Hokuspokus Kompetenz?

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Aus den Erfahrungen im Mutterleib – der engsten Verbindung zur Mutter, also zu einem anderen Menschen, sowie der rasanten Entwicklung seines eigenen Körpers, den das Kind zunehmend koordinierter gebrauchen und erleben kann – bringt der Mensch zwei Grundbedürfnisse mit auf die Welt; er hat das angeborene Bedürfnis nach Geborgenheit und nach autonomer Persönlichkeitsentwicklung. Weil sich die beiden Bedürfnisse gegenseitig bedingen, kann ein Kind unmöglich erfolgreich lernen, wenn es sich nicht in der Familien- oder Klassengemeinschaft aufgehoben und seiner selbst wert fühlt.

Erfahren Kinder und Jugendliche auf Dauer diese Geborgenheit nicht oder können sie die an sie gestellten Aufgaben regelmäßig nicht bewältigen, verlieren sie ihren Selbstwert und die Freude am Lernen; sie sind in ihrer Integrität verletzt. Ist das einmal geschehen, wird es sehr schwierig, Kindern erfolgreich zu vermitteln, dass sie etwas können oder wertvoll sind. Ihre Reaktion folgt nach einem von drei möglichen Mustern: Sie greifen an, sie flüchten oder sie erstarren. Dies sind die abrufbaren Notfallprogramme unseres Hirnstamms, wenn wir uns bedroht fühlen. Angriff ist in der Schule selten eine erfolgreiche Wahl. Allenfalls zeigt sich das Muster in Unruhe während des Unterrichts, in Pausenschlägereien, Sachbeschädigungen oder – oft bei Mädchen in der Pubertät – Selbstverletzungen. Flucht ist im Rahmen der Schulpflicht ebenso wenig möglich. Möglich ist mentales Abhauen in Form von Tagträumerei und Unkonzentriertheit. Besonders bedrohlich ist die Erstarrung; Kinder werden apathisch, mitunter depressiv und sogar suizidal.

Es gibt die Kinder und Jugendlichen, die sich problemlos in den Schulbetrieb einfügen und auf bereichernde Art auch einbringen. Und dann gibt es die Antischülerinnen und -schüler, die oft nicht weniger intelligent sind, sich aber viel schlechter anpassen können und negativ auffallen. Nun gibt es die Möglichkeit, sie mittels Bestrafung oder Belohnung anzutreiben, wie es ein Eseltreiber mit seinem störrischen Tier macht. Vielleicht bewegt sich das Kind so tatsächlich in die gewünschte Richtung, aber sicher nicht aus eigenem Antrieb. Fremdführung und Gehorsam führen nicht zu Eigenverantwortung, Kreativität, leidenschaftlichem Handeln und dazu, dass sich Schülerinnen und Schüler aufgehoben fühlen. Das Ziel muss ein hohes Maß an Innenorientierung und Selbstführung respektive -disziplin sein. Gelingen kann dies, wenn die Haltung der Lehrperson stimmt; wenn es ihr gelingt, eine dialogische Beziehungskultur zu etablieren, in der ein aufrichtiges Interesse und darauf aufbauendes gegenseitiges Vertrauen die Grundlage ist. Dies ist eine Voraussetzung für kompetenzorientiertes Lehren und Lernen.


Abb. 4: Führungsmethoden


Das Gelingen von Lernprozessen hängt, wie wir seit der als Hattie-Studie berühmt gewordenen Schrift des neuseeländischen Pädagogen John Hattie aus dem Jahr 2009 wissen, in hohem Maße von den Schülerinnen und Schülern, ihrer Herkunft und Disposition, aber maßgeblich auch von der Lehrperson ab: von ihrem Bildungsverständnis, von ihrer Haltung dem Lernen und Lehren gegenüber, von ihrem Rollenverständnis und von der Ausgestaltung ihrer Beziehung zu Schülerinnen und Schülern. Darauf ist Bildungserfolg vor allem zurückzuführen, weniger auf die Unterrichtsmethoden. Mit Bildungserfolg ist nicht Schulerfolg – sprich gute Noten und Zeugnisse – gemeint, sondern die Erhaltung der Neugierde auch über die Schule hinaus, Handlungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein im Berufs- und Lebensalltag. Oder anders gesagt: der Erwerb von Kompetenzen im personalen, sozialen, fachspezifischen, methodischen Handlungsbereich. Lehrerinnen und Lehrer müssen dafür eine andere Rolle einnehmen können: Sie sind nicht mehr nur Dozierende – weil sich Kompetenzen ja nicht vermitteln lassen –, sondern vielmehr Lernbegleiter oder Coaches. Natürlich bedarf es bestimmter Methodik und Didaktik, um diese Rolle auszugestalten. Dazu und zum eigentlichen Kompetenzbegriff mehr in den Folgekapiteln. Vorerst geht es lediglich um das Rollenverständnis von Lehrpersonen, ums Umdenken, um die Haltung.

So, wie kleine Kinder das Gehen lernen, indem sie hinfallen, selber wieder aufstehen, Schritte machen, wieder hinfallen, aufstehen und es von vorne versuchen, müssen auch Schulkinder und Jugendliche selber Erfahrungen sammeln und Fehler machen können, um neue Herausforderungen zu meistern und persönliche Erfolge zu erleben. Die Eltern können ihrem Kleinkind das Gehen nicht aktiv beibringen, ihm aber anteilnehmend und präsent zur Seite stehen, wenn es dazu reif ist. Genau das können und müssen Lehrpersonen für ihre Schülerinnen und Schüler tun, wenn diese kompetenzorientiert lernen sollen. Es geht nicht darum, ihnen Schritt für Schritt voranzugehen, den Weg vorzuspuren und Entscheidungen abzunehmen, aber auch nicht darum, sie auf ihrem Weg sich selbst zu überlassen. Richtig wäre es, sie zu begleiten. Erfolgreiche Lernprozesse werden durch eine Haltung der Lehrperson stark begünstigt, die präsent, achtsam und wohlwollend ist. Spürbares Vertrauen in die Schülerinnen und Schüler ermutigt diese zu selbstständigem Handeln, macht sie zuversichtlich, selber etwas erreichen zu können. Kinder brauchen Erwachsene, die an sie glauben und ihnen etwas zutrauen. Das Wissen darum, dass ihre Lehrerin oder ihr Lehrer Fehler nicht als Versagen, sondern als Erfahrung abbucht, bewirkt, dass Kinder und Jugendliche ihre inneren Impulse und eigenen Ideen wahrnehmen, danach handeln und weniger durch das Erfüllen von äußeren Vorstellungen und Vorgaben gelenkt sind.

Kommt ein Kind in einer bestimmten Situation trotz größter Bemühung nicht so weit, wie es gern möchte, helfen ihm Forderung, Moral, Belehrung und Bewertung wenig. Es verschließt sich und tritt weiter an Ort. Wenn sich die Lehrperson aufrichtig dafür interessiert, wie es ihren Schülerinnen und Schülern geht, wenn sie an die Kinder und Jugendlichen herankommen und sie bewegen möchte, muss sie ihre Entscheidungen und Gedanken möglicherweise als das Beste akzeptieren, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter gegebenen Umständen leisten können – auch wenn aus ihrer Sicht womöglich viel mehr Potenzial da wäre. Die Aufgabe der Lehrperson besteht darin, eine Vertrauensbasis zu schaffen, individuelle Leistung zu erkennen und zusammen mit dem Kind dessen Potenzial zu entfalten, es durch Begleitung und Ermunterung so weit zu bringen, dass es selber einen nächsten Schritt wagt.

Ein bewährtes Instrument sind regelmäßige Coachinggespräche, wobei ein angemessener und realisierbarer Rhythmus gefunden werden muss. Möglich ist beispielsweise die Etablierung eines Einzelgespräches pro Schultag. Während einer Phase der selbstständigen Arbeit trifft sich die Lehrperson für fünf bis zehn Minuten mit einem Schüler oder einer Schülerin zu einem persönlichen Gespräch. Bei einer Klassengröße von zwanzig Kindern kommt jedes monatlich zu einem solchen kurzen Reflexionsgespräch.

Die Kommunikation mit Schülerinnen und Schülern ist dann erfolgreich, wenn die Lehrperson merkt, dass sie das Kind erreicht, wenn es sich ihr gegenüber öffnet und Vertrauen fasst. Das Kind seinerseits ist frei von Ängsten und erlebt seinen Lehrer oder seine Lehrerin nicht als jemand, der oder die ausschließlich für die Wissensvermittlung da ist und über seine Leistungen und sein Verhalten richtet. Es braucht eine freundschaftliche Begleitung, jemanden, der oder die sich aufrichtig für das Kind interessiert – nicht für die Zeugnisse, nicht für seine Eltern, nicht für das eigene Ansehen und Erfolgsgefühl als Lehrperson. Lehrpersonen müssen und sollen sich nicht zum Kumpel ihrer Schülerinnen und Schüler machen. Aber sie sollen ihnen freundlich, freundschaftlich und vertrauensvoll zugewandt sein.

Der Verlauf eines persönlichen Coachinggesprächs kann nach folgender Struktur ablaufen:

Befindlichkeit klären

–Wie geht es dir? Was macht dir Spaß, was Sorgen?

–Bist du zufrieden mit dir, mit der Schule, mit dem, was du in der Schule machst? Wie geht es dir mit den anderen Kindern, Lehrern, zu Hause mit deiner Arbeit?

–Was brauchst du? Wie können wir dich unterstützen?

Von wem möchtest du Unterstützung? Wie willst du unterstützt werden?

An das letzte Gespräch anknüpfen

–Was waren die Anliegen, Wünsche, Ziele, Probleme beim letzten Gespräch? Wie haben sich diese entwickelt?

–Konntest du deine Wünsche erfüllen, deine Ziele erreichen, Zielsetzungsvereinbarung einhalten? Wenn nein, was hat dich daran gehindert?

Weiter sehen

–Gibt es Handlungsbedarf für die nächste Phase?

Was möchtest du anpacken, erreichen, was ändern?

–Was ist dir wichtig in nächster Zeit? In Bezug auf dich selber, mit anderen Kinder, mit den Lehrern, mit dem Lernen, mit Projekten?

–Gibt es Bereiche, wo du mehr Verantwortung für dich übernehmen möchtest?

–Was sind meine Anliegen und Themen, die ich als Lehrperson ansprechen möchte?

Raum für Unerwartetes und Unerfragtes lassen

–Gibt es etwas, was dir noch wichtig ist, mir mitzuteilen?

–Weiter können Lehrpersonen wichtige Dinge aufschreiben, die als Erinnerung für das nächste Coachinggespräch wichtig sind oder die sie selber zu erledigen haben.

Regelmäßige Coachinggespräche leiten die Kinder und Jugendlichen in Selbstreflexion an und steigern ihre Fähigkeit zur Selbstführung. Sie bringen Lehrperson wie Schülerinnen und Schüler weiter im gemeinsamen Lehr- und Lernprozess als das Konzept von Belohnung und Bestrafung. Es entwickeln sich nicht Gehorsam und übersteigerte Außenorientierung, sondern viel eher Selbstdisziplin und darauf aufbauend zahlreiche Schlüsselkompetenzen, idealerweise wie von selbst. Eine Gesetzmäßigkeit in Gesprächen mit Kindern ist die: Kommen Lehrpersonen (auch Eltern zu Hause) mit Vorstellungen, moralischen Ansprüchen und Erwartungshaltung, die keinerlei Spielraum für andere Sichtweisen zulassen, auf das Kind zu, wird es das sagen, was die Erwachsenen hören wollen, um so möglichst schnell der Moralpredigt zu entkommen. Das lässt sich nur vermeiden, wenn die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern den nötigen angstfreien Raum gewährt, in dem sie sich frei äußern können, ohne dafür verurteilt zu werden.

 

Im Zusammenhang mit Haltungsfragen, Coaching und angemessener Kommunikation erläutert Jesper Juul in seinen Büchern, was unter gleichwürdiger Beziehungsgestaltung gemeint ist. Der lösungsorientierte Ansatz nach Steve de Shazer liefert einen riesigen Fundus an Ideen, Know-how und Weiterbildungsangeboten für Lehrpersonen und auch Eltern. Der Psychotherapeut entwickelte eine Kurztherapieform, die sich nicht an der Entstehung statuierter Probleme, sondern an deren Lösung orientiert. Im Zentrum steht das Gespräch. Die Methode wird an Schulen und besonders auch innerhalb der Schulsozialarbeit erfolgreich angewandt. Ausgegangen wird von einer Grundannahme und sieben darauf basierenden lösungsorientierten Annahmen:

Grundannahme:

Kein Mensch handelt aus Bosheit destruktiv. Jeder macht von sich aus gesehen das Bestmögliche, er handelt so, weil er im Moment nicht anders handeln kann, weil ihm nichts Besseres einfällt. Jedes Verhalten ist immer ein Lösungsversuch, manchmal mit negativen Auswirkungen.

Die sieben lösungsorientierten Annahmen:

1Probleme sind Herausforderungen, die jeder Mensch auf seine persönliche Art zu bewältigen sucht.

2Wir gehen davon aus, dass alle Menschen ihrem Leben einen positiven Sinn geben wollen und dass die nötigen Ressourcen dazu vorhanden sind. In eigener Sache sind wir alle kundig und kompetent.

3Es ist hilfreich und nützlich, dem Gegenüber sorgfältig zuzuhören und ernst zu nehmen, was er/sie sagt.

4Wenn du dich am Gelingen und an den nächsten kleinen Schritten orientierst, findest du eher einen Weg.

5Nichts ist immer gleich, Ausnahmen deuten auf Lösungen hin.

6Menschen beeinflussen sich gegenseitig. Sie kooperieren und entwickeln sich eher und leichter in einem Umfeld, das ihre Stärken und Fähigkeiten unterstützt.

7Jede Reaktion ist eine Form von Kooperation, Widerstand auch.[4]



«Kompetenz» ist im Bildungsbereich zu einem inflationären Begriff geworden. Alle brauchen ihn, aber selten ist klar, wovon dabei eigentlich genau die Rede ist. Dies hat zum einen damit zu tun, dass der Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch nicht gleich verwendet wird wie im Zusammenhang mit Schulentwicklung. Zum anderen existieren auch innerhalb dieses Bereichs unterschiedliche Auffassungen von Kompetenz.

Das diesem Buch zugrunde liegende Kompetenzverständnis folgt den Erkenntnissen von John Erpenbeck und Volker Heyse, die in der Kompetenzforschung richtunggebend sind, sowie der Definition des Entwicklungspsychologen Franz Weinert von 2011:

«Kompetenzen sind bei Individuen verfügbare oder durch sie erlernbare kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen [die willentliche Steuerung von Handlungen und Handlungsabsichten] und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.» [5]

Zentral für dieses Verständnis von Kompetenz ist deren Entwicklung, damit beschäftigen sich Erpenbeck und Heyse in erster Linie. Sie gehen davon aus, dass

«Kompetenzen von Wissen fundiert, durch Werte konstituiert, als Fähigkeiten disponiert, durch Erfahrungen konsolidiert, aufgrund von Willen realisiert werden.»[6]

Beide Definitionen bringen im Zusammenhang mit Bildung weitere Begriffe ins Spiel, die für das Verständnis von Kompetenz zentral, aber auf keinen Fall damit gleichzusetzen sind: FERTIGKEITEN, fachspezifische und nicht fachspezifische FÄHIGKEITEN, PERFORMANZ.

Eine einzelne fachbezogene FÄHIGKEIT bezieht sich auf fachliche Kenntnisse und damit auf spezifisches Wissen, das mit standardisierten Verfahren überprüft werden kann, was zur Qualifikation dieses Wissens führt. Wissen über die Struktur eines formalen Briefes gilt beispielsweise als solches Fachwissen. Von einer fachspezifischen FÄHIGKEIT kann hier gesprochen werden, wenn ein solcher Brief exakt seiner vorgegebenen Struktur gemäß zu Papier gebracht werden kann, wozu gewisse schreibmotorische FERTIGKEITEN notwendig sind. Eine nicht fachspezifische FÄHIGKEIT ist zugleich eine KOMPETENZ, wenn damit angewandtes Handeln in einer beliebigen herausfordernden Situation gemeint ist. Eine solche KOMPETENZ hat entwickelt und sich angeeignet, wer im Rahmen einer solchen Situation wie beispielsweise der Stellensuche einen Bewerbungsbrief schreiben kann. PERFORMANZ ist die Handlung in einer derartigen Situation an und für sich, also eine aus einer Entscheidungsfindung folgende Handlung, in der KOMPETENZ sichtbar wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kompetenz

–nie eine isolierte fachspezifische Fähigkeit oder Fertigkeit, sondern immer eine koordinierte Verbindung verschiedener personaler, sozialer, fachlicher, methodischer und handlungsbezogener Aspekte zu einer ganzen Handlung ist,

–nicht mit reinem Wissen gleichgesetzt werden kann, aber durch Wissen fundiert wird,

–immer nur hypothetisch vorhanden ist, sich erst in der Performanz, das heißt in sichtbarer Handlung zeigt und gemessen respektive beurteilt werden kann.

4.1
Kompetenzmodelle

Unsere Schulen sind darauf spezialisiert, Wissen zu vermitteln. Damit ist Wissen im engeren Sinn gemeint, das heißt fachbezogene Fähigkeiten, wie z.B. die Kommaregeln kennen, zu wissen, wie Wiederkäuermägen funktionieren oder wie man Zahlen schriftlich addiert. Sie kanonisieren, strukturieren und formalisieren Wissen fürs Volk, wie es eben der Auftrag der Volksschule von jeher ist. Sie entwickelte sich auf der Grundlage der religiösen Unterweisung, wobei es in erster Linie darum ging, jedem Kind den Katechismus einzutrichtern, um ihn abfragen zu können. So werden traditionellerweise bis heute Wissensinhalte didaktisch aufbereitet und nach erprobten Methoden vermittelt. Diese traditionelle und in der Gesellschaft verankerte Idee von Schule läuft der pädagogischen (und mittels Lehr- oder Bildungsplänen amtlich verordneten) eigentlich zuwider. Dennoch wäre es falsch zu glauben, Wissensvermittlung schließe kompetenzorientiertes Lehren (und Lernen) aus. Mit der richtigen Haltung und Methodik ist es möglich, Wissen mit überfachlichen und persönlichen Kompetenzen zu verbinden. Nach dem hier postulierten Kompetenzverständnis bildet Wissen die Grundlage für die Kompetenzentwicklung.

Unser Schulkonzept sieht vor, dass Wissenserwerb gemessen und bewertet wird. Schülerinnen und Schüler werden in standardisierten Verfahren qualifiziert, also benotet und, seltener, in Worten beurteilt. Im Bereich der Berufsbildung sind Qualifikationen oft gleichbedeutend mit Diplomen oder Zertifikaten. Nun ist aber gut qualifiziert nicht zwingend gleichbedeutend mit kompetent. Wissen, Qualifikation und Kompetenz stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander. In welchem, verdeutlicht folgende Grafik von Erpenbeck und Heyse:


Abb. 5: Erstes Kompetenzmodell

Dieses Konzept folgt der in diesem Buch postulierten Auffassung von Kompetenz als Fähigkeit, sich in komplexen, nicht standardisierten Situationen selbstorganisiert zu orientieren und diese durch aktives Handeln zu meistern. Im Bildungskontext steht es einem zweiten Modell gegenüber, das aus dem angloamerikanischen Raum stammt:


Abb. 6: Zweites Kompetenzmodell

Nach diesem Konzept definiert sich Kompetenz stark über Leistung respektive konkrete, erfolgreiche Aufgabenerfüllung. Es reicht zur Erfüllung aktueller gesellschaftlicher und professioneller Anforderungen nicht mehr, standardisiertes Wissen abrufbereit zu haben. Das erste Kompetenzmodell bildet den stattdessen erstrebenswerten Lernprozess ab, in dem Schülerinnen und Schüler nicht standardisierte Herausforderungen zu meistern üben. Im Vergleich der beiden Konzepte zeigt sich, dass sich das zweite vor allem an Vergangenem orientiert – was wurde gelernt, was ist gespeichert und in Routinesituationen abrufbar? –, sich der erste Kompetenzbegriff hingegen an der Zukunft ausrichtet: Was muss ich mitbringen, um den komplexen Anforderungen einer modernen, sich stetig wandelnden Gesellschaft gewachsen zu sein?

Besonders augenfällig ist außerdem, dass das zweite Modell Kompetenz mit Qualifikation gleichsetzt. Das heißt, dass als kompetent gilt, wer standardisiertes Wissen abrufen kann. Der Schüler kennt die Kommaregeln und setzt bei der Prüfung die Satzzeichen so, wie er es vorgängig geübt hat, und die Schülerin kann nach Schema einen bestimmten Rechnungstyp lösen. Während die beiden nun nach dem zweiten Modell ihre Kompetenz bewiesen haben, verfügen sie im ersten lediglich über eine gute Qualifikation. Sie haben sich das nötige Wissen erworben, um nun offene Problemstellungen zu lösen und alltagsbezogene Herausforderungen zu meistern und dadurch als kompetent zu gelten. Inwiefern ihnen dies gelingt, zeigt sich erst in der Performanz, also etwa im angewandten Handeln. Dieses zu beurteilen, ist vielfach komplexer, weil auch die Aufgabenstellung komplex ist.


Ein geklärtes Kompetenzverständnis und eine Haltung Kindern und Lernprozessen gegenüber, die auf neurobiologischen und entwicklungspsychologischen Erkenntnissen gründet, sind also Voraussetzung dafür, dass kompetenzorientiertes Lehren und Lernen gelingen kann. Die Umsetzung beginnt mit dem Wissenserwerb.

Da das Gehirn dann am meisten Informationen abspeichert, wenn es an bestehendes Wissen anknüpfen kann (und Lernprozesse von positiven Emotionen unterstützt werden), werden neue Lerninhalte von Vorteil in auf das einzelne Schulkind abgestimmten Quantitäten und vor allem Qualitäten vermittelt. Die Personalisierung von Lerninhalten bedeutet jedoch keinesfalls, dass Kinder alleine lernen müssen. Partner- und Kleingruppenarbeiten sind dafür mögliche und sehr wirksame Lernsettings.

Vergegenwärtigen wir uns das Kompetenzmodell noch einmal. Kompetenz entwickelt sich ausgehend von Wissen. Starten wir also hier.


Abb. 7: Kompetenz entwickelt sich ausgehend von Wissen.

Wenn nun also für den Lernprozess der Kinder und Jugendlichen deren individuelle Reifeentwicklung berücksichtig werden soll, kann dies mithilfe eines Rasters geschehen. Mit ausgeklügelten Systemen von vertikal wie horizontal angeordneten Lernzielen lassen sich der Lernstand, bereits vorhandenes Wissen, noch zu erarbeitende Lerninhalte, Fertigkeiten und Fähigkeiten festhalten, darstellen und überprüfen. Ein Raster dient Lernenden wie Lehrenden beim Wissenserwerb und bei der Kompetenzentwicklung im Allgemeinen. Das System etablierte sich 1991 mit der Ausarbeitung und Einführung eines gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) durch den Europarat. Es wurde eine Einteilung von Kompetenzniveaus vorgenommen und grafisch dargestellt. Spalten und Zeilen bilden eine Matrix für Kompetenzaspekte und Kompetenzniveaus.

 

Abb. 8: Ausschnitt aus dem europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR)

Schon bald begannen erste Schulen und Organisationen für andere Fächer ähnliche Raster zu kreieren – und Kompetenzenraster zu nennen. Da es sich dabei meist um eine grafische Übersetzung staatlicher Lehrpläne handelte, diese Pläne jedoch nicht den Erwerb von Kompetenzen, sondern von Fachwissen vorgaben, entstanden eher fachwissensbezogene Lernzielraster, lernzielorientierte Fachraster oder eben Fähigkeits- und Fertigkeitsraster – wie man auch immer will –, jedoch keine eigentlichen Kompetenzenraster. Der Unterschied ist zentral, auch wenn zuweilen das eine für das andere ausgegeben wird. Der schweizerische Lehrplan 21 ist, wie die meisten sogenannt kompetenzorientierten Lehr- oder Bildungspläne, eine Kombination aus Kompetenzen und fachspezifischen Fähigkeiten. Es finden sich darin Lernziele, die klar Kompetenzen im eigentlichen Sinn fordern:

«Schülerinnen und Schüler können die meisten Situationen bewältigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet.»

Solche Formulierungen lassen weitgehend oder völlig offen, was denn nun im Unterricht genau geschehen, was vermittelt werden soll. So formulierte Bildungspläne bringen auf den Punkt, worum es im Bildungsprozess effektiv gehen sollte, lassen aber weitgehend oder völlig offen, was denn nun im Unterricht genau geschehen, was vermittelt werden soll. Diesbezüglich viel präziser sind Fähigkeitsraster, wo sich etwa solche Lernzielformulierungen finden: Schülerinnen und Schüler können

–eine Laut-Buchstabenzuordnung vornehmen,

–Längen grafisch darstellen,

–Produkte und Quotienten überschlagen,

–unter Anleitung Informationen aus übersichtliche Grafiken, Diagrammen und Tabellen entnehmen.

Werden solche fachspezifischen Fähigkeiten in Raster übernommen, entstehen keine eigentlichen Kompetenzraster – auch wenn sie zuweilen so genannt werden –, sondern Fähigkeitsraster, die einzelne Fähigkeiten und Fertigkeiten beschreiben, ohne sie in einen Handlungskontext zu bringen, der Kompetenzerwerb überhaupt möglich macht.

Fähigkeitsraster (für Beispiele siehe Links im Anhang) sind dennoch sehr nützlich und für den Wissenserwerb unverzichtbar. Sie bilden übersichtlich und für jedes Kind individuell ab, über welches fachspezifische Wissen und Können es verfügen muss. Die Leerstellen zeigen, woran noch gearbeitet werden sollte, was noch nicht da ist, wo ein Kind möglicherweise zusätzliche Unterstützung braucht. Dieses Vorgehen macht seinen individuellen Lernstand sichtbar.

Anstelle einer einmaligen Lernstandserfassung kann auch ein ständiger Abgleich während des normalen Jahrgangsklassenunterrichts stattfinden. Lehrpersonen bleiben so sehr aufmerksam und erkennen schnell, wo Schülerinnen und Schüler durch Aufgabenstellungen über- oder unterfordert sind. Für diese Kinder suchen die Lehrpersonen dann einfachere oder schwierigere Anforderungen im Entwicklungsverlauf einer Fähigkeit auf dem Raster und schauen, wie ihre Schülerinnen und Schüler diese neuen Herausforderungen meistern können. Der weitere Lernprozess wird auf die Lernstandserfassung abgestimmt, also auf das Kind individuell zugeschnitten.

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