Nachspielzeit

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U. D. Müller-Braun

Nachspielzeit

Ein Eintracht Frankfurt-Krimi


Alle Rechte vorbehalten · Societäts-Verlag

© 2020 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Satz: Bruno Dorn, Societäts-Verlag

Umschlaggestaltung: Müller-Braun, Societäts-Verlag

Umschlagabbildung: © Victor Tongdee/Adobe Stock, © sonyachny/Adobe Stock, Heiko Rhode

E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt

ISBN 978-3-95542-396-4

Besuchen Sie uns im Internet:

www.societaets-verlag.de

AUCH MIT DABEI

Netzwerk F_in „Frauen im Fußball“

Handlungskonzept gegen sexualisierte Gewalt im Zuschauer*innensport Fußball

Stella Schrey von Netzwerk F_in im Gespräch

PROLOG

SEVERIN

Lydia? Du musst mir helfen, ich hab Scheiße gebaut“, flüstere ich in das Telefon und im nächsten Moment wird die Tür aufgestoßen. Fuck. Mein Handy fällt wie in Zeitlupe zu Boden, während ich in fünf Pistolenläufe blicke.

Tim! – Ist das Erste, was mir durch den Kopf geht. Ich muss Tim benachrichtigen, dass alles furchtbar schiefläuft. Oder war er schon bei Lydia und begreift, was los ist?

„Hätte ich gewusst, dass ich Gäste erwarte, hätte ich aufgeräumt“, säusle ich und deute auf das Loch, in das ich vor vier Monaten eingezogen bin, um genau diese Kerle zu entlarven. Aber vier Monate sind eine verdammt lange Zeit. Eine, in der die Menschen aufgehört haben, über Severin den Helden zu reden. Eine, in der Lydia keinen Versuch gestartet hat, doch Teil meines Lebens zu werden. Eine, in der ich wieder zu dem geworden bin, was ich einmal war.

„Verarsch uns nicht!“, knurrt einer der Männer in gebrochenem Deutsch.

„Was wollt ihr?“

„Du verschwindest von hier, Gringo.“

„Gringo?“ Es ist nicht gerade der beste Moment, meinen Sarkasmus wiederzufinden. Und doch kann ich es mir nicht verkneifen. Wer ist dieser Typ? Etwa Pablo Escobar höchstpersönlich? Dann ist er definitiv im falschen Land.

„Wir sind nur hier, um dir eine kleine Botschaft mitzuschicken.“ Er kommt näher, steckt seine Waffe weg, weil ich sowieso keine Gefahr für ihn bin, und zieht ein Foto aus seiner Tasche.

Er wartet kurz, genießt meine Hilflosigkeit und seine Überlegenheit, bevor er es mir mit einem schiefen Grinsen reicht.

Eine Frau mit langen blonden Haaren zeigt mir ihr weißes Lächeln. Ich richte meinen Blick auf das Bild, bevor ich wieder zu ihm aufsehe und einen Schritt auf ihn zu mache.

„Ich wusste, etwas stimmt nicht mit dir“, raunt er, als ich auch dann noch weitergehe und lächle, als er seine Waffe wieder zieht. „Du willst sterben. Deshalb bedrohen wir auch nicht dich, sondern sie.“

Ich lache laut auf. Vielleicht, weil sich ein Teil von mir enthüllt fühlt. So, als könnte dieser kleine Bastard mir in die Seele sehen. Doch vor allem, weil ich die Frau auf dem Bild nicht kenne. Aber ich sage nichts. Sollen sie doch glauben, dass sie mich in der Hand haben.

„Das da solltest du untersuchen lassen“, sagt er dann noch, bevor er sich umdreht und seinen Männern den Befehl gibt abzurücken. Mein Blick wandert auf meinen Unterarm, an dem sich irgendein bazillenüberfluteter Tätowierer verewigt hat. Ich mag das Motiv. Ein schwarzer Adler, dessen Flügel sich langsam auflösen und zu Hunderten kleinen Vögeln über meinen Arm fliegen. Aber auch das war nicht meine Wahl. Meine Entscheidung. Es war das Spiel. Die App, die genau das von mir verlangt hat. Und ich habe es getan.

„Severin Klemm!“, schnauzt eine herrische Stimme. Meine Augen wandern zur Tür, wo mehr Bewaffnete erscheinen.

Fuck. Diese Schweine haben dafür gesorgt, dass mich die türkischen Einsatzkräfte festnehmen. Was auch immer ich verbrochen haben soll ...

KAPITEL 1

2 MONATE SPÄTER

SAMSTAG, 2. NOVEMBER 2019, 17.30 UHR

LYDIA

5:1! Papa! 5:1! Wer hätte das erwartet!“ Ich starre immer noch wie paralysiert auf den Videowürfel, der mir beweist, dass ich das hier nicht träume.

„Hättest du das erwartet? Komm, sei ehrlich. Der größte Optimist der Welt hätte wohl nicht damit gerechnet. Und du schon mal gar nicht.“

Ich fühle mein Herz klopfen. Bestimmt dreimal schneller als normal. Gerade haben wir die Bayern nach allen Regeln der Fußballkunst zerlegt. Aus dem Stadion gefegt. Mit unglaublicher Wucht. Genau der Wucht, mit der wir im Mai in London dem großen FC Chelsea alles abverlangt haben. Sogar das Elfmeterschießen. Eine Wucht, die wir verloren geglaubt haben, nachdem die Büffelherde einer nach dem anderen in Madrid, London und Mailand angeheuert hat.

Aber das Besondere an diesem Tag ist eigentlich, dass Papa hier ist. Mit mir.

Als er immer noch nicht auf meine Jubelgesänge reagiert und weiter mit gläsernen Augen auf den Rasen blickt, rüttle ich ihn ein wenig.

„Papa! 5:1 – und dabei haben wir noch letzte Woche in Gladbach mit 2:4 einen aufs Dach bekommen. Und das Pokalspiel auf St. Pauli war in der zweiten Halbzeit auch nicht das Gelbe vom Ei. Aber jetzt: die Wiederauferstehung! 5:1 gegen die allmächtigen Bayern … Eintracht Frankfurt: füüünf! – Bayern: eins!“

Meine Stimme überschlägt sich beinahe. Mit einem schnellen Blick schaue ich mich um. Guckt mich jemand blöd an? Falle ich hier etwa auf? Mir wird ganz blümerant, aber Gott sei Dank: Nein. Alle hier auf der Stadionterrasse sind viel zu beschäftigt mit ihren eigenen Jubelgesängen.

Trotzdem, Lydia Heller! Benimm dich! Auch wenn du heute mal privat hier im Stadion bist, kennen dich die meisten und können ein wenig Contenance erwarten.

„Contenance“, höre ich mich nachbeten. Contenance? Jetzt? Wie soll das gehen? Am liebsten würde ich mir Papas Rolli schnappen und einfach losrennen. Quer durch den VIP-Bereich. Scheißegal, ob sie alle nur so zur Seite springen müssten. 5:1!

Papa ist inzwischen auch wieder unter den Lebenden. Er sitzt aufrecht, fuchtelt wie wild mit seinen Armen umher und eine dicke Träne hat sich gerade auf den Weg Richtung Kinn gemacht. Ich habe ihn lange nicht mehr so gesehen. So aufgekratzt.

„Hab ich dir doch gesagt: Du musst wieder ins Stadion. Du musst einfach einen dicken Strich unter die alte Geschichte machen und endlich wieder hierherkommen. Deine Eintracht spielen sehen.“

Er dreht sich langsam zu mir um, nickt fast unmerklich und ich sehe in zwei Augen, in denen pures Glück ausgelassen herumhüpft.

„Danke, mein Schatz“, murmelt er.

Erleichterung, Freude und unbändige Leidenschaft fließen durch meine Adern. Es hat mich schließlich fast zwei Monate all meine Überredungskünste inklusive doppeltem Hausverbot gekostet, den Sturkopf hierher zu lotsen. Und gar nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Boateng nicht so früh vom Platz geflogen wäre und die Jungs nicht ausgerechnet heute über sich hinausgewachsen wären. Und überhaupt. Egal. Es ist alles perfekt gelaufen und Papa hockt jetzt in seinem Rollstuhl und stammelt nur noch mitgenommen vor sich hin.

„Das war …“, beginnt er. Kurz versagt seine Stimme. „… wie 79. Im Oktober. 3:2 haben wir gewonnen und waren danach Dritter hinter Dortmund und Hamburg und die Bayern nur auf Platz 5. Das Wunder der zweiten Halbzeit war das, glaub mir: Das Wunder der zweiten Halbzeit!“

Er reckt beide Arme nach oben, hält seinen alten speckigen Eintracht-Schal fest umklammert und singt unbekümmert. „Zieht den Bayern die Lederhosen aus, die Lederhosen aus …“ Eine ganze Reihe von Zuschauern, die uns von der anderen Seite aus entgegenkommen, stimmen sofort euphorisch ein und klatschen bestens gelaunt ab.

Seit ich bei der Eintracht als stellvertretende Pressesprecherin angefangen habe, habe ich den VIP-Bereich schon oft in ausgelassener Stimmung gesehen, oh ja, die Mannschaft hat schließlich nicht nur halb Europa begeistert. Aber der Sieg gegen den FC Bayern toppt alles, was ich in den letzten anderthalb Jahren erlebt habe. Heute liegen sich völlig Unbekannte in den Armen, sogar die bornierten Anzugträger, und selbst Offenbacher werden zu Eintracht-Fans. Es stimmt, was Papa immer erzählt hat. Siege gegen die arroganten Bayern kitzeln aus jedem Frankfurter die gesamte Dosis Adrenalin.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir von 121 Spielen gerade mal 33 gewonnen haben. Und sich an den letzten Sieg kaum noch jemand erinnert. Am 20. März 2010 war das. Da haben Tsoumou und Fenin ein paar Minuten vor Abpfiff das Spiel noch gedreht.

Fenin – so hoch gejubelt, so tief gefallen. Fußball kann schon grausam sein, schießt es mir durch den Kopf. Danach folgten in neun Jahren 17 Pleiten. Jedenfalls in der Liga. Im Pokal gab es ja noch das Endspiel in Berlin … Ich muss innerlich grinsen. Schadenfroh grinsen. Was einer stellvertretenden Pressesprecherin eigentlich nicht gut zu Gesicht steht. Aber was soll’s. Eric würde sagen: „Fußball ohne Emotionen ist wie Ramazzotti ohne Eis. Ungenießbar fad!“

„Ja, Papa“, lache ich, „das haben wir gemacht. Ihnen die Lederhosen ausgezogen.“

 

Ich ergreife seine Hand und schwenke mit ihm den Schal, als mir einfällt, dass er ja gerade angefangen hat, eine seiner alten Geschichten zu erzählen. Normalerweise wäre ich einfach drüber weggegangen. Weil ich die meisten seiner Geschichten schon kenne. Vor allem aber, weil ich immer, wenn er von früher erzählt, tief in mir drin Neid spüre. Ich war nicht dabei. Ich musste mich bis zum letzten Jahr mit Aufstiegsfeiern begnügen. Und immer, wenn dieses Gefühl in mir aufkeimt, sage ich mir, man muss in der Gegenwart leben. Nicht in der Vergangenheit.

Aber habe ich nicht eben selbst in der Eintracht-Historie herumgestochert? Vielleicht bieten sich gerade Tage wie heute an, alte Heldengeschichten hervorzukramen?

„Wie war das denn nun damals mit dem Wunder der zweiten Halbzeit? Im Herbst 1979?“

Er holt dankbar Luft. So wie immer, wenn er zu einer seiner Geschichten ansetzt. Jetzt zaubert es mir ein leichtes Lächeln auf die Lippen.

„60.000 waren damals im Waldstadion. Es war ein strahlend schöner Tag und die Bayern haben uns an die Wand gespielt. Nach zwei Toren hätte keiner mehr einen Pfifferling auf unsere Jungs gesetzt. Dann gab es Ecke für die Bayern und – das werde ich nie vergessen – Paule Breitner ist von der Mittellinie aus gemütlich, ach, was sage ich, genüsslich zur Fahne geschlappt. Das gab ein gellendes Pfeifkonzert. Du kannst es dir nicht vorstellen. Wir haben ihn gehasst! Abgrundtief gehasst. Und dann haben Körbel, Nickel und Karger das Spiel innerhalb von nur zehn Minuten gedreht und Jürgen Grabowski hat dem Schnösel eine Lehre erteilt, die sich gewaschen hatte. Stell dir vor: Eckball für die Eintracht und der Grabi schlurft von halblinks Richtung Eckfahne. Zwei, drei Schritte. Fast in Zeitlupe. Genauso wie vorher der Breitner. Aber dann hat er die Beine in die Hand genommen und ist losgelaufen. Auf Zeit spielen – nicht mit Grabi! Das Stadion hat getobt. So geht Fußball, Paule Breitner, haben sie gebrüllt und auch ein paar nettere Worte waren darunter. Das glaubst du aber. Ich werde es nie vergessen. Hätte mir mitten im G-Block fast in die Hose gemacht, so sehr hat mich die Szene bewegt. Der Grabi war in dem Moment für mich der liebe Gott … höchstpersönlich!“

„Da wäre ich gerne dabei gewesen“, seufze ich ein wenig melancholisch, bevor ich mich wieder fange.

„Aber jetzt freuen wir uns an dem, was die Jungs heute hingekriegt haben, nicht wahr?“

Ich beiße mir heftig auf die Unterlippe. Warum kann ich es einfach nicht lassen? Warum muss ich immer schulmeistern? Dabei habe ich mir doch gerade eben noch vorgenommen, es heute mal nicht zu tun. Warum kann ich nicht damit zufrieden sein, dass er einen der schönsten Momente von früher mit dem Jetzt verbindet und einfach nur glücklich dabei ist? Warum will ich immer alles noch perfekter? Das war doch früher nicht so.

Papa hat meine Bemerkung offenbar gar nicht gehört. Er zuppelt an meinem Ärmel. Ich beuge mich zu ihm hinunter. „Weißt du, mein Schatz. Dass du mich überredet hast, wieder ins Stadion zu gehen, das war …“ Er zögert einen Moment. „Echt anständig von dir. Danke dir, Lydia!“ Die zweite Träne macht sich auf den Weg und ich muss ein paar Mal durchatmen. Anständig war wahrscheinlich das höchste Kompliment, das er in den vergangenen 15 Jahren für mich bereitgehalten hat.

Dann sehe ich Eric um die Ecke kommen.

„Ach, Papa!“ Ich schiebe ihm die Eintracht-Mütze etwas tiefer ins Gesicht. Schließlich kann ich mir vorstellen, dass das alte Raubein dem Präsi nicht als Heulsuse begegnen möchte. Nach so vielen Jahren.

„Lydia. Du willst den alten Mann doch wohl nicht vor mir verstecken.“ Erics Stimme erinnert wie immer nach Eintracht-Spielen an eine schonungslose vorabendliche Mischung aus Whisky-Tasting und einer Menge blauer Gauloises. Dabei hat er wahrscheinlich nur zu viel geredet. Wenn er, wie so oft, spätestens um 14 Uhr im Stadion war, gute dreieinhalb Stunden und dazu noch fünfmal „Tor, Tor, Tor!“ gebrüllt hat. Das halten selbst die sprachbegabtesten Stimmbänder nicht durch.

„Klaus Heller ... Alter Freund!“ Eric scheint wirklich berührt. Die kleine Pause zwischen „Heller“ und „Alter“ zeigt es deutlich. Er musste schlucken, bevor er den „Alten Freund“ herausbringen konnte. Und ich weiß besser als jeder andere, besser vor allem als Papa selbst, wie sehr Eric Presfeth viele Jahre danach noch darunter gelitten hat, dass er sich nicht durchsetzen konnte, als es um Papas Job bei der Eintracht ging. Er wusste schließlich auch, dass die Eintracht nicht unschuldig daran war, dass Mama gegangen war. Als ihr klar wurde, dass Papas wirkliche große Liebe immer dieser Verein sein würde.

Sportlich elegant beugt er seinen Blondschopf – die Frage, ob der Presfeth eigentlich seine Haare färbt oder ob er einfach nicht grau wird, habe ich bestimmt schon 100 Mal beantwortet – aus knapp zwei Metern auf 1,30 hinunter.

„Ich würde ja gerne für dich aufstehen, aber ...“ Papa klopft mit beiden Handflächen auf die Reifen seines Stuhls. „Geht gerade nicht. Tut mir leid.“

„Mir auch. Ehrlich. Aber wie ich sehen konnte, bist du ja ganz gut unterwegs mit deinem DAK-Flitzer.“

Ich stoße hörbar Luft durch meine leicht geöffneten Lippen. So, als wollte ich pfeifen, aber es kommt kein Ton dabei heraus. Ich bin oft genug dabei, wenn Papa seine Physiotherapeutin zusammenfaltet, nur weil sie einen wohlgemeinten Scherz über seine Beeinträchtigung macht. Könnte sein, dass die erste Begegnung zwischen dem Eintracht-Präsidenten und seinem ehemals engsten Berater nach mehr als einem Jahrzehnt Funkstille schon nach 20 Sekunden an der Flapsigkeit des Präsidenten scheitert.

Beide Männer schweigen für einen Moment. Dann nimmt Papa die Schirmmütze herunter und zieht Eric mit der Rechten an sich heran. „Kann dich ja mal ’ne Runde fahren lassen, Präsi. Aber Vorsicht: Wenn du zu viel Stoff gibst, fliegst du aus der Kurve.“

Eric lächelt. „Bin dabei. Ich hole mir so ’ne Kiste und dann ballern wir mal ’ne Runde auf der Tartanbahn am Riederwald. Jede Wette: Ich häng dich ab.“

„Nur wenn ich dir genügend Vorsprung gebe. Und das kannst du vergessen. Die Zeiten sind vorbei.“ Papa schaut Eric prüfend an.

„Abgemacht“, jubelt der Präsi und ich denke bereits über die entsprechende Pressemeldung nach. Es wird furchtbar. Ich werde die beiden von dieser Idee irgendwie abbringen müssen.

Eric hat sich wieder aufgerichtet. Er will die nächste Frage wohl eher aus sicherer Distanz stellen. Ich weiß, was kommt. Er hat mir gesagt, er wird Papa auch nach all den Jahren als Freund begrüßen. Aber er wird ihn fragen, warum er sich nie gemeldet hat. Auch Eric hat ein paar Narben in seiner Seele davongetragen.

„Hast lange nichts von dir hören lassen“, bringt er ohne Umschweife heraus. „Sechszehneinhalb Jahre.“

Papa neigt den Kopf, kann zu meiner Verblüffung dem Blick von Eric nicht standhalten und verschanzt sich lieber hinter seiner ollen Schirmmütze.

Mann, Papa, würde ich am liebsten an sein Herz appellieren. Da schiebt er den Kopf langsam in den Nacken und richtet sich dabei so gut er kann auf. „Sechzehn Jahre und fünf Monate, um genau zu sein.“

Die beiden Kerle mustern sich. Jetzt also ist es soweit. Schneller, als ich es erwartet habe. Die Entscheidung steht bevor. Ich weiß das. Kann es spüren. Die kleinen Haare auf meinen Armen richten sich auf. Auch, weil ich das Bild, wie Mama und Papa sich gegenübergestanden haben, bevor sie gegangen ist, wohl niemals vergessen werde. Sie hat sich umgedreht und ist zur Haustüre raus. Ohne ein weiteres Wort. Und ohne jemals wieder ein Wort mit ihm zu sprechen. Mit ihm nicht und mit mir auch nicht. Wahrscheinlich nur deshalb nicht, weil ich wie gelähmt auf der Treppe gesessen habe und nicht hinter ihr hergelaufen bin.

Wird es wieder so kommen? Wird sich auch jetzt einer von beiden einfach umdrehen und gehen? Bitte nicht.

„Machst ’nen guten Job hier, Präsi. Fast so, als wäre ich immer noch an deiner Seite.“

„Wie man es nimmt, Klaus. Wie man es nimmt.“

„Ehre, wem Ehre gebührt. Ich weiß doch genau, wo die Strippen gezogen werden. Das wird heute nicht anders sein als damals. Big Brother is still watching … Hast deine Zunge manchmal nicht im Zaum, aber irgendwie doch alles im Griff. Stimmt’s, mein Freund?“

Die beiden grinsen sich plötzlich an wie zwei 15-jährige Schuljungen, die gerade einen üblen Streich ausgeheckt haben. „Heller, alter Sack! Bier? Oder immer noch Ramazzotti?“, prustet Eric, schiebt mich sanft zur Seite, schnappt sich den Rolli und ist schon mit Papa im Inneren des Businessbereichs verschwunden. „Männerrunde“, johlt er ausgelassen. „Das 5:1 und die Rückkehr des ollen Jedi-Ritters müssen schließlich gebührend gefeiert werden.“

Einen Moment lang stehe ich etwas verloren herum. Papa ist bei Eric in guten Händen und wird wahrscheinlich vor nächstem Mittwoch kein Lebenszeichen mehr von sich geben. Und ich? Heute wartet niemand auf mich. Ich hatte mir schließlich freigenommen, um Papa zu Hause abzuholen und ihn ins Stadion zu bringen. Allein mit dem Rollstuhl – das wäre schon schwierig geworden. Jedenfalls für einen, der sich partout nicht helfen lassen will.

Also nach Hause? Und trübsinnig darauf warten, dass Jens sich irgendwann einfindet? Allein bei dem Gedanken an ihn und seine Vorträge zum Thema Fußball verpufft meine Siegeslaune in Sekundenschnelle. Nein. Auf jeden Fall nicht nach Hause. Das braucht jetzt kein Mensch.

Vielleicht sollte ich Tim anhauen? Nein. Der ist nicht einmal mehr im Stadion. Wird sich wohl mit seinem neuen besten Freund, Severin, in Frankfurt herumtreiben. Kurz nach Abpfiff ist er kommentarlos verschwunden. Severin hat es raus, Menschen für sich zu gewinnen. Immer schön von oben herab.

Sollte ich also einfach zur Pressekonferenz gehen, falls Peter Staudinger Hilfe braucht? Was eigentlich immer der Fall ist. Der Pressesprecher der Eintracht ist ein kluger Kopf, aber merkwürdig unorganisiert.

Aber auch das würde meine Laune gerade nur in den Keller schießen lassen. Dann eben in die Eintracht-Loge. Es wird sich schon der ein oder andere interessante Gesprächspartner finden. Gute Laune haben heute ja schließlich alle. Und spätestens seit der Geschichte im vergangenen Herbst bin ich in den Augen der meisten ein angesehenes Familienmitglied. Auch wenn ich für den Job wohl eigentlich das falsche Geschlecht habe. Kommt mir jedenfalls manchmal so vor. Und als wollte ich mich mit meinen eigenen Taten davon überzeugen, dass es tatsächlich so ist, mache ich mich schnurstracks auf den Weg zur Toilette. Der Fünf-Tore-Jubel hat Spuren hinterlassen. Ein bisschen Aufhübschen wäre nicht falsch.

Oh ja. Ordentliche Spuren, wie ich mit einem Blick in den Spiegel erkennen kann. „Lydia Heller. Wie sehen Sie denn heute aus?“, höre ich mich sagen, während ich den Lidstrich nachziehe und die Lippen spitze. Oh Gott. Ist das etwa … eine Falte? Nein. Wenige Wochen vor ihrem 30. Geburtstag hat Frau noch keine Falten. Ungläubig schaue ich auf einen feinen Schatten, der sich von meinem rechten Lippenrand Richtung Ohr eingegraben hat. Belustigt ziehe ich mit drei Fingern die Haut am Kinn sanft Richtung Hals. Weg. Keine Falte, lächle ich beruhigt und werde brutal aus meinen Gedanken gerissen. Es ist schon unangenehm genug, festzustellen, dass man bei seinen Selbstgesprächen auf der Toilette aus einer Kabine heraus belauscht wird – Scheiße, Lydia Heller! Wie oft habe ich mir geschworen, genau hinzusehen, ob eine der Türen verschlossen ist? Schließlich muss nicht jeder mitbekommen, dass sich die stellvertretende Eintracht-Pressesprecherin ganz gerne mal selbst interviewt. Besonders gerne vor dem Spiegel, weil ja dann aus der Radioreportage ein Fernsehformat wird –, was aber, wenn einem auch noch ein leises Stöhnen ans Ohr dringt?

„Hallo?! Ist da jemand?“ Für ein paar Sekunden halte ich den Atem an. Habe ich mich vertan? Kam das Geräusch von draußen? Vielleicht von irgendeinem johlenden Fan, der sich an seinem hundertsten Bier verschluckt hat und nach Luft japst?

Nein. Kommt es nicht. Es kommt aus der mittleren Kabine.

„Hallo? Geht es Ihnen gut?“

Warum nur sind Frauen immer so leicht zu verunsichern? Warum schnellt ihr Puls bei allem Unbekannten erst mal reflexartig in die Höhe? Wo sind die Erfolge und die daraus resultierende Stärke der Emanzipation der letzten Jahrzehnte geblieben? Haben sich in einer Schrecksekunde in Luft aufgelöst. Einfach weg.

Ich knie mich hin. Versuche, unter der Tür in die Kabine zu schauen.

„Hallo! Was ist denn …?“

„Helfen Sie mir …“ Es ist kaum zu hören. Nur dahin gehaucht. Begleitet von einem ebenso leisen Wimmern. Dann knallt etwas von innen gegen die Tür. Rutscht ein paar Zentimeter nach unten und schiebt sich unter der Tür hindurch. Ein Fuß. Der Fuß einer Frau. Schlank. Klein. Nur der Fuß. Kein Schuh.

 

„Können Sie die Tür aufmachen?“ Keine Antwort. Nur wieder das Wimmern. Ich fühle mich wie betäubt. Irgendwie hilflos. Warum macht sie die blöde Tür nicht auf? Was ist passiert?

Ich reiße mich aus diesem tranceähnlichen Zustand heraus. Springe auf, öffne die Tür der Nachbarkabine mit einem Ruck, steige auf die Kloschüssel und ziehe mich mit beiden Armen an der Trennwand hoch.

Das sieht im Film immer so cool aus, wenn die Kerle mir nichts, dir nichts über solche Wände klettern. Aber die sind ja auch nicht nur 1,60 Meter groß. Für die ist das kein Problem. Für mich schon.

Unter mir stöhnt die Frau wieder auf. Ich kann nur wenig erkennen. Offenbar blutet sie aus einer Wunde oberhalb der rechten Augenbraue. Nicht heftig, aber sie blutet.

Ich kann mich nur mit Mühe halten und würde jetzt viel für eines dieser Urzeitklos geben, wo die Wasserspülung nicht nur hervorragend geeignet ist, um in ihrem Inneren Waffen, Geld oder Drogen zu verstecken, sondern auch, um daraufzusteigen und relativ problemlos über Zwischenwände klettern zu können.

„Sind Sie gestürzt?“ Ein dumpfes Röcheln beantwortet meine Frage. Alkohol, schießt es mir durch den Kopf. Aber sie ist nicht gekleidet wie eine Frau, die ein 5:1 der Eintracht gegen Bayern München mit literweise Bier begießt. Eher Schampus, schätze ich mit einem abschätzenden Blick auf ihr dunkelblaues Kostüm, und fühle mich im gleichen Moment ganz schlecht dabei, über einen anderen Menschen überhaupt so etwas zu denken.

Ich schaue mich um. An der Wand neben der Tür entdecke ich einen dunkelroten Fleck. Blut? Könnte sein. Könnte. Die Frau unter mir bewegt sich und plötzlich kann ich den Schriftzug auf ihrem Jackett sehen. Ganz zart gestickt. CPA. Sie hat die Uniform unseres Caterers an. Warum ist mir das nicht sofort aufgefallen?

„Können Sie die Tür nicht öffnen?“, frage ich und versuche, meiner Stimme einen beruhigenden Ton zu geben. Dabei bin ich alles andere als ruhig. Ich hänge mit meiner halben Brust über einer 1,90 Meter hohen Trennwand, habe kaum Halt, kann mich mit den Füßen nicht abstützen und unter mir liegt eine Frau mit einer Platzwunde am Kopf, die offenbar nicht mal in der Lage ist, die Tür zu öffnen. Ganz ehrlich: Dagegen war es ein Kinderspiel, den Wechsel von Haller zu West Ham zu verkünden.

„Können Sie Ihre Hände bewegen?“, will ich wissen, bekomme aber erneut nur einen gurgelnden Laut als Antwort. „Sagen Sie doch etwas! Irgendetwas!“, klinge ich nun alles andere als beruhigend. Dann gebe ich mir einen Ruck und schiebe mich mit letzter Kraft weiter über die Wand auf die andere Seite.

In diesem Moment reißt jemand unter mir die Tür auf. „Was ist denn hier los?“, ruft eine Frau offenkundig verwirrt. „Helfen Sie mir hinüber“, antworte ich und bin froh, dass sie nicht weiter fragt, sondern meinen rechten Fuß so von unten stützt, dass ich mein anderes Bein über diese verfluchte Wand bugsieren kann. Dann geht es schnell. „Vorsicht!“, kann ich noch rufen, bevor ich ziemlich unsanft zwischen der Porzellanschüssel und der Frau lande. „Rufen Sie bitte jemanden vom Ordnungsdienst“, befehle ich und höre an der zufallenden Tür, dass meine Helferin keine Fragen stellen will.

„Danke“, krächze ich ihr hinterher. Danke, dass sie Hilfe holt, und danke, dass sie keine weiteren Fragen stellt.

Die Frau neben mir stöhnt wieder. Ich versuche, nach ihrem Handgelenk zu greifen. Puls fühlen, habe ich mal im Erste-Hilfe-Kurs gelernt. Und natürlich die stabile Seitenlage … Hier auf dem Klo? Wie soll das gehen? Und der Puls ist auch egal. Sie lebt ja ganz offensichtlich. Aber: Sie muss raus hier, da bin ich sicher. Also schiebe ich meinen Körper langsam mit dem Rücken an der Wand nach oben. Versuche sie dabei auf keinen Fall einzuquetschen und über sie hinweg an den Verschlussmechanismus der Tür zu kommen. Ich schiebe den Riegel auf Grün und ziehe sanft am Griff.

Ihre Beine sind im Weg. Wir kommen hier nicht raus. Warum müssen Toilettentüren nach innen aufgehen? Kneipentüren müssen doch auch nach außen aufgehen. Damit man im Notfall rauskommt. Warum gilt das nicht für Toilettentüren? Verdammt! Warum nicht? In diesem Moment stürzt jemand in den Raum.

„Wir sind vom Ordnungsdienst. Brauchen Sie Hilfe?“, höre ich eine aufgeregte Stimme.

„Wäre nicht schlecht“, antworte ich und kann mir eine kleine Portion Ironie nicht verkneifen. „Hier ist eine Frau, die ist ohnmächtig und ich bin über die Trennwand geklettert, um ihr zu helfen.“

„Was ist passiert?“ Die Frau neben mir hat plötzlich ihre Augen geöffnet und ist außer sich. Sie schlägt wild um sich. So, als müsste sie mich abwehren.

„Beruhigen Sie sich, bitte. Mein Name ist Lydia Heller. Ich habe Sie hier auf der Toilette gefunden. Sie sind verletzt und waren ein paar Minuten ohnmächtig“, rede ich auf sie ein.

„Wo ist er? Ist er noch hier?“ Ihre ängstlich aufgerissenen Augen zeigen deutlich: Hier muss etwas Schlimmes passiert sein.

„Wen meinen Sie? Hier war niemand außer uns beiden. Und jetzt sind ein paar Helfer gekommen. Sie werden versuchen, die Tür zu öffnen.“

„Bitte nicht. Er soll hier nicht reinkommen!“

„Aber wir müssen Sie hier rausholen. Sie bluten und haben einen ordentlichen Schlag abbekommen. Vielleicht haben Sie eine Gehirnerschütterung!“

„Nein. Bitte nicht. Sagen Sie den Männern, sie sollen rausgehen. Sagen Sie es ihnen! Jetzt! Sofort! Raus, raus, raus!“

Ich nehme ihren Kopf in beide Hände und versuche, beruhigend, aber bestimmt, auf sie einzureden. „Frau … wie heißen Sie?“

„Vera. Vera Lichtenthaler.“

„Also gut, Frau Lichtenthaler – Vera. Ich schicke die Männer weg. Ich sage ihnen, sie sollen draußen warten. Okay?“

Die Frau nickt stumm. Ihre Augen schauen mich immer noch voller Panik an und in mir macht sich ein furchtbarer Verdacht breit.

„Vera. War da ein Mann bei Ihnen? Hier auf der Damentoilette?“, frage ich ernst und beobachte ihre Augen ganz genau. Sie sind immer noch angstvoll aufgerissen. So, als wollten sie mir eine schreckliche Geschichte erzählen – können es aber nicht. Weil Augen nur Geschichten erleben. Nicht erzählen.

Sie nickt. Schlägt ihre Hände vors Gesicht und schluchzt laut auf. „Aber ich wollte das doch nicht. Ich habe Nein gesagt! Ich habe klar und eindeutig Nein gesagt.“

„Ist er Ihnen auf die Toilette gefolgt?“ Sie schweigt. Versucht tonlos einen Weinkrampf zu unterdrücken. Ihre Augen sehen mich dabei hilfesuchend an. „Nein?“, frage ich. „Nicht gefolgt? Was dann?“

„Es war doch nur eine Wette. Ein Spaß. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass mich ausgerechnet hier jemand …“ Sie bricht ab und schlägt wütend mit der Faust auf die Wand ein.

„Kennen Sie den Mann?“, will ich wissen und ernte heftiges Kopfschütteln.

„Das war mein erstes Spiel heute. Bin eingesprungen für eine kranke Kollegin. An der Kaffeebar. Wen sollte ich hier schon kennen. Nein. Er war groß. Sehr charmant. Nett. Blaue Augen. Und er hat nach Davidoff gerochen.“

„Davidoff?“ Ich bin überrascht, dass sie sich an dieses Detail erinnert.

„Ja. Davidoff. Das weiß ich genau. Mein Vater hat das auch benutzt: Davidoff Hot Water. Diesen Hauch von Patchouli würde ich immer erkennen.“

Ich höre nur mit einem Ohr zu. Längst ist mein Job in meinem Kopf angekommen. Gedankenfetzen sausen durch mein Hirn. Kann das sein? Ein Übergriff auf eine Frau hier im VIP-Bereich. Von einem unserer Gäste. Während die Eintracht den FC Bayern demütigt. Im Kopf gehe ich die Gesichter durch, die mir auf Anhieb einfallen. Nein. Keinem, den ich kenne, würde ich so etwas Unfassbares zutrauen. Auch, wenn es immer wieder Berichte darüber gibt, dass die Hostessen übelst von den Männern angemacht werden. Ich muss mehr in Erfahrung bringen.

„Was genau ist passiert? Erzählen Sie mir alles. Dann kriegen wir das Arschloch“, flüstere ich Vera ins Ohr, um ihr die Sicherheit zu geben, dass sie nicht allein ist. Ich erschrecke über meinen rüden Ton. Arschloch zählt ganz und gar nicht zu meinem alltäglichen Vokabular. Normalerweise. Jetzt schon.