Buch lesen: «Greisenkind»

Schriftart:

Greisenkind

Daniel Mylow

Roman

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www.net-verlag.de Erste Auflage 2020 © Text: Daniel Mylow © net-Verlag, 09125 Chemnitz © Coverbild: ursprüngliche Idee: Katharina Fritzsche Quelle: shutterstock Eigentum: Daniel Mylow Covergestaltung, Lektorat und Layout: net-Verlag ISBN 978-3-95720-270-3 eISBN 978-3-95720-324-3

Das Leben ist in der Tat ein

kostbares Geschenk,

doch ich habe oft das Gefühl,

der falsche Empfänger zu sein.

Ren Hang, 2015

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Über den Autor

1.

EMELIE IST TOT.

Auf dem Schreibtisch vor mir liegen ihre Tagebücher. Emelies Schrift erscheint mir wie ein taumelnder Flug über Hunderte von Seiten hinweg. Es ist die Schrift eines Menschen, der weiß, dass ihm nur noch sehr wenig Zeit bleibt.

Die weißen Blätter sind voller Flecken, Risse, Knicke. Auf vielen Seiten ist die Schrift zerlaufen. Sind die Blätter nass geworden? Hat sie geweint? Ich weiß nicht, was sie wirklich gedacht und gefühlt hat. Ich weiß auch nicht, wie sie sich ausgedrückt hätte. Was sie noch gesehen und erlebt hat, wenn sie gerade nicht in ihre Hefte geschrieben hat.

Vor mir liegt noch ein weiterer Umschlag. Er ist voller Fotografien. Emelie hat die Fotografie geliebt. Aber auf keinem dieser Bilder ist sie selbst zu sehen. Was kann ich schon anderes tun, als Leerstellen zu füllen? Als Emelie meine Stimme zu geben. Das ist alles, was ich tun kann. Alles, was ich in diesem unmöglichen Augenblick tun kann, ist, die Geschichte meiner Tochter zu erzählen.

Ben Reemdron, Reykjavik im April 2015

2.

Emelie

ICH MÖCHTE ÜBERALL sein. Ich möchte die Meere befahren, auf Friedhöfen spazieren gehen, Banken ausrauben, den Atlantik durchschwimmen, die höchsten Berge besteigen, unerforschte Arten entdecken, tanzen, zeichnen, Theaterstücke aufführen, die Hauptrolle in einem Kinofilm spielen, eine Familie gründen, Kinder haben. Ich möchte das älteste Lebewesen der Welt sehen und alle Tiere, die nur einen einzigen Tag leben, ich möchte mal auf einen Baum klettern, in einer Höhle übernachten, nachts am Strand sein, jeden Tag ins Kino gehen, Volksfeste besuchen, Liebhaber haben, alle Abenteuerbücher lesen und alle großen Philosophen. Ich möchte Dinge hören, die niemand anders hören kann; ich möchte mit den Steinen, Pflanzen, Tieren und Sternen reden können und alle ihre Gedanken in ein großes Buch übersetzen. Ich möchte einen Hund oder eine Katze nur für mich; ich möchte von einer Klippe ins Meer springen, in einer Wüstennacht die Sterne am Himmel zählen, einen Jungen so gernhaben, dass es in der Brust wehtut, wenn er nicht da ist. Ich möchte verliebt sein, ich möchte in einer großen Stadt leben und in einem kleinen Häuschen am Meer. Ich möchte mein richtiges Spiegelbild finden, eine Nacht auf dem Friedhof verbringen, nachts auf einer Landstraße fahren, und ich möchte, dass mein Vater zu mir zurückkehrt, und ich möchte meine Eltern immer bei mir haben.

Ich möchte viel länger leben, als ich darf. Ich würde gerne jemanden kennen, der das alles aufschreibt, was ich denke und was ich erlebe. Ich würde gerne wissen, wie es ist, alt zu werden. Und wie es sich anfühlt, sich Zeit dafür zu lassen. Zu spät.

Die Geschichte, die an meinem Grab erzählt wird, darf nichts mit mir zu tun haben. Es sollte eine Liebesgeschichte sein. Gerade, weil ich so wenig davon weiß. Wir wissen ja auch nie genau, wann wir verliebt sind. Aber wir wissen immer, wann es vorbei ist.

Mein Leben war genau so. Ja, eine Liebesgeschichte wäre wirklich schön. Auch wenn ich sie vielleicht gar nicht mehr hören würde. Wer weiß das schon.

Ich kenne nicht viele Liebesgeschichten. Vielleicht bin ich auch nicht alt genug geworden. Oder jemand erzählt die Geschichte von Fynn und mir. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob … Ich weiß nicht, ob das hier wirklich eine Liebesgeschichte ist. Es ist meine Geschichte.

Alle sehen mich an. Ich denke immer, dass mich alle ansehen. Dabei sitze ich fast ganz allein im Bus. Ich muss erwacht sein. Irgendwo im lärmenden Nichts meiner inneren Monologe. Die Nachtluft streift durch die gezackten Silhouetten der Wipfel, während der Bus Allee um Allee hinter sich lässt. Wie ein dunkler Schwarm von Faltern tauchen die Gegenstände aus dem Scheinwerferlicht und verschwinden wieder in den Nebelfetzen. Hell erleuchtete Schaufenster. Vorübereilende Nachtschatten. Ein durch die Kurve schlingernder Wagen ohne Licht.

Es ist bald Mitternacht. Mir wird klar, dass ich wieder einen Tag weniger zu leben habe. Das ist nicht gerade etwas, das mich von anderen Menschen unterscheidet. Aber es wird vermutlich nicht so viele Leute geben, die sich entschieden haben, an ihrem siebzehnten Geburtstag zu sterben.

Der Bus hält. Endstation. Der Busfahrer fragt, ob er mir helfen kann. Ich schüttele den Kopf.

Vorsichtig nehme ich die Stufen ins Freie. Den Koffer ziehe ich hinterher. Mondlicht fällt auf den Schnee. Der Wald hinter den Wohnsilos ist schwarz, der Himmel leer und kalt.

Zweifelnd denke ich, dass der Winter nicht gerade die ideale Jahreszeit ist, um von zu Hause fortzugehen. Aber man geht ja fort, wenn einem danach ist. Und nicht etwa, wenn das Wetter gerade schön ist.

Solveig wartet wie verabredet.

»Emelie!«, begrüßt sie mich.

Sie ist die Einzige, die »Emelie« auf der letzten Silbe betont. Mit einer Bewegung greift sie nach dem Koffer, mit der anderen nimmt sie mich an die Hand.

Solveig hat mich beim Kinderarzt kennengelernt. Da ist sie als Arzthelferin beschäftigt. Das ist jetzt mehr als zwölf Jahre her. Sie weiß alles über meine Krankheit. Der Arzt war damals ratlos. Die eigentliche Diagnose stammt von ihr.

Sie sieht mich an. Ihr Blick zeigte vom ersten Moment an keine Abscheu. Kein Entsetzen. Nicht einmal Verwunderung.

In dieser Nacht lässt mich Solveig in ihrem großen Bett schlafen. Vorher zeigt sie mir, dass der Himmel nicht leer ist. Wir löschen das Licht.

Ich sehe durch das riesige Teleskop auf ihrem Vorstadtbalkon. Die Kälte hat den Nebel aufgesogen. Ich blicke in eine klare Februarnacht. Es ist das Jahr 2016. Am Südhimmel zeigt sie mir das große Wintersechseck um den Himmelsjäger Orion. Sie sagt mir, wie ich den drei Gürtelsternen nach links unten folge. So träfe ich auf den Großen Hund mit dem hell funkelnden Sirius.

Ich lausche ihren leisen, fast geflüsterten Anweisungen. In der Gegenrichtung nach rechts oben erreiche ich den Stier mit dem rötlichen Aldebaran. Noch ein Stück weiter trifft mein Blick auf die Plejaden. Hoch im Osten leuchtet Jupiter. Im Nordosten balanciert der Große Wagen jetzt auf der Deichselspitze. Es ist so schön, dass ich nichts sagen kann. Auch weil es spät ist, reden wir nicht mehr. Solveig sagt sowieso, ich solle nicht nur reden. Reden sei wichtig. Aber noch wichtiger wäre es, alles aufzuschreiben.

Ich frage sie nicht, für wen das wichtig sei. Am liebsten würde ich die Zeit mit ihr so verbringen, dass ich bei dem Gedanken daran nicht darauf käme, dass überhaupt Zeit vergangen ist.

Als ich am nächsten Morgen erwache, sitzt sie bereits bei mir. An ihrem Blick sehe ich, dass sie schon lange dort wartet. Sie erzählt mir, was ich ihrer Meinung nach für die bevorstehende Reise alles wissen muss.

»Solveig«, sage ich. »Ich bin doch nur drei Tage fort«. Das ist nicht die Wahrheit. Trotzdem kann ich sie ansehen, ohne dabei rot zu werden.

»Aber du bist erst sechzehn«, entgegnet sie.

»Schon sechzehn«, korrigiere ich.

»Du hast recht«, sagt sie.

Einen Augenblick lang ist es ganz still. Wir sehen uns an und wissen beide nicht, ob wir lachen oder weinen sollen. Wir entscheiden uns für das Lachen.

Solveigs Lachen ist hell. Es klingt nach den Windspielen, die mein Vater überall in unserem kleinen Schrebergarten in den Zweigen angebracht hatte, als ich ganz klein war. Mein Vater hat uns verlassen. Die Windspielzeuge sind geblieben. Und es klingt nach einem bestimmten Wind, der manchmal an einem Frühlingstag durch die Wipfel der Bäume streicht.

Bei uns in Deutschland tragen die Winde keine Namen. Das ist schade, denn sonst hätte Solveigs Lachen jetzt einen Namen.

»Wirst du deine Medikamente nehmen?«

Ich nicke. Der Tag ist noch nicht alt und das ist jetzt bereits die zweite Lüge.

»Du hast noch Zeit. Ruh dich aus«, sagt Solveig. Zwei Minuten später bringt sie mir doch das Telefon. »Deine Mutter«, flüstert sie verschwörerisch.

Ich stelle mein Hörgerät lauter. Es ist das letzte Mal, dass ich mit meiner Mutter spreche. Sie kann es nicht wissen. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Ich setze mich auf.

Angestrengt sehe ich aus dem Fenster. Solveigs Wohnung liegt im achten Stock. Ohne Aufzug würde ich das nicht mehr schaffen. Der frühe Tag hat ein perlmuttfarbenes Licht angenommen. Heute erscheint mir der Blick über die Stadt, als ob man auf eine Leinwand sehen würde. Das Licht trifft Häuser und Straßen nicht von außen, sondern leuchtet aus deren Tiefe. So, wie auf einer Fotografie.

Ich greife zu meiner Kladde. Mit zitterndem Stift schreibe ich auf, was ich bis hierher für meine Geschichte halte. Doch wozu? Meine Mutter hat mal gesagt, an der Vergangenheit hängt nur, wer keinen Mut für die eigene Zukunft hat.

Ich weine lautlos.

Am Tag meiner Geburt, am 11. August 1999, hörten plötzlich, mitten am Tag, die Vögel auf zu zwitschern. Die Blumen schlossen ihre Kelche. Ein kühler Wind wehte über das Land. Es herrschte augenblicklich finstere Nacht. An diesem Tag verfinsterte der Mond zum letzten Mal in dem Jahrtausend die Sonne. Durch die Bewegung des Mondes und der Erde raste der Schatten des Mondes mit einer Geschwindigkeit von maximal 7200 Kilometer pro Stunde über die Erdoberfläche. Zum ersten Mal seit 1706 verfinsterte sich die Sonne über Deutschland.

Die alten Isländer glaubten übrigens, dass bei einer totalen Sonnenfinsternis ein Ungeheuer den roten Feuerball verschlingt.

Nachdem der Schatten des Mondes von 11:30 Uhr bis 12 Uhr fast über den gesamten Nordatlantik gefallen war, erreichte er Deutschland um 12:30 Uhr. Um 12:33 Uhr wurde ich in Stuttgart geboren. So hat es mir meine Mutter erzählt.

Ich konnte es später nachlesen, da sie alle Zeitungsberichte zu diesem Ereignis aufgehoben hatte. Ich weiß nicht, ob das ein schlechtes Zeichen war. Außerdem verlief meine Geburt ohne Komplikationen.

Meine Eltern waren beide Anfang dreißig. Ihre Arbeitszeit als Hebamme hatte meine Mutter schon bald nach meiner Geburt reduziert.

Mein Vater war Fotograf. Außerdem schrieb er Bücher. Er arbeitete viel. Meiner Familie ging es nicht schlecht. Wir wohnten damals in einer schönen Wohnung in Stuttgart-Kräherwald.

Über die ersten zwölf Monate meines Lebens kann ich nicht viel sagen. Meine Mutter hat darüber nichts aufgeschrieben.

Aufgrund der Ereignisse, die dann in mein Leben und damit auch in das meiner Familie traten, hatte sich meine Mutter wohl angewöhnt, eine Art Tagebuch zu führen. Ich möchte es einmal so ausdrücken: Ich hatte Gelegenheit, es vor meiner Abreise zu lesen. Damit möchte ich nicht sagen, dass das, worüber ich berichte, auch meine Sicht der Dinge ist. Es zeigt, wie meine Mutter die Ereignisse sieht. Bevor ich dann, im Alter von sieben Jahren, selbst angefangen habe, ein Tagebuch zu führen. Ein Heft für jedes Jahr.

Irgendwann wusste ich, dass diese Sammlung klein bleiben würde. An meinem sechzehnten Geburtstag habe ich mein vermutlich letztes Buch begonnen.

Aber man weiß nie.

Ich schien ein ganz normales Kind zu sein, schrieb meine Mutter. Allerdings hatte ich schon nach einigen Wochen eine Blutinfektion. Meine Haut war plötzlich dünn und trocken. Ich aß nicht und nahm nicht zu.

Als ich ein Jahr alt war, ernährte man mich über eine Nasensonde. Fünfmal am Tag 200 Milliliter. Meist erbrach ich mich nach den Mahlzeiten. Natürlich machten sich meine Eltern Sorgen. Immer und immer wieder wurde ich untersucht. Meine Mutter schrieb, dass sie sich oft die Ahnungslosigkeit dieser Zeit zurückwünsche. Die Sorge sei leichter zu ertragen gewesen als die Wahrheit.

Unser Kinderarzt war ratlos. In der Klinik wusste man nicht weiter. Meine Haut wurde immer rauer und trockener. Deutlich konnte man die Venen darunter sehen. Ich war sehr mager. Mein Gesicht war klein. Die Nase ragte daraus hervor wie der Schnabel eines Vogels.

Ich wuchs nicht. Mein Haar war fadendünn. Ich hatte nur ganz wenige feine, lange Haare, und sie fielen mir aus.

Und eines Tages nahm Solveig in der Arztpraxis meine Mutter zur Seite. »Ihr Kind hat eine sehr ernste Krankheit«, sagte sie zu ihr. Sie zeigte ihr verschiedene Bilder. Dann überreichte sie meiner Mutter eine umfangreiche Mappe mit Unterlagen.

Während eine Arzthelferin auf mich aufpasste, nahm Solveig sich in den nächsten Stunden die Zeit, meiner Mutter die Wahrheit so schonend wie möglich beizubringen.

Am Ende sagte sie ihr, dass ich unter Progerie litt.

Meine Mutter wurde am nächsten Tag sehr krank. Sie war viele Wochen nicht in der Lage, arbeiten zu gehen.

Progerie ist ein Krankheitszeichen verschiedener Erbkrankheiten. Die führen zu einer vorzeitigen Vergreisung der betroffenen Kinder. Diese äußerst seltene und unheilbare Krankheit hat zur Folge, dass viele Organe im Zeitraffer altern. Die Glieder versteifen sich. Auf der Haut zeigen sich braune Altersflecken. Die Augen treten hervor.

Es war sicher, dass meine Eltern erfahren würden, was die Natur eigentlich ausgeschlossen hat: das eigene Kind vergreisen zu sehen.

Die betroffenen Kinder leiden unter Krankheiten, die sonst eher alte Menschen haben. Arthrose, Osteoporose und Arterienverkalkung treten häufig auf. Außerdem liegen häufig Fehlstellungen der Gelenke vor. Die Kinder, die erkrankt sind, werden meist nicht größer als einen Meter. Selten erreichen sie das achtzehnte Lebensjahr.

Im Durchschnitt werden Kinder, die unter Progerie leiden, dreizehn Jahre alt. Einige wenige erreichen auch das Erwachsenenalter. Zu den häufigsten Todesursachen gehören Herzinfarkt und Schlaganfall.

Der Kinderarzt empfahl uns, um endgültige Gewissheit zu haben, eine genetische Analyse vornehmen zu lassen. Noch immer missdeuteten viele Ärzte die Symptome als Wachstumsstörung oder Mangelernährung.

Als meine Mutter Solveig fragte, wie sie auf die Diagnose gekommen sei, zeigte sie ihr die Röntgenaufnahmen, die man schon früh von mir gemacht hatte. Da seien ihr, als sie die Bilder mit denen von Gleichaltrigen verglichen habe, die typischen Veränderungen am Schlüsselbein und an den Handknochen aufgefallen. Das sei symptomatisch für Progerie-Patienten.

Meine Mutter wollte von ihr wissen, warum sie sich denn ausgerechnet für diese seltene Krankheit interessiere. Solveig habe sie nur ausdruckslos angesehen und geschwiegen.

Auch in den folgenden Jahren hatte sie den Eindruck, dass es da etwas gab, über das Solveig nicht sprechen wollte.

Die genetische Untersuchung, die meine Eltern dann in der Klinik vornehmen ließen, brachte die Bestätigung. Ich litt unter dem Hutchinson-Gilford-Syndrom, also dem Progerie Typ I.

Meine Mutter und mein Vater versuchten, alles über die Krankheit in Erfahrung zu bringen.

Meine Mutter begann ein eigenes Tagebuch für meine Krankheit. Sie nannte es Emelie. Es gab nichts, was sie dort nicht aufgeschrieben hätte. Das schönste Geschenk ist die gemeinsame Zeit. Denn keiner weiß, wie viel uns davon bleibt, schrieb sie gleich auf der ersten Seite. Das war so eine Art Programm, denke ich.

Die Wiedergabe wissenschaftlicher Fakten wechselte mit der für mich quälenden Wiedergabe ihrer Gefühle, ihres Schmerzes. Ihrer Verzweiflung. Als ich es las, fragte ich mich oft: Das soll ich sein?

Meine Mutter begann stets ganz nüchtern. Indem sie zum Beispiel feststellte, dass es zu Progerie durch Veränderungen im menschlichen Erbgut komme. Davon betroffen sei das Lamin A-Gen. Ich war mir sicher, dass meine Mutter keine Ahnung hatte, was das Lamin A-Gen war. Dieses Gen sei zuständig für die Herstellung des Proteins Lamin A. Zu dessen Funktionen gehöre es vor allem, die Zellkerninnenseiten zu stabilisieren. Lamin A reguliere zudem das Ablesen des Erbguts und habe Anteil an der Zellteilung.

Die Progerie sorge nun dafür, dass es zum Vertauschen einer Base innerhalb des Lamin A-Gens komme. Nicht mehr als eine Verwechslung. Nur: Diese Verwechslung hat zur Folge, dass mein Körper eine unzureichende Version des Eiweißes herstellt. Diese Veränderung aber führe nun zu einer Schwächung der Zellkernhülle, was wiederum Auswirkungen auf die Zellteilung habe. Und genau dieser Vorgang ist verantwortlich für den vorzeitigen Abbau der Erbinformation.

Und das bedeutete, dass ich fünf- bis achtmal schneller alterte als andere Menschen. Ich alterte im Zeitraffer.

Natürlich hatten meine Eltern die stärksten Schuldgefühle. Was hatten sie falsch gemacht?

Es wurde auch nicht besser, als sie in Erfahrung brachten, dass die Veränderungen des Erbgutes beim Hutchinson-Gilford-Syndrom zufällig entstehen. Man weiß bis heute nicht, wodurch es zu einer Mutation des Gens kommt.

Doch ganz gleich, was sie herausfanden, es blieb die entsetzliche Tatsache, dass ich bald sterben würde.

Ich hatte den Eindruck, dass meine Mutter mit all der Anhäufung von Fakten versuchte, dem für sie unbegreiflichen Geschehen einen Sinn zu geben.

Was mein Vater wirklich fühlte und dachte, fand ich nie heraus. Ich glaube, er hatte Angst vor dem, was vor seinen Augen mit seinem Kind geschah. Meine Mutter behauptete, deshalb habe er uns verlassen.

Sie begann ihr Tagebuchritual manchmal nur mit einer einzigen Passage wie »Eine Heilung der Progerie ist nicht möglich. Daher beschränkt sich die Therapie auf die Behandlung der Symptome«. Sie ging dann dazu über, unseren Tagesablauf zu schildern. So, als sei sie jemand anderes und ich nur ein Kind in Pflege. Unvermittelt beschrieb sie dann ihre Gefühle. Sie fand niemals eine Mitte zwischen diesen Ebenen.

Bis ich, im Alter von fünf Jahren, in die Schule kam, wusste ich nur, dass ich »krank« war.

Mit drei Jahren hatte ich die Größe und das Gewicht einer Einjährigen. Ich konnte nicht mehr als fünfzehn Schritte laufen, ohne außer Atem zu geraten. Ich fiel ständig hin. Bereits mehrfach hatte ich mir Arme und Beine gebrochen. Ich hatte keine Haare, keine Augenbrauen, keine Wimpern mehr. Unter meinen Augen hingen große, faltige Tränensäcke. Mein Aussehen glich dem einer achtzigjährigen Greisin.

Dennoch hatte ich Bedürfnisse wie andere Kinder auch. Meine Mutter versuchte, sie zu erfüllen, so gut es eben ging.

In den ersten Jahren versteckte mich meine Mutter vor der Öffentlichkeit. Ich ging niemals mit einkaufen. Wir verbrachten keinen Urlaub mehr in fernen Ländern. Wenn ich etwas von der Welt sah, dann nur durch die getönten Scheiben unseres Autos, mit dem mich meine Mutter durch die Stadt und über das Land fuhr. Ich kannte nichts anderes. Dir wird ein Ausschnitt der Welt gezeigt, und du musst es für die Welt halten.

Meine Mutter versuchte, mich vor etwas zu schützen. Oder versuchte sie, die Welt vor mir zu schützen?

Es war wieder Solveig, die sie davon überzeugte, dass es nicht sinnvoll sei, mich zu verstecken. Sie überredete meine Mutter, mit mir andere Progerie-Kinder und deren Familienangehörige zu treffen.

In Deutschland gebe es einmal im Jahr ein Europa-Treffen des Progerie Family Circle. Dort träfen sich Progerie-Kinder mit ihren Eltern. Meist wären es nur die Mütter, Geschwister und Ärzte, um sich kennenzulernen und miteinander zu spielen. Am wichtigsten aber wäre die Erfahrung, nicht alleine auf der Welt zu sein.

Von meinem zweiten Lebensjahr an versuchte Solveig, meine Eltern von der Wichtigkeit dieses Treffens für uns alle zu überzeugen. Aber erst als ich vier Jahre alt geworden war, überwand meine Mutter ihr Zögern.

Meine Mutter und ich fuhren das erste Mal auf ein Treffen. Mein Vater war da schon aus meinem Leben verschwunden.

Es war ein kleiner Ort irgendwo in der Eifel. Den Namen habe ich vergessen. Auch, wenn mein Gedächtnis gut funktioniert und meine Intelligenz weit über der gleichaltriger Menschen liegt, kann ich mir Namen nicht merken. Vielleicht ist es auch so, dass ich mir sie nicht merken möchte.

Ich war vier, und ich kann das alles ja nur aus der Perspektive meiner Mutter wiedergeben.

Zum ersten Mal in meinem Leben fand ich dort einen Freund. Er hieß Jasper. Jasper ist im November letztes Jahr gestorben. Kurz vor seinem zwölften Geburtstag. Und es war im November 2003, als ich das erste Mal in meinem Leben begriff, dass ich nicht alleine war.

Meine Mutter führte mich in einen Raum voller Kindgreise. Winzige Wesen ohne Haare, ohne Augenbrauen mit hervortretenden Venen und Armen und Beinen dünn wie Streichhölzer tollten durch den Raum. Sie schrien und lachten, während andere still in den Ecken saßen. Es war, als würde man sich wie in einem gewaltigen Spiegel begegnen, der den eigenen Körper dutzendfach brach und in einem imaginären Raum wieder hervorschleuderte, bis ich schließlich begriff: Es gibt Menschen wie dich.

Die meiste Zeit in dieser Woche verbrachte ich im Spielraum und in der kleinen Sporthalle. Dort wurden Märchenspiele, Ballsportturniere und Theaterworkshops veranstaltet. Wir machten einen Ausflug in ein nahegelegenes Bergwerk. Wir gingen ins Kino und besuchten ein großes Volksfest.

Auf dem ersten dieser Ausflüge geschah es.

Nachdem wir das Bergwerk verlassen hatten, lief ich im Übermut voraus.

In der plötzlichen Helligkeit verlor ich die Orientierung. Ich verlief mich. Ich landete im Gastraum eines am Parkplatz gelegenen Cafés. Eine Frau starrte mich an. Kinder sprangen auf. Die Kellnerin, ein junges hübsches Mädchen, sah mich entgeistert an. Das Tablett zitterte in ihren Händen. Es war, als hätte ich in einen Zerrspiegel geblickt. Als hätte ich eine bislang verborgene Tür geöffnet.

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Das Leben schien auf die merkwürdigste Art eingefroren. So, wie auf einer alten Fotografie.

Danach teilte ich mein Leben in die Zeit vor diesem Ereignis und in eine Zeit danach ein. Zumal die Jahre bis zu diesem Tag für mich nur aus der Überlieferung meiner Mutter wiederherzustellen sind. Von diesem Tag an führte ich, ich konnte bereits seit einem Jahr lesen und schreiben, ein eigenes Tagebuch. Aber eigentlich ist das eine Legende. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass ich angefangen hatte, Tagebuch zu schreiben, als mein Vater uns verließ. Die Wahrheit ist: Sie hat dieses Tagebuch für mich geschrieben und es mir später gegeben.

Mein Vater, der mit meiner Krankheit nicht zurechtkam, war eines Nachts einfach fortgegangen. Das Einzige, was von ihm noch da war, war das Geld, das er jeden Monat für mich auf Mutters Konto überwies.

Tagebuch zu schreiben, war nicht einmal ein festes Vorhaben. Oder etwas, das ich schon lange geplant hatte. Ich schrieb von nun an einfach nur auf, was ich erlebte.

Ich hatte bisher nicht begriffen, dass ich in diesen Tagen ja ständig mit Menschen zusammen war, die mein Schicksal als Betroffene oder Angehörige teilten. Jetzt aber begegnete ich der Welt, vor der mich meine Mutter bisher verborgen gehalten hatten.

Meine Mutter gab zu, mich in mein Zimmer gesperrt zu haben, wenn Besuch kam. Oder lange von einer schweren ansteckenden Krankheit gesprochen zu haben. Außer Solveig und ganz engen Verwandten wusste niemand von meinem Schicksal. Die anderen, so musste ich denken, vergaßen meine Existenz allmählich.

Jetzt aber musste ich lernen, dass es um mich herum eine Unzahl neuer und unbekannter Menschen gab. Und dafür war ich nicht aufnahmefähig.

Schon als kleines Kind fürchtete ich, mich in dieser Menge zu verlieren. Das blieb ein Gefühl, das nie mehr von meiner Seite wich. Etwas, das bisher nur in mir geschlummert hatte, wachte in diesem Moment auf und rief in meinem Charakter Veränderungen hervor, die mir unter anderen Umständen wohl erspart geblieben wären.

Die plötzliche Begegnung mit der Außenwelt führte dazu, dass ich nun häufig nicht sagte, was ich dachte. Ich verhielt mich nicht so, wie ich mich vielleicht hätte verhalten sollen.

Mir erschien es wie eine Ewigkeit, bis sich das Bild in diesem Café vor mir aufzulösen begann. Bis ich wieder anfangen konnte zu atmen. Bis meine Glieder anfingen, sich aus ihrer Starre zu lösen. Das Café war fast bis auf den letzten Platz besetzt. Alle starrten mich an, während sie langsam dazu übergingen, sich wieder anderen Dingen zuzuwenden. Ich aber blieb stehen. Unfähig, mich zu rühren. Oder fortzulaufen. Oder etwas anderes zu tun.

Nur, in mir schrie etwas und hörte nicht auf zu schreien. Die Begegnungen, denen ich bis zu diesem Tag mehr oder minder zufällig oder auch bewusst, wie etwa bei unseren Besuchen in der Arztpraxis, ausgesetzt war, hatten mir nicht einmal eine Ahnung vermittelt, welch ungläubige Abscheu, welch widerwilliges Erstaunen und spürbares Unbehagen meine Erscheinung bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen auslöste. Ich würde nie mehr so in den Spiegel blicken können wie früher.

Irgendwann nahm mich jemand bei der Hand und führte mich hinaus. Man setzte mich in den Bus zu den anderen Kindern und den Betreuern. Auf der Rückfahrt war es ungewöhnlich still.

Am nächsten Tag ging das Treffen zu Ende. Wir fuhren nach Hause.

Es war merkwürdig, doch nach der Woche mit dem Progerie Family-Circle behandelte mich meine Mutter anders. Sie kam nicht mehr auf die Idee, mich zu verstecken.

Meine Mutter erzählte mir mit leuchtenden Augen von einem neuen Medikament. Es schien, als sei die Möglichkeit meines baldigen Todes etwas, das sie nicht mehr unmittelbar betraf. So wie der Tod immer etwas war, das unendlich weit weg schien.

Auch die Tatsache, dass sie die Gelegenheit genutzt hatte, sich mit den anderen Familienangehörigen und den anwesenden Ärzten über alle möglichen Therapien auszutauschen, bekam ich in nächster Zeit deutlich zu spüren.

Ich ging noch häufiger zur Physiotherapie als bisher. Das sollte die Durchblutung verbessern und steifen Gelenken vorbeugen. Badezusätze und Lotions halfen, meine empfindliche Haut zu schützen.

Meine Mutter reagierte nicht mehr so ängstlich, wenn mein Blutdruck dramatisch stieg. Sie schaffte es, mich zu beruhigen, wenn ich plötzlich panisch schrie, weil mein Herzschlag zu rasen begann.

Und ich erhielt ein neues Medikament. Neben Statin, mit dem normalerweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen behandelt wurden, bekam ich schon länger ein Bisphosphonat. Das wird bei Knochenschwund verschrieben. Zusätzlich erprobten die Ärzte einen sogenannten Farnesyl-Transferase-Inhibitor, den man kurz FTI nennt, an mir. Eigentlich ist FTI ein Krebsmedikament. Studien an Mäusen hatten gezeigt, dass FTI die Symptome der Progerie hinauszögern und die Lebenserwartung erhöhen kann.

Das mit den Mäusen hatte man mir erzählt. Ich weiß noch, dass ich dachte: Ich bin doch keine Maus. Die Ärzte sagten, das Medikament könne dafür sorgen, dass mein Gewicht wieder zunähme. Dass ich besser hören würde. Dass ich eine stabilere Knochenstruktur bekäme und elastischere Blutgefäße.

Ich glaube, das Wichtigste an dem ersten Progerie-Treffen war aber, dass niemand von uns mehr das Gefühl hatte, allein zu sein.

Für meine Mutter war es ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass es irgendwo in Europa jemanden gab, den sie anrufen konnte. Jemand, der sie verstand, weil er in der gleichen Situation war wie sie.

Und ich? Ich hatte das Gefühl, meine Mutter war froh, etwas gefunden zu haben, das sie von dem Gedanken ablenkte, ihr Kind könne vor ihr sterben. Aber das würde ich ja. Ich wusste es einfach.

Von dieser Zeit an fühlte ich mich meiner Mutter überlegen. Sie musste mich nicht mehr trösten oder sich schuldig fühlen. Ich war es ja, die sie trösten musste. Möglicherweise war das Leben von diesem Punkt an etwas unkomplizierter. Das änderte sich nicht einmal, als ich in die Schule kam. Meine Mutter entschied, dass ich die Freie Waldorfschule Kräherwald besuchen würde. Ich sollte einen normalen Schulalltag führen. Sie lehnte es ab, mich in eine spezielle Einrichtung zu schicken, wie es die Ärzte empfohlen hatten.

Kinder sind besonders im Umgang mit Phänomenen wie mir. Ihr Erstaunen, von anderen Gefühlen ganz zu schweigen, hält nicht an. Mein erster Anblick hatte die anderen Kinder und die Lehrer erschreckt. Die Kinder trauten sich nicht, mit mir zu spielen. Sie schauten mich immer nur an. Doch das ging schnell vorbei. Es dauerte zwei Tage, bis ich eine von ihnen war. Für sie war es nicht weiter verwunderlich, dass meine Kraft und mein Atem nur für die wenigsten Spiele reichten. Wenn es um Schnelligkeit ging, zog ich immer den Kürzeren.

Dafür konnte ich bereits flüssig lesen. Und ich konnte schreiben. Auch die meisten Aufgaben im Unterricht stellten mich vor keinerlei Probleme.

Der Stift in meinen Händen zittert nicht mehr. Ich sitze immer noch hier in Solveigs Zimmer, das Heft auf meinen Knien.

Solveig wird mich bald zum Bahnhof bringen. In meinen Ohren rauscht es. Wenn ich allein im Zimmer bin, schalte ich das Hörgerät meistens aus. Ich lausche dann diesem Rauschen nach wie einer fernen Brandung. Oder dem Wind in den Bäumen. Erst als ich aufstehe, merke ich, dass Solveig in der Türöffnung lehnt. Ich weiß nicht, wie lange sie schon dort steht. Ihre Lippen formen meinen Namen. Emelie, sagt sie. Emelie.

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