten Schicht Erde verschwunden.

Die ganze Grube zuzuschütten wäre viel zu auffällig, überlegte Martina jetzt ganz rational. Aber sie verbesserte jetzt noch etwas langsamer die Aufschüttung innerhalb der Grube und stellte dann die leere Wanne hinein. An den Seiten ließ sie Erde hineinrieseln und stopfte und klopfte die Ränder fest. Jetzt war sie beinahe am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte nicht nur Angst, sondern auch Muskelkater und sie war verschwitzt und wollte duschen.

Just in dem Moment rief der Pizzaservice von der Gartentür her: »Pizza!« Erschrocken fuhr sie herum und setzte dann ein freudiges ‘Darauf-habe-ich-schon-gewartet’ Lächeln auf. »Das habe ich mir jetzt wirklich verdient!«, erklärte sie dem jungen Mann und deutete hinter sich auf den noch leeren Teich. Der Lieferant blickte pflichtschuldig in den dämmrigen Garten und nickte kurz, bevor er sein Geld nahm und verschwand. Was interessierte ihn der Gartenteich dieser Kuh? Hatten Frauen, wenn sie allein waren, keine anderen Gesprächsthemen?

Martina nahm die Pizza mit zurück in die Gartenlaube, griff nach dem Grillbesteck in der Schublade unter dem Tisch und begann sorgfältig die Pizza zu zerteilen, um sie dann mit Blick auf den Teich langsam zu essen. Beim Kauen beschloss sie dann, noch die ersten Platten um den Teich herum zu legen. Die Platten waren nicht groß und so konnte sie sie gut allein um den Teich herum legen. Bis Klaus nach Hause kam, wäre sie damit schon fertig. Zumindest provisorisch würde man das Gesamtbild dann erkennen können.

Hastig aß sie den Salat zu Ende, der etwas zu salzig war, und brachte die Plastikverpackung und den Pappkarton in die Wertstofftonne und in die Altpapiertonne vor dem Haus. Beinahe zurück im Garten hörte sie ein Geräusch hinter sich. »Klaus?«, rief sie, bekam aber keine Antwort. Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht. Sie zuckte mit den Schultern und ging auf die Steinplatten zu, die sie noch kurz auszulegen beabsichtigte.

Als sie sich vor dem Stapel bückte und die erste Platte in die Hand nehmen wollte, sah sie, dass diese blutverschmiert war. Mist! Sie musste diese Platte erst waschen, blutige Platten konnte sie nicht verlegen. Das stellte sie vor eine völlig neue Herausforderung, die Spuren eines Mordes zu vertuschen.

Grimmig erhob sie sich, das heißt, sie wollte dies soeben tun, als die drei jungen Männer, die in den Garten eingedrungen waren, ihr eine Plastiktüte über den Kopf stülpten und so lange zuzogen, bis sie keinen Mucks mehr von sich gab. Dann schubsten sie die leblose Frau in den leeren Teich und begannen in aller Seelenruhe das Haus auszuräumen. Wie gut, dass der Kumpel vom Pizzaservice mal wieder für sie spioniert hatte.

Als Klaus nach Hause kam und nach langem Suchen seine tote Frau mit der lila Plastiktüte über dem Kopf im leeren Teich fand, war er am Boden zerstört und dachte, dass es wohl nicht schlimmer kommen konnte. Die Polizei hatte jedoch noch einige Fragen an ihn, da in der Gartenlaube zwei Gläser gefunden worden waren und außerdem ein Sonnenhut. Ob er wohl wisse, wem dieser Hut gehören könnte? Außerdem hatte man Blutspuren auf einer Steinplatte und im Rasen gefunden, die aber nicht seiner Frau gehören konnten. Diese war zwar tot, hatte aber keine Wunden am Körper, da der Tod durch Ersticken eingetreten war.

Klaus erkannte den Hut nur zu gut, denn er war es selbst gewesen, der diesen Birgit bei einem seiner heimlichen Kurzurlaube geschenkt hatte. Aber wo war Birgit? »Ich glaube, der Hut gehört der Freundin meiner Frau. Sie hat ihr oft im Garten geholfen und ihn möglicherweise heute vergessen.«

Er versuchte, so neutral wie möglich zu klingen. Der Kommissar nickte und machte sich eine Notiz. Wie in Trance beantwortete er alle Fragen der freundlichen Polizisten und verfluchte sich insgeheim dafür, dass er nicht früher zu Hause gewesen war. Aber anstatt Fortbildungen zu erfinden, um die neue Affäre mit seiner Sekretärin zu vertuschen, hatte er die Überstundenausrede eingeführt.

Vom schlechten Gewissen getrieben, begann er Tage später, nach Abschluss der erfolglosen Ermittlungen, den Gartenteich, den seine Frau und seine Geliebte in aller Freundschaft und mit so viel Eifer begonnen hatten, fertigzustellen und zu bepflanzen. Es wurde ein prächtiger Teich und er war stolz auf sich selbst. Abends saß er oft in der Gartenlaube, blickte auf den Teich und fragte sich, ob er wohl je erfahren würde, was mit Birgit passiert war und ob er sie wohl irgendwann einmal wiedersähe. Birgit wurde bis heute nicht gefunden.

LEBENSZEIT

Auf dem Flohmarkt herrschte ein fürchterliches Gedränge und Jennifer bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die gaffende Menge. So viel wie heute war schon lange nicht mehr los gewesen. Bestimmt war das gute Maiwetter ausschlaggebend dafür, dass die Leute mit Kind und Kegel den Markt bevölkerten.

Sicher stand die Kaufabsicht erst an zweiter Stelle. Man wollte sich einfach im Freien bewegen. Sehen und gesehen werden, die Sonne genießen, die nach dem verschneiten April endlich einmal länger als nur ein paar Minuten am Tag durch die Wolken brach.

Gut gelaunt drängten und schoben sich die Leute durch die enge Gasse zwischen den Ständen und blieben hier und da stehen, um sich über besonders lustige Kaufgegenstände zu erheitern oder um Schnäppchen zu feilschen. Jennifer suchte eigentlich nichts Besonderes, sie wollte wie alle anderen auch nur die Stimmung genießen und vielleicht noch ein hübsches Schmuckstück für ihren Großvater kaufen, der am Wochenende seinen 80. Geburtstag feierte.

Bisher hatte sie jedoch noch nichts entdecken können, das ihre besondere Aufmerksamkeit verdient hätte. Als sie gerade überlegte, ob sie sich nicht eine Currywurst holen und in die Sonne setzen sollte, sah sie am Stand zu ihrer Rechten etwas aufblitzen und trat spontan näher. Es war eine hübsche, alte Armbanduhr, die in der Sonne reflektiert hatte. Sie schien aus echtem Gold zu sein, mit verschnörkelten Ziffern, noch unzerkratztem Glas und intaktem Armband.

Auf der Rückseite war eine Inschrift eingraviert »Carpe diem« – Nutze den Tag. Seltsam, dachte sie sich. Sie hielt die Uhr unschlüssig in der rechten Hand und versuchte, das Gewicht abzuschätzen. Da trat der Verkäufer, ein runzeliger, alter Mann mit dem Gesicht eines vertrockneten Apfels, aber Augen so funkelnd wie geschliffener Diamant, näher.

»Ein schönes Stück«, sagte er. »Aber ich glaube nicht, dass Sie es kaufen sollten. Es ist nur ein Sammlerstück, denn die Uhr kann nicht mehr repariert werden.«

»Das ist aber schade!«, erwiderte Jennifer bedauernd.

»Ich hätte meinem Großvater gerne ein hübsches Geschenk gemacht. Andererseits ist er gelernter Uhrmacher und kann vielleicht auch mit einer kaputten Uhr etwas anfangen. Bestimmt kann er sie wieder in Gang setzen!«

Der alte Mann überlegte kurz. »Ich finde trotzdem, dass sie ein anderes Stück wählen sollten. Ich habe noch viele schöne Uhren, die sogar noch funktionieren. Sehen Sie nur.« Er machte mit der Hand eine Geste und deutete auf eine Reihe alter Uhren, keine jedoch aus Gold und keine so schön wie die, die sie in ihrer Hand hatte.

»Nein«, sagte Jennifer mit Bestimmtheit. »Ich möchte diese Uhr hier haben. Was soll sie kosten?«

»Nun, sie ist natürlich aus Gold, auch wenn sie nicht läuft, ist sie eigentlich noch etwas wert. Aber weil Sie mir so sympathisch sind und dies ein Flohmarkt ist, gebe ich sie Ihnen für 80 Euro.«

Nach langem Feilschen hatten sie sich auf 65 Euro geeinigt und Jennifer trug das ergatterte Sammlerstück stolz nach Hause, wo sie es liebevoll in Geschenkpapier verpackte, um es dem Opa am Sonntagnachmittag bei Kaffee und Kuchen zu überreichen. Hoffentlich freute er sich! Vor lauter Freude über das schöne Geschenk hatte sich auch schon wenige Minuten später die seltsamen Worte des Verkäufers vergessen: »Und denken Sie immer daran: Carpe diem!«

»Jaja«, hatte sie geantwortet und war in Gedanken schon bei der Auswahl des Geschenkpapiers gewesen. Heute war ja erst Freitag und so hatte sie noch einen Tag Zeit, alles zu verpacken.

Am Samstagmorgen konnte sie sich kaum aus dem Bett quälen, sie war einfach zu faul, um aufzustehen. Gähnend schlurfte sie letztendlich doch am Briefkasten vorbei, um mit der Morgenzeitung bewaffnet ein gemütliches Frühstück einzunehmen.

Während die Kaffeemaschine große Mengen der braunen Brühe zubereitete, setzte sie sich an den kleinen Küchentisch und schlug die Zeitung auf. Da fiel ihr Augenmerk direkt auf die Uhr, die seit gestern auf der Arbeitsplatte vor dem Fenster lag, damit sie auch ja nicht vergaß, sie einzupacken.

Jennifer erhob sich noch mal schwerfällig von ihrem Stuhl – unangemessen schwerfällig für ihre 28 Jahre – und griff nach der goldenen Uhr. Schade, dass sie nicht lief. Ihr Großvater könnte sie zwar problemlos herrichten, aber vielleicht hätte er doch mehr Freude an einer funktionstüchtigen Uhr gehabt?

Probeweise legte sie die Uhr selbst an und dreht sie hin und her. Seltsam. Die Uhr wirkte auch an ihrem Handgelenk sehr hübsch, obwohl das alte Stück definitiv keine Damenuhr war. War die Uhr nicht gestern noch etwas schwerer und klobiger gewesen? Prüfend bewegte Jennifer die Uhr hin und her und war fasziniert von den Reflexionen, die das Gold im Sonnenlicht durch die Küche wandern ließ.

Und als sie die Uhr so betrachtete, sah sie, dass der Sekundenzeiger sich bewegte. Sie hielt die Uhr verblüfft näher vor ihre Augen und dann an ihr Ohr. Tatsächlich. Die Uhr tickte. Da hatte der alte Verkäufer sie wohl angeschmiert! Schnell prüfte Jennifer die richtige Uhrzeit mit einem Blick auf die Digitalanzeige der Mikrowellenuhr und stellte die Golduhr auf die aktuelle Zeit ein. Perfekt!

Das laute Piepen des Eierkochers riss sie aus ihren Gedanken und sie kümmerte sich hastig um das Ei und den Kaffee und vertiefte sich dann in die Samstagszeitung. Irgendwie schaffte sie es, die Uhr zu vergessen. Sie fühlte sich auch nicht fremd an, sondern als ob sie sie schon immer getragen hätte.

Nach dem Frühstück war es eigentlich Zeit zum Mittagessen, doch das konnte man mit vollem Magen natürlich nicht in Erwägung ziehen. Stattdessen schlüpfte Jennifer in Jeans und Pulli, band sich nachlässig die langen, rötlichen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog die neuen, weißen Turnschuhe an.

Wochenendeinkauf stand an. Großartig zu schminken brauchte sie sich nicht. Sie wusste, dass ihr weißer Teint mit den Sommersprossen keine Hautunreinheiten aufwies und die blauen Augen einen interessanten Kontrast dazu bildeten.

Wimpern und Augenbrauen waren selbstverständlich beim Friseur schwarz gefärbt worden, sodass sie sich auch umständliches Hantieren mit Mascara sparen konnte. Schnell noch eine Katzenwäsche und kurz die Zähne geputzt, dann brauchte sie nur noch ihre Shoppingtasche und den Hausschlüssel zu greifen und es konnte losgehen.

Die kleine Apartmentwohnung lag in Zentrumsnähe, sodass sie kein Auto für den Einkauf brauchte. Dafür konnte sie aber auch keine größeren Dinge einkaufen, die sie später in zentnerschweren Tüten ein Kilometer weit tragen musste.

Es gab immer ein Für und Wider. Aber zum Glück benötigte sie nur ein wenig Brot und Obst und zwei Fertiggerichte – an ihr war wohl keine große Köchin verloren gegangen, dachte sie grinsend, als sie sich im Supermarkt durch das entsprechende Regal wühlte.

Wieder zu Hause fühlte sie sich irgendwie schlapp. Ob sie sich etwas eingefangen hatte? Sie konnte sich zumindest nicht erinnern, dass einer ihrer Freunde gerade eine Grippe mit sich herumschleppte, also war sie wohl einfach ein wenig ausgepowert. Doch es war Wochenende, da konnte sie alles ein wenig gemütlicher angehen lassen.

Gesagt, getan. Die wenigen Einkäufe waren rasch versorgt und Jennifer konnte sich auf den bequemen Ledersessel im Wohnzimmer fallen lassen, der direkt gegenüber dem Fernseher stand. Samstag nachmittags kamen immer gute Sitcoms auf PRO7, es konnte sicher nicht schaden, da einmal kurz reinzuschauen.

Sie drückte die Fernbedienung. Nein, PRO7 war bei ihr nicht auf der 7, schmunzelte sie und lehnte sich zurück. Sie fühlte sich jetzt herrlich entspannt, auch wenn ihr ein wenig unwohl war. Doch es war nicht so schlimm, und sie freute sich über ihre Lieblingssendungen. Fröhlich lachte sie an den pointierten Stellen mit, während der Nachmittag wie im Fluge vorüberging.

Irgendwann warf sie einen Blick auf die Wohnzimmeruhr und erschrak. Da hatte sie doch tatsächlich bis um 18.00 Uhr vor dem Fernseher gesessen! Dabei hätten sie noch bügeln müssen und Wäsche waschen. Gestaubsaugt hatte sie auch noch nicht und das dreckige Geschirr stapelte sich schon recht wackelig im kleinen Spülbecken. Puuuuh. Sie hatte einfach keine Lust, sich damit zu beschäftigen.

»Na und?«, sagte sie zu sich selbst. »Wen interessiert es schon, was ich mache? Es ist Samstag und ich darf hier sitzen, solange ich will!« Da klingelte das Telefon und sie stand nur unwillig auf, um sich das schnurlose Gerät wieder mit zum Sessel zu nehmen.

Aha, es war ihr Bruder, der noch mal wissen wollte, wann man sich bei Opa zum Geburtstag einzufinden hatte. »Komm so um 15.00 Uhr, das passt dann schon!«, meinte Jennifer lässig. »Die ganzen Kaffeekränzchen fangen sowieso nie pünktlich an, du kommst also auf keinen Fall zu spät!«

Sie unterhielten sich noch über dieses und jenes, da sich die Geschwister nicht besonders oft trafen, was aber auch keiner von beiden vermisste. Dafür waren sie einfach zu verschieden. Ihr Bruder Ralf war ein quirliger Typ, ständig auf Achse als Fotograf und Vater von drei kleinen Jungs, die Jennifer heimlich Tick, Trick und Track nannte in Anlehnung an die Neffen von Donald Duck.

Ihr Bruder konnte mittlerweile nicht mehr darüber lachen. Außerdem wohnte er gut 200 Kilometer entfernt und sie hatten auch nicht wirklich das Bedürfnis, sich häufig zu sehen.

Jennifer war der ruhige Typ. Sie wollte tagsüber entspannen und abends auf Achse gehen oder sich mit ihren Computerspielen vergnügen. Immerhin verstanden sie sich aber gut genug, um sich mindestens eine Stunde miteinander am Telefon zu unterhalten und sich gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen.

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100 S.
ISBN:
9783754141205
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Bookwire
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