Gebrochene Flügel

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Gebrochene Flügel
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Daniela Hochstein

Gebrochene Flügel

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Zwischenspiel

Kapitel 2

Zwischenspiel

Kapitel 3

Zwischenspiel

Kapitel 4

Zwischenspiel

Kapitel 5

Zwischenspiel

Kapitel 6

Zwischenspiel

Kapitel 7

Zwischenspiel

Kapitel 8

Zwischenspiel

Kapitel 9

Zwischenspiel

Kapitel 10

Zwischenspiel

Kapitel 11

Zwischenspiel

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Zwischenspiel

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Zum Abschluss

Impressum neobooks

Prolog

Gebrochene Flügel

von

Daniela Hochstein

Für Marco:

Die Drachen erhoben sich, breiteten ihre Flügel aus, warfen sich dem Wind entgegen und glitten auf seinen stürmischen Wogen, geschmeidig wie Delphine. Böe um Böe peitschte ihren Flug, hob sie in die Höhe, drückte sie in die Tiefe. Doch es war ein Spiel für sie, das sie zum Lachen brachte.

Solange bis der Wind genug hatte, bis er wütend wurde und zu mächtigen Schlägen ausholte. Der Spaß verging ihnen bald und einer nach dem anderen zog sich zurück. Eisiger Regen stach in ihre Augen, machte sie beinahe blind, sodass sie glücklich waren, als sie auf dem sicheren Boden landeten, und von dort aus erleichtert dem Sturm entgegen spotteten.

Bloß einer von ihnen landete nicht. Die anderen riefen ihm zu, warnten ihn, doch er lachte bloß. Er, der König der Lüfte. Er, dessen Kraft noch kein Wind gebrochen hatte. Er, dessen Flügel die Prächtigsten waren, die ein Drache je besessen hatte. Er würde dem Wind trotzen, ihn nicht feige von der Erde aus verspotten, sondern von hier oben, inmitten der zornigen Wolken, die nach ihm schlugen und kratzten.

Doch er hatte sich verschätzt.

Kapitel 1

Sarah hatte von Anfang an kein gutes Gefühl gehabt. Und daran war nicht bloß ihr Bruder Tobias Schuld, der viel zu spät mit Mutters Auto zurückgekommen war und nun viel zu schnell über die Landstraße Richtung Stadt raste. Nein, auch die schwarzen Wolken, die sich bedrohlich an dem Abendhimmel auftürmten, sowie der Regen, der mit tausend nassen Fingern auf die Windschutzscheibe trommelte und selbst der höchsten Geschwindigkeitsstufe des Scheibenwischers nichts als Verachtung entgegenbrachte, säte eine finstere Ahnung in ihre Brust.

Trotzig nahm sie einen tiefen Atemzug, denn eigentlich wollte sie sich freuen, war sie doch auf dem Weg zu ihrem ersten Blind Date in ihrem Leben. Zero. So zumindest hieß er in seinen E-Mails, die er ihr schrieb.

Der Zufall hatte sie zusammengeführt. Oder besser: Eine gemeinsame Leidenschaft und die Erfindung des Internets, das erst vor wenigen Jahren seinen Weg in die privaten Haushalte gefunden hatte, bereit, der Gesellschaft eine neue Welt zu eröffnen. Sarah hatte diese Errungenschaft sogleich genutzt, um endlich ihre selbst verfassten Geschichten mit Gleichgesinnten zu teilen. Menschen, die sie in ihrem alltäglichen Umfeld stets so vermisst hatte. Und so war sie auf Zero gestoßen. Sie mochte seine Texte und er liebte ihre, obgleich sie sich so sehr unterschieden. Aber vielleicht war es auch genau das, was sie verband.

Bald schon hatten sie sich E-Mails geschickt und als sie darin zufällig entdeckten, dass sie in der gleichen Stadt lebten, war der Beschluss schnell gefasst, sich auch persönlich zu treffen.

Sarah wusste nicht viel über Zero. Allein seine Texte kannte sie und sein ungefähres Alter. Das aber war auch schon alles. Nicht einmal seinen richtigen Namen hätte sie nennen können, und wie er aussah, konnte sie sich anhand seiner Beschreibung nur ungefähr vorstellen. Aber genau das machte es so reizvoll, so spannend, so aufregend, dass sie nun mit kalten, feuchten Händen neben Tobias auf dem Beifahrersitz saß und mit klopfendem Herz aus dem Fenster starrte, bemüht, gegen ihr inneres Zittern und diese seltsam unheilvolle Ahnung anzukämpfen.

„Siehst du, Sarah, dort vorne ist schon die Stadt. In fünf Minuten sind wir da und du bist nahezu pünktlich.“ Tobias warf Sarah ein schräges Lächeln zu. Ein für ihn typisches Lächeln. Eines, über das sie sich schon so oft geärgert hatte, weil es bloß seine Fehler überdecken sollte und in diesem Fall seine Unzuverlässigkeit. Nahezu pünktlich. So nannte er also zwanzig Minuten Verspätung. Was, wenn Zero nicht so lange warten wollte? Was, wenn er bereits wieder gegangen war? Hätte sie zwanzig Minuten auf ihr Date gewartet?

Sarah verzichtete auf eine Antwort und weil Tobias seine Schwester kannte, trat er noch ein wenig fester auf das Gaspedal. Sarah versah ihn daraufhin mit einem kritischen Blick, doch bevor sie zu einem Protest anhob, schaute sie auf die Uhr und entschied sich zu schweigen.

Sie waren gute zwanzig km/h zu schnell, als sie die Stadtgrenze passierten. Wie ein Wasserfall prasselte der Regen auf die Scheiben und verwandelte die Welt in ein Zerrbild aus Schatten und bunten Lichtern. Sarah sah das gezackte Grün einer Ampel auf sie zufliegen, das sich viel zu früh in ein Orange verwandelte, und während Tobias das Gas der Bremse vorzog, drückte sie instinktiv ihren rechten Fuß auf den Boden; als könne sie damit das Unheil aufhalten, das sich vor ihnen anbahnte, obgleich es noch keiner von ihnen wissen konnte.

Erst als Tobias die Ampel bei rot überfahren hatte, nahm er seine Geschwindigkeit zurück und bog rechts ab, wobei Sarah sich an den Türgriff klammerte, um der Fliehkraft zu widerstehen. Und da plötzlich tauchte er auf, aus dem Nichts voll Nacht und Regen. Ein geisterhafter Schatten im Augenwinkel, der sich dann jedoch in eine Regenjacke mit Reflektorstreifen verwandelte. Grell warfen sie das Scheinwerferlicht zurück, auf dass es sich in den Regentropfen auf der Scheibe brach und in tausend Splitter zerbarst. Mit einem lauten Fluch stieg Tobias auf die Bremse, die Reifen quietschten, das Auto rutschte über den nassen Asphalt, während Sarah bloß bleich vor Schreck dasaß, die Hände mit aller Kraft gegen das Handschuhfach gestemmt, und in die aufgerissenen Augen des Radfahrers starrte, der unfähig war, dem unvermeidlichen Aufprall zu entgehen.

Es folgte der Knall, Metall auf Metall, das Rumpeln eines Körpers. Er schlug auf die Motorhaube auf, rollte darüber, glitt seitlich ab und blieb schließlich neben dem Wagen liegen, welcher endlich ebenfalls zum Stehen gekommen war.

 

Dann war es still. Erschreckend still. Die Straße war wie ausgestorben, das Bürogebäude und der Supermarkt um diese Uhrzeit ohne Leben, als hätte sich die ganze Welt soeben von diesem Ort abgewandt, um nicht Zeuge jenes Geschehens sein zu müssen. Der Motor des Wagens war verstummt und bloß der Regen hämmerte noch wütend auf das Blech.

Sarah hatte zuletzt schützend einen Arm vor das Gesicht gehoben und nahm ihn erst jetzt langsam wieder herunter. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, was geschehen war und als sie ihren Bruder von der Seite ansah, blickte er einfach geradeaus, seine Augen leer, die Hände um das Lenkrad gekrallt, als könne es ihm den Halt geben, den er soeben zu verlieren drohte.

Schließlich besann Sarah sich der Situation, riss die Tür auf, sprang aus dem Auto und lief um die Motorhaube herum, bloß um dann wie versteinert stehen zu bleiben und auf den leblosen Körper eines Mannes zu starren, der unmittelbar vor ihr lag. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er lag auf dem Bauch, das Gesicht abgewandt.

Ungerührt stürzte der Regen auf Sarah nieder, durchnässte ihr Haar, ihre Jacke, ihre Schuhe, drang bis auf ihre Haut. Sie hätte frieren müssen, doch ihr war heiß. Viel zu heiß. Ihr Herz raste. Ihre Gedanken rasten und kamen doch zu keinem sinnvollen Ziel.

Lebte der Mann noch? Oder hatten sie ihn umgebracht?

Sarah versuchte zu erkennen, ob der Brustkorb sich bewegte, doch es war zu dunkel und sie wagte es nicht, sich dem Mann zu nähern. Gleichzeitig aber schalt sie sich deswegen. Sie wollte in dreieinhalb Monaten mit dem Medizinstudium beginnen, schoss es ihr durch den Kopf. Dann musste sie doch in solchen Situationen zu handeln in der Lage sein und durfte nicht tatenlos herumstehen.

Unwillig schüttelte sie den Kopf, als erwache sie gerade aus einem seltsamen Traum. Rasch drehte sie sich um, eilte zur Fahrertür, öffnete sie und lugte hinein. Tobias saß noch immer da, bloß dass er diesmal ihren Blick erwiderte. Stumm, mit dem schieren Entsetzen auf seinen Zügen.

„Tobias, hast du dein Handy dabei?“ Tobias gehörte zu den Ersten in Sarahs Umfeld, die ein Handy besaßen. Natürlich! Sie hatte ihn immer deswegen belächelt und ihn damit aufgezogen, wozu gerade er das denn bräuchte. Er sei viel zu unwichtig, um immer erreichbar sein zu müssen... Doch nun war sie dankbar dafür. Unendlich dankbar.

Tobias nickte, blieb aber weiter reglos.

„Na, dann gib es mir!“, forderte sie ihn ungeduldig auf. „Wir müssen einen Krankenwagen holen!“

Wie ein Automat griff Tobias in seine Jackentasche, zog das klobige Handy heraus und reichte es Sarah. Sie schnappte es sich und tippte mit zittrigen Fingern die Notrufnummer ein.

Als gefühlte Stunden später das Blaulicht am Ende der Straße auftauchte, fiel Sarah eine drückende Last von der Seele. Sie konnte im Nachhinein gar nicht genau sagen, was sie in der Zwischenzeit gemacht hatte; bloß, dass ihr die Zeit quälend lang erschienen war und sie sich derweil irgendwie dazu durchgerungen hatte, ihrem Pflichtgefühl zu gehorchen, zu dem Mann zu gehen und ihn anzusprechen.

Er war jung, das konnte sie aus der Nähe erkennen. Nicht viel älter als sie selbst, was ihr einen schmerzhaften Stich versetzte. Doch er reagierte nicht auf ihre Ansprache. Die Augen hatte er geschlossen. Zum Glück, dachte Sarah. Wären sie offen gewesen und der Tod hätte sie womöglich daraus angestiert, es hätte sie wohl ihren ganzen Lebtag verfolgt. Aber der Mann war nicht tot, wie sie ebenfalls feststellte, denn er atmete.

Zwischenspiel

Der Drache besaß Mut. Mut, genährt aus dem goldenen Feuer, das in ihm brannte, heiß, voll Kraft und Leidenschaft, strahlender als die Sonne selbst. Der Funke all dessen aber lag in seiner Brust, geborgen in einem Herzen aus Glas. Bunt war es, bunt wie der Regenbogen, stark gegen die Hitze, und doch zerbrechlich.

Als der Sturm zu seinem entscheidenden Schlag gegen den jungen Drachen ausholte, war ihm dessen Herz gleichgültig, wie dem Zufall das Schicksal gleichgültig ist. Ohne Mitleid zerriss er dem Drachen die Flügel, brach sie, und sah zu, wie dieser haltlos der Erde entgegen stürzte.

Kapitel 2

Marco wollte seine Augen aufschlagen, aber sie weigerten sich. Schwer wie Blei lagen sie auf seinen Augäpfeln und es kostete ihn wirklich Kraft, sie zu heben. Daher wartete er noch einen langen, müden Moment, um es dann abermals zu probieren. Diesmal gelang es ihm und ein verschwommenes Spektrum aus kalkweißem Licht und schwarzen Schatten erklärte ihm, dass er nicht zu Hause war, wie er zunächst gehofft hatte.

Er ließ die Lider wieder sinken, tat einen tiefen Atemzug, als könne dieser ihm helfen, seine Gedanken zu klären, und versuchte mühsam, seine Erinnerung zu sortieren. Ein dumpfes Pochen in seinem Schädel hielt ihn allerdings davon ab, weiter in die Tiefe vorzudringen; und hatte er einmal einen Bilderfetzen vor Augen, so zerstob er alsbald wieder in dem grauen Nebel des Vergessens.

So wurde ihm die Frage, wo er sich wohl gerade befinden mochte, letztlich von dem beißenden Geruch nach Desinfektionsmitteln beantwortet. Ein Geruch, den er noch gut aus seinem Zivildienst im Krankenhaus kannte. Allerdings lag diese Zeit nun schon über drei Jahre zurück und diesmal, soviel war ihm klar, befand er sich auf der anderen Seite der Krankenhausgesellschaft. Auf der Seite der Patienten.

Wie der Sand durch den engen Hals einer Sanduhr, rieselte diese Erkenntnis langsam in Marcos Bewusstsein, häufte sich dort auf, wog schwerer und schwerer und brachte die Waage der Ungewissheit schließlich ins Wanken. Krankenhaus, hallte es in seinem Kopf. Krankenhaus... Und plötzlich war das Bild wieder da. Scheinwerfer, ein Auto, das unaufhaltsam auf ihn zukam, ein kurzer, elektrisierender Schmerz, wahnsinnig, und dann bloß noch Dunkelheit.

Marco riss die Augen auf und dieses Mal bereitete es ihm keine Mühe mehr. Sein Herz raste. Die Luft, die er atmen wollte, reichte nicht und er geriet in Panik. Er wollte sich aufrichten, doch sein Körper verweigerte sich ihm. Es schien, als sei er in Watte gepackt und weit, weit von seinem Willen entfernt. Er wollte rufen, brachte jedoch bloß ein Flüstern zu Stande und selbst das erforderte eine ungeheure Anstrengung. Die Luft entwich seinen Lungen, doch sie kehrte nicht zurück und Marco fürchtete, ersticken zu müssen. Schwärze zog herauf und legte sich besänftigend über seine Sinne. Marco fühlte eine Hand, die sich auf seinen Oberarm legte, kam aber nicht mehr dazu, nach ihrem Besitzer zu schauen.

Toni konnte nur noch dabei zusehen, wie sein kleiner Bruder die Augen schloss. Die ganze Zeit hatte er neben Marcos Bett ausgeharrt, um bei ihm zu sein, wenn er erwachte. Zuletzt aber musste er eingenickt sein, sodass er im entscheidenden Moment zu spät reagierte. Hilflos strich er Marco nun durch das Haar, so wie damals, als Vater gestorben war und er ihn getröstet hatte; ihn, Marco, der noch zu klein gewesen war, um zu verstehen, was Siechtum und Tod eigentlich bedeutete, während er, Toni, mit seinen dreizehn Jahren die Rolle des Vaters übernahm, weil die Mutter zu tief in ihrer Trauer gefangen war. Inzwischen war Marco zwar erwachsen, aber die väterlichen Gefühle ihm gegenüber hatte Toni nie mehr ganz ablegen können, selbst wenn er sich bemühte, es Marco nicht spüren zu lassen, weil er wusste, dass es ihn ärgerte. Jetzt allerdings, jetzt, wo Marco bewusstlos und versehrt vor ihm lag, jetzt wogen diese Gefühle plötzlich wieder schwer wie Steine in seinem Herzen.

Die Ärzte hatten Toni erklärt, dass Marco unter Schmerz- und Beruhigungsmitteln stand, damit er den anfänglichen körperlichen Schock erst einmal überwinden konnte, ohne dabei auch noch mit seinen seelischen Nöten kämpfen zu müssen. Er würde noch früh genug erwachen und die Tragweite seiner Verletzung begreifen müssen. Bis dahin aber, so hatten sie Toni geraten, sollte er nach Hause gehen, um sich auszuschlafen.

Doch er blieb. Seit zwei Tagen lebte er nun schon hier in der Klinik an der Seite seines Bruders, verschwand bloß kurz, um sich zu Hause frisch zu machen, und schlief nachts in einem Bett, das die Schwestern ihm großzügiger Weise in das Krankenzimmer geschoben hatten, obwohl das auf der Intensivstation nicht erlaubt war. Aber glücklicherweise wurden hier viele Augen zugedrückt und Toni war dankbar dafür.

Mittlerweile war die Dosis der Medikamente gesenkt worden und Marcos Schlaf wurde bereits unruhiger, sodass Toni nun erst recht nicht von seinem Bett weichen wollte. Sicher, man hatte ihm gesagt, dass sein Bruder ja nicht im Sterben lag und es ihm als dreiundzwanzigjährigen Mann durchaus zuzumuten war, alleine aufzuwachen. Er sei hier in guten Händen und Toni würde sofort informiert werden, wenn es soweit war. Aber für Toni kam das nicht in Frage. Marco würde ihn brauchen und nicht zuletzt gab es noch einen weiteren Grund, bei ihm zu bleiben.

Der Grund war ihre Mutter, die mit der Situation vollkommen überfordert war. Vaters überraschend früher Schlaganfall damals und die darauf folgenden Jahre der Pflege hatten ihre Kraft bereits weitestgehend aufgezehrt, und Marcos Unfall raubte ihr nun den letzten, kläglichen Rest.

Als sie von dem Unfall erfuhr, hatte sie alles stehen und liegen gelassen und war gemeinsam mit Toni ins Krankenhaus geeilt, bloß um ihren Sohn dort bewusstlos im Bett liegen zu sehen und neben ihm zusammenzubrechen. Sie weinte, klagte, fragte voller Verzweiflung nach dem Warum, strich mit zittriger Hand über Marcos Haar, über seine Wange und war nicht mehr zu beruhigen. Toni hatte Mühe, sie von Marcos Bett zu lösen und aus dem Zimmer zu ziehen, damit sie sich draußen wieder fangen konnte. Er brachte sie nach Hause, blieb noch lange bei ihr und versuchte sie zu trösten, hörte ihren Klagen zu und sah, wie die Tränen irgendwann versiegten, ihre Stimme immer leiser wurde, bis sie schließlich einem Schweigen wich und einer eigenartig schwelenden Wut die Oberhand überließ.

Fast gewann Toni den Eindruck, seine Mutter fühle sich durch Marcos Unfall persönlich gekränkt und nehme ihm übel, dass nun er ihr so großen Kummer bereitete. Dementsprechend sah Toni es als seine Aufgabe, seine Mutter so viel wie möglich zu entlasten, und dazu gehörte, dass er neben Marco wachte, damit sie nicht das Gefühl hatte, es selber tun zu müssen; und – das begriff Toni allerdings erst ein wenig später - damit sie nicht täglich Zeuge werden musste, wie ihr Sohn von einem jungen, sportlichen Mann zu einem unselbständigen Häuflein Elend ohne die geringste Privatsphäre degradiert wurde. Von dieser Tatsache aber wurde auch Toni kalt überrascht, sodass er daraufhin stets die Flucht ergriff, wenn das Pflegepersonal herannahte, und erleichtert darüber war, dass Marco noch nicht viel von all dem mitbekam.

Nachdem Toni eingesehen hatte, dass Marco erst einmal wieder in sein Dämmertal zurückgekehrt war, löste er sich seufzend von dem Bett und nahm seinen Stammplatz auf dem Besuchersessel ein. Er griff sich die Gerichtsunterlagen, um sie für den kommenden Dienstag ein weiteres Mal durchzugehen, wobei er sich kaum darauf konzentrieren konnte und sich ernsthaft fragte, wie er diesen Termin für die Kanzlei wahrnehmen sollte. Aber es blieben ihm ja noch zwei Tage bis dahin. Und so war er zumindest ein wenig beschäftigt.

Diesmal waren es nur wenige Stunden, die Marco schlief, obgleich er das natürlich nicht wusste. Ihm kam es vor, als tauche er nach Jahren aus einem zähflüssigen See voll verwirrender Bilder auf und sehe endlich wieder etwas, das konkret und fassbar war. Die Watte hatte sich aus seinem Kopf und Körper zurückgezogen und Marco nutzte die Klarheit, um dort noch einmal anzusetzen, wo er zuletzt das Bewusstsein verloren hatte.

Er sog den Atem ein und war erleichtert, dass es ihm nun problemlos gelang. Dann wandte er den Kopf zu jener Seite, wo er das letzte Mal die Hand an seinem Arm gespürt hatte, und fand Toni auf dem Sessel, vertieft in sein Skript. Er wollte ihn ansprechen, doch lenkte ihn plötzlich etwas davon ab. Es war der banale Wunsch, sein linkes Bein anzuziehen, um sich damit abzustoßen und ein wenig auf die Seite kippen zu lassen, sodass er Toni besser hätte sehen können.

Der Gedanke war da, aber das Bein nicht.

Eiskalte Panik zuckte durch Marcos Brust. Unvermittelt begann sein Herz wie wild gegen die Rippen zu schlagen, wieder drohte der Atem ihm die Luft zu versagen. Verzweifelt versuchte Marco, sein Bein zu bewegen. Erst das eine, dann das andere, doch da war nichts. Sein Wille versickerte ungehört.

 

Das kann doch nicht sein!, dachte er. Da muss doch etwas passieren! Immer wieder sandte er seinen Wunsch aus, erst konzentriert, dann hektisch und zuletzt rasend vor Angst. Doch er kam nicht an.

„Toni“, stieß er aus, als gelte es, nach einem rettenden Anker zu greifen, bevor er in den Untiefen der Furcht ertrank, und Toni reagierte sofort. Erschrocken warf er seine Unterlagen beiseite, sprang auf und eilte zu seinem Bruder.

„Hey Marco, wie geht es dir?“, fragte er reflexartig, bereute diese Frage allerdings im gleichen Moment, konnte er doch eindeutig die nackte Angst in Marcos Augen erkennen.

„Toni, wo sind meine Beine? Ich kann sie nicht fühlen. Sind sie... haben sie sie...“

„Sie sind da, wo sie immer waren, Marco. Keine Angst, sie sind da!“ Toni griff nach Marcos Hand, die bis dahin nervös über die Bettdecke getastet hatte, und hielt sie fest. Im Gegenzug hob Marco mühsam den Kopf, um einen Blick Richtung Füße zu werfen. Doch sie waren zugedeckt und die zwei sanften Hügel, unter denen sie zu erahnen waren, schienen ihn nicht zu beruhigen.

„Aber ich kann sie nicht fühlen! Warum kann ich sie nicht fühlen, Toni? Was ist denn mit mir passiert?“ Hastig zog Marco seine Hand aus Tonis Griff, um erneut nach seinen Beinen zu tasten. Schließlich packte er seine Decke und riss sie hoch, um darunter zu schauen. Toni sah, wie er versuchte, sich aufzurichten, aber es wollte ihm nicht gelingen. Behutsam legte er seine Hand auf Marcos Schulter und drückte ihn zurück auf das Bett. Marco wollte Widerstand leisten, bot seine ganze Kraft auf, doch er war zu schwach. Flehend sah er Toni ins Gesicht.

„Ich will sie sehen, Toni. Ich will meine Beine sehen! Sofort!“

„Marco, beruhige dich“, redete Toni mit gesenkter Stimme auf ihn ein, ohne ihn dabei loszulassen, und Marco kam sich vor, wie ein kleines Kind, das man nicht ernst nahm.

Unwirsch fegte er Tonis Hand von seiner Schulter.

„Lass mich los, Toni! Sag mir doch endlich, was passiert ist! Ich will einen Arzt sprechen. Ich will wissen, wann das aufhört. Wann kann ich sie wieder spüren?“

Marco fühlte Zorn in sich aufsteigen. Panischen Zorn, gepaart mit einer Ahnung, der er ganz und gar nicht weiter folgen wollte. Er fühlte sich plötzlich wie ein verwundetes Tier, das in die Ecke gedrängt wurde. Jede Berührung seines Bruders löste den unbändigen Impuls in ihm aus, danach zu schlagen und ihn anzuschreien, als könne es ihm irgendwie helfen, sich aus der Gefangenschaft zu befreien, in die sein Körper ihn gerade zwang. Seine Lungen bebten, sodass sein Atem zitterte, und sein Herz raste, als wolle es ihm den Brustkorb sprengen.

Was wäre, wenn er seine Beine nie wieder fühlen können würde? Was wäre dann? Konnte ihm etwas Derartiges widerfahren? Nein!, schrie es in Marco. Nein, das ist nicht möglich! Nicht bei ihm! Bei den anderen, aber doch nicht bei ihm!

Marco zog weiter an seiner Decke. Er hatte das Gefühl, seine Beine hätten sich bewegt. Ein Zucken vielleicht. Ganz bestimmt! Er wollte es sehen, wollte die Bestätigung, dass sie da waren und dass sie sich bewegten, wenn er das wollte. Er würde sie bewegen können, ganz sicher, wenn er sie nur dabei sehen konnte. Dann würde es klappen!

Tränen verschleierten seinen Blick, während er unermüdlich die Decke fortzuziehen versuchte.

„Marco...“, brach schließlich Tonis Stimme in Marcos Verzweiflung, begleitet von seiner Hand, die er seinem kleinen Bruder auf den rechten Unterarm legte, um ihn endlich zu stoppen.

Mit erregt auf- und absteigender Brust hielt Marco inne und sah Toni in die Augen.

„Marco, du hattest einen Unfall. Ein Auto hat dich angefahren. Dabei hast du dir... Du hast dir die Wirbelsäule gebrochen...“

Marco blieb stumm, sein Blick bloß starr auf Toni gerichtet.

„Die Ärzte sagen, dass du... Naja, dass das Rückenmark verletzt ist.“

Toni spürte plötzlich eine Trockenheit in seinem Mund, die ihm das Sprechen unmöglich machte. Er konnte es nicht. Er konnte seinem Bruder einfach nicht sagen, dass die Ärzte jegliche Hoffnung auf Genesung ausgeschlossen hatten. Er konnte ihm nicht sagen, dass er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen würde.

Aber er musste es auch nicht, denn Marco nickte bloß. Beinahe schien es, als ginge ihn diese Information auf einmal gar nichts mehr an. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte einfach ins Leere.

Marco fiel. Er stürzte rücklings in einen gähnenden, schwarzen Abgrund, in den Tonis Worte ihn soeben gestoßen hatten, haltlos, mit einem Schlag seines ganzen Lebens beraubt. Er war einfach entkoppelt, unfähig, seine Gedanken mit seinem Körper zu verbinden, reglos, sprachlos.

Rückenmark verletzt... Marco kannte das andere Wort dafür: Gelähmt...! Das sollte es nun sein? Das sollte er nun sein? Von einem Tag auf den anderen? Einfach so? Mal eben zum Krüppel geworden?

Übelkeit kroch ihm die Kehle hinauf und es kostete ihn Mühe, sie wieder herunter zu schlucken, weil die Zunge an seinem Gaumen festklebte.

Marco versuchte immer wieder, diese Information zu begreifen, sie mit dem Nichts unterhalb seines Bauches zu verbinden, aber er vermochte es nicht. Es war unmöglich! Nein, so einfach konnte das nicht sein! Vor wenigen Tagen war er doch noch gelaufen. Er wusste genau, wie sich das anfühlte, so einfach, so normal, so gewöhnlich. Es war schlicht weg absurd, dass er das nun nicht mehr können sollte!

Plötzlich war Marco überzeugt, ja ganz sicher, dass dieses Horrorszenario bald vorbei sein würde. Hab Geduld, sagte er sich, in ein paar Wochen wirst du hier rausgehen und es als die furchtbarste Erinnerung deines Lebens abhaken. Marco wusste, dass es so kommen würde. Anders konnte es gar nicht sein, gleich, was die Ärzte sagen würden. Ganz gleich. Sie kannten Marco nicht. Doch er, Marco, er wusste, dass er bald wieder laufen würde.

Er nahm einen tiefen Atemzug und wandte sich wieder Toni zu. Müde sah sein Bruder aus. Erschöpft. Und in seinen Augen stand Mitleid. Marco fluchte innerlich, denn das Mitleid galt unmissverständlich ihm. Mitleid... Wie er diesen Ausdruck auf einmal hasste! Er hasste ihn, weil er ihm das Gefühl gab, sein Leben sei plötzlich nichts mehr wert, das Gefühl, als sei das Urteil nun endgültig, ein Gefühl, dass ihm jede Hoffnung zu rauben drohte. Seine kleine, mühsam an sich gerissene, mit aller Kraft festgehaltene Hoffnung.

Marco wollte nicht, dass Toni ihn so ansah! Er ertrug es nicht.

„Du siehst aus, als könntest du Schlaf gebrauchen“, sagte er schließlich, bemüht, nach außen die Fassung zu wahren, und stellte erleichtert fest, dass er mit diesen Worten soeben Tonis Mitleid in Überraschung verwandelt hatte. Ein flüchtiges Lächeln glitt über Tonis Züge und er nickte.

„Warum gehst du nicht nach Hause und legst dich ins Bett?“

Toni schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Er wollte seine Hand ausstrecken, um Marco durch das Haar zu streichen, aber Marcos mahnender Blick hielt ihn zurück.

„Später“, antwortete er stattdessen.

„Nein, Toni, ich glaube, es täte dir gut, jetzt zu gehen.“

Irritiert blickte Toni auf seinen Bruder herunter, der plötzlich eine eigentümliche Entschlossenheit in seinen Zügen trug. Sollte dies etwa eine Aufforderung sein?

„Hilf mir nur noch kurz, die Decke beiseite zu nehmen, damit ich meine Beine endlich richtig sehen kann. Dann kannst du gehen.“

Konsterniert stand Toni da, während Marco sich wieder umständlich an seiner Decke zu schaffen machte. Schließlich griff er selbst danach, schlug sie zur Seite und half Marco, den Kopf anzuheben.

„Nein, ich will sitzen, Toni“, protestierte er, umklammerte Tonis Hand plötzlich ganz fest und wollte sich daran hochziehen, doch dieser hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück.

„Die Ärzte haben gesagt, du sollst noch für zwei Wochen flach liegen bleiben, bis die Wirbelsäule belastbar ist.“

Wütend ließ Marco Tonis Hand wieder los und funkelte ihn an.

„Du machst wohl immer nur, was man dir von oben vorschreibt, oder? Es ist mir egal, was die Ärzte sagen! Ich will jetzt sitzen!“

Toni bedachte seinen Bruder mit einem unnachgiebigen Blick und schüttelte den Kopf, sodass dieser gezwungen war, sich wohl oder übel mit der Entscheidung der Ärzte abzufinden.

Grimmig betrachtete Marco somit das, was er aus seiner bescheidenen Position heraus erkennen konnte und der Anblick tat ihm weh. Leblos lagen seine Beine da, das linke von oben bis unten in einen Gips gehüllt und das rechte mit einem Schaumstoffpolster um die Ferse versehen, um Druckstellen zu verhindern, wie er noch aus der Pflege während des Zivildienstes wusste. Allerdings hatten da die alten, bettlägerigen Patienten so etwas getragen...

Marcos Magen krampfte sich zu einem kalten Stein zusammen und er wollte einfach nicht glauben, was er sah. Oder vielmehr, er wollte nicht glauben, dass das, was er sah, seine Beine waren. Seine Beine... Abermals versuchte er, sie zu bewegen, so wie er es seit jeher getan hatte, so wie er es seit jeher kannte. Aber es tat sich nichts. Sein Befehl, sein sehnlichster Wunsch verpuffte in dem Vakuum seines gelähmten Köpers. Immer wieder sandte Marco den Impuls aus und hoffte inständig, er möge nun endlich sein Ziel erreichen. Er lauschte in sich hinein, auf der Suche nach einer Antwort, und sei sie noch so leise, doch es herrschte Stille. Bloß die Verzweiflung hallte zurück und nistete sich in Marcos Herzen ein. Mühsam schluckte er gegen den Knoten an, der ihm die Kehle zuschnürte, und versuchte, seine Gefühle nicht zu beachten, ihnen irgendwie zu entkommen. Sonst, so dachte er, würden sie ihn gleich wahnsinnig machen.

„Warum ist das linke Bein geschient?“, fragte er schließlich mechanisch und hörte, wie Toni scharf den Atem einsog. Alarmiert sah er zu seinem Bruder auf.

„Es war gebrochen“, erhielt er darauf zur Antwort, konnte aber einen Ton dabei mitschwingen hören, der noch etwas anderes erzählte.

„Okay...? Und?“

Toni wurde etwas fahrig in seinen Gesten.

„Schwere Trümmerfraktur ... so nannten die Ärzte es.“

Toni verschwieg, dass er die Ärzte nur mit Mühe davon hatte abhalten können, das Bein zu amputieren. Sie hatten es damit begründet, dass Marco es ohnehin nie wieder brauchen würde und der Bruch zu kompliziert war. Die Risiken einer weiteren Operation, die unweigerlich lange gedauert hätte, wollten sie Marco nicht zumuten. Zumal ihr Erfolg auch zweifelhaft war. Aber Toni hatte darauf bestanden. Er wusste, dass Marco es ihm nie verziehen hätte, wenn er nicht darum gekämpft hätte. Und er hatte recht damit gehabt.