Buch lesen: «Sternenhagel»

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Daniel Hartmann

STERNENHAGEL

Daniel Hartmann

STERNENHAGEL

Eine Erzählung über das Prinzip

der Liebe

Giger

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unter www.gigerverlag.ch

1. Auflage 2019

© Giger Verlag GmbH, CH-8852 Altendorf

Telefon 0041 55 442 68 48

www.gigerverlag.ch Umschlaggestaltung:

Simon Hofer Creative GmbH, Muri bei Bern

Layout und Satz: Roland Poferl Print-Design, Köln

e-Book: mbassador GmbH, Basel

Printed in Germany

ISBN 978-3-907210-37-6

eISBN 978-3-907210-39-0

Für Deborah und Lana

Im Gedenken an David Stroh Buckel

und Charles Sanders Peirce

Inhalt

Der Meteor

Rund um die Welt

Das weiße Inferno

In der Höhle der Ewigkeit

Der Entschluss

Im Spiegel der Menschheit

Die Legende aus dem Morgenland

Unheil

Das Kastell

Licht im Morgengrauen

Die Prüfung

Wahre Wirklichkeit und wirkliche Wahrheit

Der Tod kommt zweimal

Die Verschwörung

Vom Sinn des Lebens

Die geheiligte Organisation

Der Zyklon

Scharfrichter und Schwur

Der Gedenkgottesdienst

Abreise und Heimkehr

Die Erfüllung des Wunsches

Epilog

Dank

Es geht die Legende aus dem Morgenland, dass wenn ein Tier und ein Mensch exakt zur gleichen Zeit geboren werden, auch ihre Sehnsucht nacheinander erwacht. Von dem Augenblick an suchen sie einander und ruhen nicht eher, bis sie sich gefunden haben. Dann tanzen sie den Tanz der Liebe. Die ganze Welt verneigt sich vor den beiden und Gott Horus lächelt ihnen zu. Wenn dies geschieht, erleuchtet sie des Gottes überirdische Kraft und sie sind auserwählt, gegen die Schlange Apophis, die Missionarin des Bösen, zu streiten. Ihr Leben lang. Und stirbt das Eine, so auch das Andere. Zur selben Zeit. Verschränkt als Eins in Ewigkeit. Doch Seth, der Gott des Chaos und Verderbens, sucht dieses Band zu zerstören. So jedenfalls erzählt es die Legende.

Der Meteor

Donnerstag, 12. Dezember, 16:30 UhrSchweiz, Dorf Cappellen

Innerhalb weniger Tage war das Thermometer von erstaunlichen 18 auf eisige –5 Grad gefallen. Ab Mitte November war die Witterung abnormal mild gewesen. Starke Regenfälle hatten vielerorts zu Überschwemmungen geführt. Überhaupt hatte das Wetter beinahe das ganze Jahr über verrückt gespielt. Weder Meteorologie noch Bauernregeln wurden ihm Herr. Im April war es losgegangen: Der wärmste Monat seit 137 Jahren wurde gemessen. Minusgrade im Mai brachten nochmals Schnee bis in die Niederungen und verursachten massive Schäden in Obst- und Gemüseplantagen. Dann rollte eine wochenlange Hitzewelle durch den Hochsommer. Die Dürre griff mit ihrer trockenen Hand nach allem, was die Kälte überstanden hatte. Die Bauern waren gezwungen, per Hubschrauber Wasser ins Oberland und auf die Alpen fliegen zu lassen, damit Kühe und Geißen nicht verdursteten. Und was an Weizen, Gerste, Dinkel und Mais noch stand, wurde durch tornadoartige Stürme und Starkregen plattgemacht. Das Bundesamt für Landwirtschaft erhöhte notfallmäßig die Kontingente für die Einfuhr von Agrarerzeugnissen, um die Nahrungsmittelversorgung der Schweiz sicherzustellen.

Nun war der Jagisbach am Montag über sein Bett hinausgetreten. Er schoss neben der Kirche, die auf einem Hügel stand, vorbei ins Große Moos und das Wasser bildete eine ansehnliche, gefrorene Lache. Ganz zur Freude der Kinder und Jugendlichen, die im Schneegestöber Schlittschuh liefen.

Kurz bevor es Nacht wurde, tanzten die letzten Schneeflocken davon und die kalte Luft ermöglichte noch einen Blick nach Osten über die sich leicht senkende Moosebene. Bis hin zum rund sechs Kilometer entfernten Schwarzen Forst. Die verschneiten Baumwipfel des konisch aufsteigenden Wohleyberges waren knapp zu erkennen, wenn man die Augen zukniff. Trotz der tiefhängenden Wolken.

Die Dämmerung schlich heran und leerte das Eisfeld. Kirchensigrist Tobias Kupfernagel kontrollierte, dass die jungen Leute nichts liegen gelassen hatten. Mitten im Rundgang blieb er stehen, blickte zum Himmel Richtung Nordwesten, wie einer, den eine düstere Vorahnung quält. Ein Schwarm Krähen flog über ihn hinweg. Dann stieg der Kirchendiener seines Asthmas wegen langsam den Hügel hinauf in die Kirche.

Auf der Orgelempore zog der große, hagere Mann mit den eingefallenen Wangen einige Register, setzte sich gebückt an den Spieltisch, legte bedächtig seine Hände auf die Manuale und schloss die Augen. Kurz darauf hallte es durch das Mittelschiff. Spielend und singend schaute Kupfernagel zum Kirchenfenster hinaus und das Glas spiegelte seine Augen, in denen etwas Rätselhaftes lag:

»It’s time for me to break away, from what I once had been. Through the years I felt and saw like every other man. What can I become? What will I find in me? …«

Dunkel ruhte das Dorf Cappellen mit seinem Weiler Hübeli auf einem malerischen Rücken der unteren Süßwassermolasse, den urzeitliche Flüsse vor fünfundzwanzig Millionen Jahren aus mitgerissenem Geröll der Westschweizer und Savoyer Alpen gebildet hatten. Kupfernagel lauschte dem letzten verklingenden Ton. Würde auch die Erde bald so verklingen durch die Hand der Menschen, die es als ihre Aufgabe ansahen, zu herrschen und nicht zu bewahren? Die vordrängende Winternacht zündete erste Lichter an und wechselnde Schattenrisse in Fenstern zeugten von geschäftigem Treiben in den Häusern.

Donnerstag, 12. Dezember, 17:10 Uhr,Cappellen, Weiler Hübeli

Die Kälte hatte in den letzten Tagen Eisblumen auf das Küchenfenster gemalt, die Anna mit einem Lächeln betrachtete, während sie ihre Balletttasche abstellte. Ihr Zeigefinger folgte den feinen Linien.

Am Küchentisch knetete Annas Mutter, Rhea, Teig für Mailänderli. Annas Lieblingsguetzli.

Das Küchenradio spielte leise Bachs »Kleines harmonisches Labyrinth«. Rhea zog die Augenbrauen hoch, stellte den Sendersuchlauf ein und es erklang »Mascagnis Intermezzo Sinfonico«. Sie drückte den Suchlauf nochmals und als der Beat von Wham! anklopfte, drehte sie das Radio lauter. Wie jedes Jahr. Und wie jedes Jahr stimmten beide ein.

Mutter und Tochter liebten Weihnachtslieder und sie sangen »Last Christmas« mit, bis eine energische Männerstimme aus dem Radio drang:

»ACHTUNG, ACHTUNG! An alle Bewohnerinnen und Bewohner im Mittelland, ab morgen Mittag ist mit sehr heftigem Schneefall zu rechnen. Im Verlaufe des Nachmittags wird sich dieser zu einem starken Schneesturm entwickeln. Der meteorologische Wetterdienst geht davon aus, dass innerhalb kürzester Zeit weit über ein Meter Neuschnee fallen wird. Die Polizei bittet Sie deshalb, keine Fahrzeuge mehr zu benutzen, zu Hause zu bleiben und, da heftige Böen zu erwarten sind, ihr Haus zu verbarrikadieren. Der Wetterdienst wird Entwarnung geben, sobald das Unwetter weitergezogen ist.« Dann wandte sich der Radiosprecher an den bekannten Meteorologen Martino Staub:

»Eine solche Wetterlage hat es seit den Aufzeichnungen ab dem Jahr 1864 noch nie gegeben … Was erwartet uns denn da?« Staub räusperte sich:

»Nun ja, zumindest bei uns nicht. Allerdings in Deutschland Ende 1978. Und aus den Erfahrungen von damals lässt sich sagen, dass wir uns auf das Schlimmste einstellen sollten. 28 Tote gab es 1978 während des viertägigen Sturms. Ein stabiles Hochdruckgebiet, von Nordwest her kommend, trifft auf ein außergewöhnlich großes südliches Tiefdruckgebiet mit sehr feuchten, instabilen Luftmassen. Dieses wird die arktische Luft geradezu aufsaugen. Das heißt ab morgen Mittag bricht, aus Nordwesten kommend, sehr kalte Polarluft über dem Mittelland ein. Wir erwarten in den nächsten Tagen zwischen Minus 18 bis Minus 20 Grad oder mehr, lassen Sie sich also von den steigenden Temperaturen morgen Vormittag nicht täuschen … und ja, durch die rasche Abkühlung der feuchten Luft wird orkanartig Schnee vom Himmel fallen, es handelt sich um den ersten Blizzard in der Schweiz, so etwas kennt man sonst nur in Nordamerika und Skandinavien …«

Der Sprecher unterbrach ihn:

»Sie redeten vorhin von 15 cm Schnee pro Stunde. Können denn unsere Hausdächer diesen Schneemassen überhaupt standhalten?«

Der Meteorloge beruhigte den Sprecher und damit wohl auch die Hörer:

»Unsere Häuser sind grundsätzlich robust genug, um dieser Menge Schnee Herr zu werden. Natürlich gibt es immer Einzelfälle. Wichtig ist einfach, alles festbinden, genügend Nahrungsmittel einkaufen, die Fensterläden schließen und warten, bis es vorbei ist. Dann passiert niemandem etwas.« Dann fuhr er jedoch fort: »Allerdings machen uns die Wildtiere erhebliche Sorgen. Der Anfang Dezember gefallene Schnee ist beinhart gefroren. Darauf kommt jetzt der neue Schnee zum liegen. Die Tiere finden kaum noch Nahrung. Nach dem Blizzard gar nichts mehr. Morgen wollten Behörden, Tierschutz und Schulklassen eine Fütterungsaktion im Schwarzen Forst durchführen. Daraus wird nun vermutlich nichts. Aufgrund der kommenden Schneemengen dürften die Tiere komplett isoliert werden. Es bahnt sich eine Tragödie an. Viele werden wohl verhungern … Dazu kommt, dass der Wilderer noch immer umgeht, er hat den Wildbestand erheblich dezimiert, seit zwölf Monaten schießt …«

Rhea traten Tränen in die Augen, sie ging zum Radio und stellte den Sender wieder um.

»Bad Moon Rising« von Creedence Clearwater Revival erklang. Sie drehte den Programmknopf weiter und Billy Macks Song »Christmas is all around« ging gerade zu Ende. Ein neuer setzte ein. Zuerst ein Keyboard, dann Kastagnetten und schließlich Roger Hodgson, der davon erzählte, wie magisch ihm alles in seiner Jugend erschienen war.

Rhea und Annas Vater Heinrich liebten Oldies und auch Anna mochte sie, obwohl sie deutschen Hip-Hop, insbesondere die Rapperin Namika, vorzog.

Liebevoll sah sie ihre Mutter an, als sich diese die Tränen aus den Augen wischte, drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe, legte ihre Hände wie Scheuklappen um ihre Augen und versuchte, durch die Schicht von Eiskristallen in die dunkle Nacht zu sehen.

»Mam, fallen die Sternschnuppen bald vom Himmel?«

Rhea, noch immer mit grüblerischem Gesichtsausdruck, streute Mehl auf den Küchentisch und schaute zu ihrer Tochter hinüber:

»Die ersten müsstest du jetzt schon sehen, Liebes. Im Radio sagten sie, sobald es dunkel werde, hagle es Geminiden im Minutentakt.« Dann nahm sie den gelb-glänzenden Teig aus der Schüssel und begann ihn auszuwallen.

»Ich kann aber gar nichts sehen, Mama, es ist viel zu dunkel!«, ulkte Anna. Ihre Mutter schmunzelte.

»Du musst die Blumen zum Schmelzen bringen, hauch sie an, dann kannst du hindurchblicken.« Natürlich war das Anna klar. Ihre Absicht war es gewesen, ihre Mutter auf andere Gedanken zu bringen.

Die junge Frau pustete, bis sie rote Backen bekam und das aufgetaute Wasser die Fensterscheiben hinunterlief. Draußen, in der dunklen, stillen Nacht, glitzerten die Sterne mit der Schneedecke um die Wette. Selbst dem Mond war es zu kalt und es schien, als ob er sich mit den wenigen vorbeiziehenden Wolken bedecken wollte.

Angestrengt suchte Anna den Vorweihnachtshimmel ab.

Bückte sich, schaute abwechselnd durch die untersten Scheiben, stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um durch die obersten zu spähen. Nichts.

»Hab Geduld, Anna. Wenn du Geduld hast, werden sie kommen. Aber nur dann. Und denk daran, wenn du eine entdeckst, hast du einen Wunsch frei. Aber denk auch daran, mein Schatz, du darfst ihn keinem Menschen verraten. Das ist ganz wichtig. Sonst wird er nicht in Erfüllung gehen!«

»Logo, Mam«, lachte diese und zwinkerte ihrer Mutter zu. Das Auf und Ab am Fenster ging so wohl gut zehn Minuten weiter und Anna wollte schon enttäuscht aufgeben, als es weit hinten über dem Schwarzen Forst aufblitzte.

Das weißliche Licht kam aus dem Nichts und blähte sich rasend schnell auf, sodass die Wipfel der Tannen, ja der ganze Forst und die schneebedeckten Felder, hell erleuchtet wurden. Die Kugel raste auf Annas geweitete Augen zu, über das Hausdach hinweg und ihr langer, feuriger Schweif zuckte hinterher. Das Haus erzitterte ob der gewaltigen Luftmasse, die der Meteor mit sich gerissen hatte.

Jäh wurde es still und mit der einsetzenden Stille erklang das knallende Klirren einer berstenden Kugel, die vom Weihnachtsbaum gefallen war. Dann ging das Licht aus. Der Schock ließ bei Mutter und Tochter nur langsam nach. Als aber der wieder einsetzende Strom die Küchenlampe zum Leuchten brachte, huschte ein Lächeln über das Gesicht der jungen Frau und wurde zu einem Grinsen.

»Jetzt kann ich mir etwas Riesengroßes wünschen.«

Obwohl sie längst zu alt war, um daran zu glauben, dass Sternschnuppen Wünsche erfüllten, kam ihr dieser Komet doch wie ein Zeichen vor. Ihr Wunsch musste in Erfüllung gehen.

Es dauerte an diesem Abend noch eine geraume Weile, bevor sich Anna beruhigen sollte. Ihr Vater Heinrich, der erst spät von der Arbeit heimkehrte, brachte sie sogar zu Bett. Als er sie zugedeckt hatte, blieb er noch eine Weile sitzen und Anna erzählte ihm nochmals und mit Inbrunst, wie die riesige Sternschnuppe über das Haus gerast sei. Und grinsend, dass jetzt der größte Wunsch, den es je auf der Welt gegeben habe, in Erfüllung gehen werde. Aber leider könne sie ihm das Geheimnis nicht verraten. Was Heinrich durchaus verstand. Als Anna langsam die Augen zufielen, schlich Heinrich aus dem Zimmer und ließ die Türe einen Spalt offen stehen. Ganz wie in früheren Zeiten.

Anna lag noch lange wach. Wie wohl ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde? Als Kater Django zu später Stunde zu ihr ins Bett schlich, deckte sie diesen halb zu und flüsterte ihm ihr Geheimnis ins Ohr. Und auch, dass nicht nur die eine riesige Sternschnuppe durch die Nacht gerast sei, sondern dass vielmehr eine ganze Familie, die Geminiden, jeden Dezember mit mehreren Hundert Kindern durch das All Richtung Erde flögen, um den Nachthimmel erstrahlen zu lassen. Und dass so, durch die vielen großen und kleinen erfüllten Wünsche, die Welt am Ende ein Stückchen besser würde. Anna stellte sich das gleißende, strahlende Licht der Geminidenfamilie und ihrer Sternschnuppen auf dem Weg durchs All zur Erde vor und schlief, mit dem Kater im Arm, darüber ein.

Donnerstag, 12. Dezember, 17:15 Uhr,Cappellen

Im Hospiz zur Heimat, dem einzigen Landgasthof und Hotel in Cappellen, wechselte am frühen Abend die Türe zur Gaststube von einer Hand in die andere. Kein Platz war mehr frei. Stand einer auf, um zu gehen, setzte sich gleich der nächste hin. Ganz zur Freude von Wirt und Hotelier Paul Lüthy. Es wurde allerhand diskutiert, gejammert und politisiert.

Zu reden gab insbesondere der Wilderer, der seit Monaten Tiere im Naturschutzgebiet schoss und deren Kadaver einfach im Forst liegen ließ. Man spekulierte, ob es wohl ein Auswärtiger oder einer von Cappellen sei. Kirchensigrist Tobias Kupfernagel beendete das Thema und meinte, es gebe halt solche, die das Böse gut heißen und das Gute böse, in deren Köpfen Finsternis herrsche, weil ihr Licht erloschen sei, und bestellte er sich die nächste Grüne Fee.

Heiße Köpfe verursachte dann die weitere Diskussion um die Sondierungsbohrungen der NASRA im Großen Moos, die für den nächsten Sommer angesetzt waren. Das Nationale Syndikat für die Lagerung radioaktiver Abfälle plante die Erkundung des Untergrunds zur Klärung eines potenziellen Tiefenlagers. Die Bauern sprachen von Enteignung des Ackerlandes, Sanitärinstallateur Thomaso Kessler von der Unmöglichkeit eines Lagers aufgrund wasserführender Sandsteinschichten, Elektriker Karl Borer von 3 Millionen Jahren radioaktiver Atommüll-Strahlung. Aufgrund der geologischen Probleme habe weltweit noch kein Land ein Endlager in Betrieb nehmen können. Die Gefahren sehe man an den bis Anfang der 1980er im Atlantik versenkten 115 000 Tonnen Atommüll. Die Fässer würden nun rosten und Radioaktivität ins Meer entweichen. Nur Bauer Ulrich Merck war der Meinung, er würde sein Land der NASRA zur Verfügung stellen, da liege vermutlich ein Heidengeld drin. Die Leute am Stammtisch schüttelten den Kopf. Jonas Raphael, vom Wochenblatt »Der Ruf von Cappellen«, machte eifrig Notizen. Nach einer weiteren Runde Bier kamen alle, außer Merck, zum Schluss, man müsse sich wohl oder übel mit den Grünen, welche an Ostern eine Velodemo gegen die Bohrungen planten, zusammenschließen. Der elegante Herr öffnete genau in dem Moment die Holztüre zur Gaststube, als der Meteor übers Hospiz schoss. Die Tische erzitterten. Die Biergläser kippten, als die Gäste hinauseilten und dabei den Ankömmling um ein Haar umgerannt hätten.

Nur Paul blieb an der Theke stehen. Er schätzte den Mann mit dem markanten Gesicht und dem nach hinten gekämmten, dunklen Haar auf Mitte dreißig. Italiener vermutlich. Hatte was von Cary Grant. Schick gekleidet. Der Gast trug einen schwarzen Wildledermantel mit Biberfell. Darunter einen dunkelgrauen Zweireiher. Hellblaues Hemd und blaue Seidenkrawatte. Und sogar Manschettenknöpfe. Rasch trat der Gentleman auf den Wirt hinter der Schenke zu, stellte den Aktenkoffer hin, streckte ihm die Hand entgegen und grüßte ihn in einwandfreiem Deutsch:

»Guten Abend Herr … Lüthy, nicht wahr?«

»Grüessech Herr, ehm, …« Paul schaute ins Gästebuch:

»Ist jetzt der Nachname Alfonso oder Gabriele?«

Der Mann lächelte den Wirt an und antwortete:

»Gestatten, Gabriele, Alfonso Gabriele. Italienischer Staatsbürger. Ich arbeite für die Italienische Botschaft. Im Konsulat in Bern.«

Gabriele zog den Mantel aus, legte ihn gefaltet auf einen Stuhl, mit dem Label nach oben. Breoni. Eine Marke, die für Tradition und Geschichte stehe, war Gabrieles Meinung. Männergeschichte. Der Anzug eines Mannes, sage etwas über dessen Format und Charakterstärke aus, und Breoni sei eine Botschaft an den, der sie lesen könne. Ein richtiger Mann müsse eine gelassene und zeitlose Eleganz tragen, eine, die Leadership unterstreiche. Kleider von schwulen Designern seien etwas für Frauen, Weichlinge und Homosexuelle eben. Und Jeans gehörten ins Gartenhäuschen, vorausgesetzt, man habe keinen eigenen Gärtner, auch hätten Sneakers nur etwas in der Turnhallengarderobe zu suchen.

Signore Gabriele holte seinen Diplomatenpass aus dem Koffer, legte ihn auf die Theke und eine Karte mit Goldrand darauf.

»Und hier noch meine Visitenkarte.«

Paul zog seine Brille hervor, putzte sie kurz und warf anstandshalber einen Blick darauf:

ICE Istituto colossale per il Commercio Estero

Ufficio Commerciale dell’Ambasciata d’Italia

Vicedirettore Alfonso Gabriele

Elfinstraße 14 · 2999 Berno – CH

Tel.: 0041 (0)31 170 118 99 · Fax: 0041 (0)31 250 119 47

E-Mail: Alfonso.Gabriele@ice.it

Der Wirt sah anerkennend zu Gabriele auf: »Oha, ein Direktor!«

Es war das einzige Wort, das er auf der Karte lesen konnte. »Ja, Vizedirektor der ICE. Wir sind für die internationale Entwicklung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zuständig.«

»Ja«, meinte Paul, »über Wirtschaftsbeziehungen weiß ich auch bestens Bescheid.«

Gabriele setzte ein freundliches, distanziertes Lächeln auf, ohne über den Witz nachzudenken.

Paul hatte Gabriele erwartet. Sein Koch, Sebastiano Conosciuto, hatte ihn schon vor rund einem Monat stolz informiert, dass ihn sein Cousin, ein Diplomat der italienischen Botschaft, besuchen würde.

Nachdem Paul Lüthy das Anmeldeformular ausgefüllt hatte, nahm er den Zimmerschlüssel aus dem Fach und gab ihn Gabriele.

Als er dem Italiener die Koffer in den ersten Stock hochtragen wollte, winkte dieser ab. Ihm wäre lieber, wenn er Sebastiano dieses Rezept bringen würde. Er wünsche dieses Mahl nachher als Abendessen.

Paul öffnete das gefaltete Papier. Er war erstaunt, ja irritiert. Und neugierig. Warum brachte Gabriele seinem Cousin, einem italienischen Spitzenkoch, eine deutsche Anleitung für eine italienische Mahlzeit? Paul schüttelte den Kopf, als er las:

Zutaten für eine Person

1/4 EL Olivenöl

1/2 Knoblauchzehe, klein geschnitten

2 Kleinere frische Tomaten, klein geschnitten

90 g Tomatenmark

1/2 Salsiccia, gegrillt oder gebraten und geschnitten

60 Gramm in Öl gebratene italienische Frikadellen

1/4 EL Trockener Rotwein

1/4 EL Zucker

Zubereitung

1. Das Olivenöl bei mittlerer Temperatur in einem Topf erhitzen.

2. Die Knoblauchzehen beigeben und einige Minuten dünsten (nicht anbrennen lassen).

3. Die Tomaten und Tomatenmark beigeben und 5 Minuten unter ständigem Rühren kochen.

4. Die Salsiccia und die Frikadellen hinzugeben und gut umrühren.

5. Den Rotwein und den Zucker je nach Geschmack zugeben.

6. Den Herd auf kleine bis mittlere Temperatur stellen und mindestens 20 Minuten köcheln lassen. Des Öfteren umrühren.

Paul zuckte mit den Schultern und brachte alles zu Conosciuto. Es nahm ihn Wunder, was dieser dazu sagen würde. Der kleine, glatzköpfige Koch mit der großen Nase strich die Hände an der Küchenschürze ab, die sein Bäuchlein kaschierte und warf einen Blick auf den Zettel. Dann lachte er lauthals:

»Mein Cousin hält sich wohl für Don Vito Corleone.« Dann eilte er, immer noch lachend, an den Herd zurück. »Aber das wäre eine Nummer zu groß für ihn.«

Rund um die Welt

Donnerstag, 12. Dezember, 19:35 Uhr, Russland, Moskau,Avtozavodskaya Ulitsa, Block 23, Gebäude 86

Der Prolog der Oper »La Calisto« drang aus Andrej Pushkas Büro, das sich in der hintersten Reihe einiger ehemaliger Fabrikhallen des Autowerkes Sawod imeni Stalina befand. In der Sowjetzeit hatte es ausschließlich Limousinen für die oberste Elite des Staates produziert.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Autofabrik geschlossen und die Organisation hatte sie zu Tarnzwecken aus der Konkursmasse rausgelöst. Für ein Butterbrot. Die meisten Gebäude waren abgerissen worden. Auf dem 3 Hektar großen Werkareal entstanden Büros, Wohnungen, ein Krankenhaus der GAZPROM, ein Produktionszentrum für Duschtüren, ein Kunstzentrum … In einem Gebäudetrakt hatte sich sogar der Fußballklub Torpedo Moskau eingemietet.

Nur in der Fabrikhalle Nummer 6 wurden nach wie vor klassische SIS-Limousinen hergestellt. Allerdings nur auf Bestellung. Als Verkaufsdirektor war Pushka höchstpersönlich dafür zuständig, dass die Fertigstellung des neuen präsidialen Staatswagens zum Ende des nächsten Jahres klappte. Dem Präsidenten der Russischen Föderation war es zuwider, in einem Mercedes-Benz kutschiert zu werden. Einer westlichen Karosse.

In der letzten halben Stunde hatte Pushka deswegen einige Telefonate erledigt. Natürlich hatte er gedroht. Das konnte er gut. Drohungen wahr werden lassen ebenso. Diese Fähigkeiten waren an der Russischen Militärakademie verfeinert worden. Im Tschetschenienkrieg hatte er es durch sein nicht zimperliches Vorgehen zum Obersten gebracht. Auch diesmal hatte es gefruchtet. Aus dem »Unmöglich« eines Herstellers war eine feste Zusage geworden.

Schlimmer als der Unmut des Präsidenten, sollte sich die Fertigstellung erneut verzögern, wäre der Unmut Seths, seines Vorgesetzten bei der Organisation. Dieser legte Wert auf ausgezeichnete Beziehungen zum Kreml. Ein Versagen könnte zu einer Degradierung im Ranking führen. Pushka stieß schnaubend den Atem aus der Nase. Er war Senior Vice President Asien, die Nr. 3 der Welt! Er hatte anderes zu tun, als Lappalien zu managen. Es gab Probleme mit den 30 Grjasew-Schipunow Maschinenkanonen für die angolesischen MiG-21-Kampfflieger. Verschleißerscheinungen bei den Kanonenrohren. Doch er, Andrej Pushka, hatte seine Beziehungen spielen lassen. Die eidgenössische Rüstungsanstalt HAB, die Helvetica Arma Bellica, würde dieses Problem für ihn lösen. Ihm konnte niemand etwas vormachen. Er war der Seelsorger der Waffenlobby, der Weltmeister des illegalen Waffenhandels.

Pushka dachte ans Essen. Italienisch. La Jar Grigori. Das beste Restaurant in Moskau. Eine der ersten Adressen für die 77 Milliardäre der Stadt. Natürlich auch für die 100 000 Millionäre. Mindestens einmal in der Woche war er dort. Manchmal in weiblicher Begleitung. Dann deutlich jünger und schöner als er.

Aus einem Salon erklang Zigeunermusik und es roch nach Weißem Trüffel, frischer Pasta und heißem Olivenöl, als er an diesem Abend zu seinem Tisch schritt. Italienische Woche. Pushka neigte seinen Kopf – fettige Haare fielen links und rechts des Mittelscheitels in Strähnen nach unten – und strich sich über seinen langen, krausen Vollbart. Ein vorbeieilender Kellner bekreuzigte sich verstohlen. Pushkas tiefliegende, stechenden Augen geisterten über »Il menu.« Wenn es ums Trinken und Essen ging, entschied er sich nur für das Beste. Zum Aperitif ließ sich Pushka eine Flasche Henriques & Henriques Sercial 1971 bringen.

Als die Gänge kamen, schnupperte er intensiv an jedem. Das Essen war vorzüglich.

Gerade als er das Dessert beendet hatte, setzte sich Restaurantmanager Eduard Damke an seinen Tisch und schob ihm einen Zettel zu.

»Andrej, es ist für mich immer eine Ehre und Freude, wenn du uns besuchst. Ich habe erst gestern ein außergewöhnliches Rezept aus der Schweiz erhalten. Ich dachte, du möchtest es vielleicht einmal selbst ausprobieren.«

Die unsicheren Blicke der anderen Gäste nahm Pushka unbewegt zur Kenntnis, als er das Rezept einsteckte.

Donnerstag, 12. Dezember, 18:00 Uhr,USA, New York, Brooklyn, Southwest Street

Das schmale, einstöckige und hundertjährige Haus aus rotem Backstein lag direkt neben dem Prospect Park, auf dessen Gelände im Jahre 1776 in der größten Schlacht des Unabhängigkeitskrieges Hunderte Soldaten ihr Leben gelassen hatten.

Davies Paille fragte sich zum wiederholten Mal, ob es irgendetwas geben konnte, das es wert war, das Leben anderer dafür zu opfern, wie Könige und Regierungschefs es seit Jahrtausenden taten. Das eigene Leben? Ja, es gab höhere Ziele, die das rechtfertigten. Aber das von anderen? Davies schüttelte den Kopf.

Als er sich auf seine Baumwollmatte setzte, war er gänzlich im Hier und Jetzt. Sein Körper fühlte sich wohl, Freude stieg in ihm auf und achtsam atmete er ein und aus. Er war sich seiner Augen, Ohren, seiner Nase und Zunge, überhaupt seines Körpers und seines Geistes vollkommen bewusst. Davies folgte seinem Atem tiefer hinab. Ein stiller Frieden schritt auf ihn zu, umarmte ihn. Glück und Schmerz lösten sich hinter ihm auf. Im Zustand der absoluten Leere manifestierten sich unzählige andere Wesen. Menschen, Tiere, Moose, Gräser, Steine und sogar Mineralien. Er war alle und alle waren er. Alles wurde Eins und Eins wurde Alles. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er sah die Entstehung und Zerstörung Tausender Sterne und Welten. Wie zahllose Lebewesen durch zahllose Geburten und Tode hindurchgingen. Er fühlte ihre Freuden und ihre Leiden. Ihm wurde offenbart, dass Verstehen und Liebe eins waren. Und beides zu Achtsamkeit, richtigem Denken, Reden und Handeln führte. Wesen stiegen in ihm auf, die litten, weil sie nicht wussten und verstanden, dass sie mit allen anderen verbunden und abhängig von ihnen waren. Eine Unwissenheit aus der Angst, Zweifel und Eifersucht, Überheblichkeit, aber auch Zorn und Gier entstanden.

Eine erste, spontane Erkenntnis der Wirklichkeit hatte Davies vor 150 Jahren gewonnen. Infolge einer Prüfung in einer Höhle in der Schweiz. Diese Erfahrung brachte ihm erste Ruhe. Danach vertiefte er seine Einsicht über Jahrzehnte hinweg meditativ und geduldig bis zu seiner Selbstvollendung. Bis zur totalen, beständigen Erleuchtung.

In langen Jahren kämpfte er an vielen Fronten für das Gute. Zuletzt als Rechtsanwalt. Dann gab er diesen Beruf auf. Nicht, dass ihm der Kampf für die Rechte von Diskriminierten gleichgültig geworden wäre. Nur welchen Wert hatte es, Menschen vor Gericht zu vertreten, wenn die Menschheit sich selbst durch ihre falsche Weltanschauung, ihre kriminellen Machenschaften und insbesondere durch ihren zerstörerischen Umgang mit der Erde in den Untergang führte?

Am Tag als er seine Kanzleiräume kündigte, war ein letzter Klient bei ihm aufgetaucht. Charly. New York hatte die Errichtung einer Dekompostierungsanlage als unwirtschaftlich und zu teuer abgelehnt. Obwohl von den 10 500 Tonnen Müll, die in New York täglich anfielen, rund 3200 für eine Dekompostierung geeignet waren. Charly hatte ihm erklärt, dass weltweit jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Abfall produziert wurden, Tendenz steigend. Mehr als 40% davon wanderten auf nichtüberwachte oder illegale Deponien. Schädliche Abfallstoffe wurden ausgeschwemmt, liefen in Flüsse und Meere, versickerten im Grundwasser oder wurden vom Wind verweht. Mit Müll verstopfte Abflüsse führten zu Überschwemmungen. Und die Abfalldeponien gaben – nebst dem Treibhausgas Methan – giftige Gase wie Schwefelwasserstoff, halogenierte Kohlenwasserstoffe wie Vinylchlorid und Stickstoffmonoxid in die Atmosphäre ab, die zu Krebs und weiteren Krankheiten führten. Nur 30% des amerikanischen Mülls wurden recycelt.

Davies nahm den Fall nicht an. Er hatte genug von Kämpfen, die auf dem Papier ausgefochten wurden. Kämpfe, die sich jahrelang hinzogen und deren Siege sich letzten Endes zu oft unlautere Prozessgegner erkauften. Stattdessen ging er bei Charly in die Lehre. Er wollte etwas Praktisches gegen die Umweltzerstörung tun. Etwas Greifbares, etwas rasch Wirksames, etwas, das Hebel- und Signalwirkung hatte. – Innerhalb weniger Jahre baute Davies die größte Kompostanlage der USA auf, die ohne schweres Gerät, nur mit menschlicher Arbeitskraft und Sonnenenergie betrieben wurde. Sein langfristiges Ziel waren autarke Städte, die in engen Netzwerken kleiner kommunaler Kompostanlagen organisches Material nachhaltig rezyklierten. Nachbarn, die gemeinsam ihre Lebensmittelabfälle von Hand kompostierten. Davies war überzeugt, dass lediglich Unwissenheit um die Gefährlichkeit und Entsorgung des Abfalls zu der enormen Müllerzeugung führte. Und dass die Menschen ihr Verhalten ändern würden, wüssten sie nur über alles Bescheid. Aufklärung tue Not. Davies klärte sie auf. Natürlich war das gewissen Leuten ein Dorn im Auge. Denen, die mit der Müllentsorgung eine horrende Menge Geld verdienten. Jetzt war er derjenige, der mit Klagen überzogen wurde, wegen angeblicher Mängel im Bau, Verstößen gegen das Arbeitsrecht und anderen unhaltbaren Vorwänden.

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