Tödliche Kunst

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„Hätten Sie ihm zugetraut, dass er sich selbst töten wollte? Hatte Herr von Blümstorf etwas in der Richtung geäußert?“, forschte die Kommissarin weiter, ohne auf den Hinweis zu Anzahl und Laufzeit einzugehen.

„Nein, nein, aber was sollte ich denn sonst denken?“, sie hob entschuldigend die Hände, bevor sie aufstand und auf wackeligen Beinen ins Bad lief.

Gleich darauf hörte Franziska das Wasser laufen und wartete geduldig, bis ihre Zeugin wieder zurückkam und sich gesetzt hatte. „Und wie kam es zu der Ausstellung von Quentin von Blümstorf?“

„Das ist tatsächlich erstaunlich. Quentin war ein junger Künstler, der noch nicht viel von sich reden gemacht hatte. Ich muss gestehen, ich habe erst von ihm gehört, als mich Direktor Engelmann vor etwa acht Wochen bat, ich solle mich um ihn kümmern, weil er zeitgleich zu den Ungarn im ersten Stock die Gelegenheit für eine Ausstellung im Obergeschoss bekommen sollte.“

„Das heißt also“, fasste die Kommissarin zusammen: „Herr von Blümstorf war ein kaum bekannter Künstler, der sehr überraschend eine Ausstellung erhielt, und trotzdem durfte er spätabends seiner Kreativität freien Lauf lassen, die letztendlich zu seinem Tod führte.“ Verena nickte, aber Franziska erkannte, dass sie sich nicht wohl dabei fühlte.

„Frau Tomasko, ich muss Sie das fragen, waren Sie und Herr von Blümstorf mehr als nur“, sie zögerte, „Kollegen?“

„Sie meinen …?“ Fragend blickte Verena die Kommissarin an. „Ha!“, lachte sie dann schrill und überdreht auf, „aber das ist doch wohl nur ein Scherz. Wie kommen Sie darauf?“

„Nun, ich habe das Gefühl, dass Ihnen sein Tod doch sehr nahegeht …“

„Ja, aber ist das denn nicht selbstverständlich?“

Franziska schaute nur undurchdringlich und ließ die Frage fürs Erste auf sich beruhen. „Haben Sie in der Zeit, in der Sie mit Quentin von Blümstorf zusammengearbeitet haben, Freunde, Bekannte oder Kollegen von ihm kennengelernt? Hatte er vielleicht Besuch von jemandem, der sich für seine Arbeiten interessiert?“

„Also, ich habe tatsächlich nur seinen Freund und Kollegen Moritz Haushofer kennengelernt. Die beiden verstehen sich sehr gut.“ Verena hielt inne und korrigierte sich. „Ich meine, sie verstanden sich sehr gut. Er hat oft geholfen, wobei Moritz selbst schon auch sehr interessante Sachen macht.“ Sie lächelte kurz. „Aber Moritz hatte nie Interesse daran, so in der Öffentlichkeit zu stehen wie Quentin.“

„Moritz Haushofer war also sein Freund?“

„Ja, die beiden kannten sich schon seit dem Kindergarten. Waren sozusagen allerbeste Freunde.“

„Und gestern Abend?“, warf Franziska zwischen diese Lobeshymne auf eine Männerfreundschaft ein. „Wo war dieser allerbeste Freund da?“

„Moritz durfte genau wie ich nicht dabei sein, als das große Werk erschaffen wurde.“ Ihr Gesicht spiegelte Zufriedenheit. „Tatsächlich war es sogar Moritz, der zu mir kam und sagte, dass Quentin allein sein wollte.“

„Und was haben Sie daraufhin gemacht?“, fragte Franziska und wunderte sich noch immer, dass ein ausstellender Künstler bestimmen konnte, ob eine Mitarbeiterin die Museumsräume betreten durfte. „Sie sind doch sicher hingegangen und haben von Blümstorf zur Rede gestellt?“

„Nein“, antwortete sie schlicht und rang ihre Hände. „Ich habe dann meine Sachen zusammengepackt und bin nach Hause. Genau wie Moritz.“

„Einfach so?“

„Einfach so! Wissen Sie, ich habe mich tatsächlich auf einen freien Abend gefreut. In den letzten Tagen wurde es häufig spät, und irgendwann hinterlässt das Spuren und …“, sie blickte Franziska an und schien zu erkennen, dass diese sich mit Überstunden auskannte. „Aber was erzähle ich Ihnen. Heute Abend ist Kunstnacht, und in unserem Haus sollten zwei Ausstellungen eröffnet werden“, erinnerte sie noch voller Stolz, bis sie erkannte, dass das inzwischen eher ungewiss war. „Was glauben Sie, findet die jetzt überhaupt noch statt?“

„Darüber gibt es noch keine Entscheidung“, wiegelte die Kommissarin ab. „Aber sagen Sie, wann genau haben Sie das Museum gestern Abend verlassen?“

„So gegen acht vielleicht“, überlegte Verena.

„Und haben Sie dann hinter sich abgeschlossen, oder konnte hier jeder ein- und ausgehen?“

„Weder noch. Helmut Rother, unser Mitarbeiter vom Empfang, hatte den Auftrag zu warten, bis Quentin fertig war, um dann abzuschließen.“

„Das heißt, Herr Rother muss wissen, ob der Künstler noch Besuch erhielt?“, erkundigte sich Franziska vorsichtig, weil sie an eine derartige Möglichkeit bisher nicht gedacht hatte.

„Im Prinzip schon“, bestätigte Verena und Franziska wollte schon zu ihrer nächsten Frage ansetzen, als sie bemerkte, dass mit ihrem Gegenüber eine Veränderung vor sich zu gehen schien. „Frau Tomasko, kann es sein, dass Herr Rother beim Aufbau mitgeholfen hat?“

„Nein, nein, auf keinen Fall, das hätte Helmut nie gemacht, dazu mochte er ihn …“ Nachdenklich ließ sie das Satzende offen, aber ihr Gesicht verriet, dass sie so etwas wie: zu wenig sagen wollte, vermutete Franziska und forschte nach: „Gab es Streit zwischen Herrn von Blümstorf und Herrn Rother?“

„Nein, also ich weiß es nicht. Es ist mehr eine Vermutung.“ Verena straffte ihren Rücken. Sie hatte sich wieder im Griff. „Es ist mir nur aufgefallen, dass Helmut nie heraufkam, wenn wir an dem Ausstellungskonzept gearbeitet haben, und sonst schaut er immer mal vorbei und interessiert sich für meinen Ansatz, schon um den Besuchern die Ausstellung später anpreisen zu können.“

Interessant, dachte Franziska. „Ja gut, dann werde ich ihn einfach danach fragen“, erklärte sie. „Aber von Ihnen wüsste ich gerne, wo ich diesen Freund, Moritz Haushofer, finden kann?“

„Moritz arbeitet um diese Zeit im Schlachthof. Er hat heute Frühschicht, damit er am Abend dabei sein kann.“

„Er ist Metzger?“, wunderte sich Franziska.

„Ja, Metzger. Das ist eine ehrliche Arbeit, oder etwa nicht?“

„Ja, ja natürlich, aber es schien mir doch ein wenig ungewöhnlich, ich meine angesichts des finanziellen Hintergrunds und der gesellschaftlichen Stellung der Familie von Blümstorf.“

„Das stimmt. Aber die Kunst verbindet halt die unterschiedlichsten Menschen.“ Müde schloss sie die Augen, bis ihr etwas einzufallen schien. „Oh je, Moritz weiß ja noch gar nicht, was mit Quentin passiert ist …“

„Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, darum kümmere ich mich. Sie sagten vorhin, dass Sie gegen acht Uhr gegangen sind. Wer außer Ihnen und Herrn Rother konnte davon gewusst haben, dass Herr von Blümstorf so spät noch aufgebaut hat?“

„Außer Moritz, Helmut und mir?“ Sie schien angestrengt zu überlegen. „Auf jeden Fall Direktor Engelmann. Aber man weiß ja ohnehin nie, wer was von wem aufschnappt und in welcher Form dann weitergibt. Es könnte also durchaus sein, dass selbst die Aussteller aus Ungarn davon wussten“, gab sie zu bedenken. „War es das? Ich glaube, ich muss jetzt mal ein bisschen runterkommen. Mir wird das gerade alles zu viel.“

„Ja, ruhen Sie sich aus, ich sage Ihnen Bescheid, wenn es etwas Neues gibt.“ Franziska legte ihre Karte neben Ohrringe und Wasserglas. „Und Sie melden sich bitte bei mir, wenn Ihnen noch etwas einfällt.“

„Das mache ich“, versprach Verena und ließ ihren Kopf auf eines der ausgeblichenen Kissen sinken, während Franziska sich der Überlegung hingab, ob die Museumspädagogin ihr am Ende das Wichtigste verschwiegen hatte. Etwa den Grund dafür, warum Helmut Rother nicht hinaufgegangen war, während sie arbeitete. Und ob er das vielleicht in den gestrigen Abendstunden nachgeholt, den jungen Künstler vielleicht beim Posieren im Draht überrascht und die Gelegenheit genutzt hatte, um so einen Streit ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Sie war gespannt darauf, was er dazu sagen würde.


Auf ihrem Weg hinunter zum Kassenraum, und damit zu Helmut Rother, entdeckte Franziska ihren Kollegen Hannes. Er lehnte in sein Smartphone vertieft an der Wand zwischen zwei Fensterdurchbrüchen, die zum Innenhof gingen. „Na, hat dir dein Schätzchen wieder Fotos von Klein-Franzi geschickt?“, fragte sie frotzelnd, doch Hannes hob nur die Hand, zum Zeichen, dass sie ihn nicht stören solle. „Oh, so wichtig“, stichelte sie weiter und stellte sich neben ihn, um einen Blick auf sein Handy erhaschen zu können. Seit seine Tochter auf der Welt war, besaß Hannes dieses schicke Ding, und seine Frau Sabrina, Polizistin in Elternzeit, wurde nicht müde, ihn mit Schnappschüssen der Kleinen, deren Patentante Franziska war, zu versorgen.

Als Hannes endlich aufblickte, lag ein überlegenes Lächeln auf seinem Gesicht. „Du kannst dir deinen Spott sparen. Schau lieber, was ich entdeckt habe!“ Er reichte ihr sein Smartphone, und Franziska erkannte schnell, dass es sich um ein online gestelltes Interview mit Quentin von Blümstorf handelte. „Wow, nicht schlecht“, kommentierte sie mehrmals, während sie den gesamten Text überflog. In teils heftigen Anschuldigungen rechnete der wenig bekannte Künstler mit einer Maschinerie ab, zu der er dennoch gern gehört hätte, wie Franziska sehr wohl herauslas. Dabei waren die Worte ausgenutzt und ausgebeutet noch nicht einmal die schärfsten. „Da hat einer aber mächtig Dampf abgelassen“, erkannte sie und wollte Hannes schon sein Handy zurückgeben. Doch der forderte nur: „Lies ruhig weiter, das wird noch besser!“

„Das ist ja interessant: Herr von Blümstorf schimpft über die ungarische Delegation! Wie die Adressaten seiner Kritik darauf wohl reagiert haben?“, überlegte sie und blickte ihren Kollegen an, der aber nur mit den Schultern zuckte, weshalb Franziska spekulierte: „Wenn er so unglücklich darüber war, warum hat er die Ausstellung dann überhaupt gemacht?“ Sie reichte Hannes das Gerät zurück. „Und warum klärt er solche Vorwürfe nicht einfach direkt?“

 

„Also, ich an seiner Stelle hätte mich sicher nicht so weit aus dem Fenster gelehnt“, bekannte Hannes.

Diese Aussage quittierte Franziska mit einem Lächeln. Ihr Kollege war dafür bekannt, eher etwas zurückhaltend zu sein, nicht nur beim Ermitteln. Sie dagegen ging gern aufs Ganze, und so war es schon einige Male vorgekommen, dass der besonnenere Hannes sie in letzter Minute aus einer gefährlichen Situation retten musste.

„Ich weiß, was du jetzt denkst“, kommentierte er. „Aber überleg doch mal. Wenn einer noch fast am Anfang steht, dann kann er sich das doch eigentlich nicht leisten.“

„Das stimmt. Aber vielleicht dachte er, wenn er solche Dinge anprangert, dann bringt er etwas in Gang, wofür man ihn in der Kunstszene achtet.“ Franziska sah sich kurz um, aber es war niemand in der Nähe. Trotzdem sprach sie weiterhin mit gesenkter Stimme. „Wenn ich nicht wüsste, dass es kein Suizid sein konnte, würde ich glatt annehmen, dass er seinen Abgang doch selbst geplant hat und mit einem Paukenschlag aus dem Leben treten wollte.“ Sie blickte ihren Kollegen abwägend an.

„Wenn wir es nicht besser wüssten …“, bekräftigte dieser.

„Hat der Chef das schon gesehen?“

„Nein, ich habe es ja selbst gerade erst entdeckt.“ Über sein Gesicht huschte wieder ein kleines Lächeln.

„Dann solltest du es ihm zeigen“, entschied Franziska, streckte sich und legte ihm die Hände auf die mageren Schultern. Belustigt schaute sie zu ihm auf. „Keine neuen Fotos von Zuhause?“

„Immerhin habe ich den Artikel entdeckt.“

„Stimmt!“ Franziska zog ihn mit sich in Richtung Treppe zum Erdgeschoss. „Komm, ich habe auch einiges herausgefunden.“ Während sie die Treppe hinunterliefen, berichtete sie ihm von ihrem Gespräch mit Verena Tomasko.

„Das heißt, es saß jemand den ganzen Abend an der Kasse …“ Abrupt blieb Hannes stehen und deutete unauffällig die Treppe hinunter, wo der Chef untätig im Lichthof herumstand.

„Haben Sie neue Erkenntnisse?“, begrüßte sie Schneidlinger, der auf ihre fragenden Blicke hin seine Untätigkeit erklärte. „Ich erwarte jeden Moment Oberstaatsanwalt Dr. Schwertfeger, und in diesem Fall bin ich froh, dass er entscheiden muss, wie es heute hier weitergeht.“

„Seit wann denn das?“, entfuhr es Franziska vorlaut, woraufhin Hannes sie in die Seite stieß, doch da hatte sie ihren Ausrutscher schon erkannt. „Tut mir leid!“, schob sie lahm hinterher, was wiederum Schneidlinger zum Schmunzeln brachte.

„Liebe Frau Steinbacher, Sie wissen, ich schätze Sie sehr und tatsächlich liegen Sie nicht so verkehrt. Allerdings bin ich mir auch sicher, dass Sie nicht entscheiden möchten, ob hier heute Abend eine Ausstellung eröffnet wird oder ob Minister und Diplomaten wieder nach Hause geschickt werden.“

„Stimmt“, ließ sich Franziska kleinlaut vernehmen und kniff nun ihrerseits Hannes in die Seite. „Haben Sie schon das Interview mit Quentin von Blümstorf in der heutigen Heimatzeitung gelesen?“

„Interview, was denn für ein Interview?“ Schneidlinger zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Trotz der sommerlichen Temperaturen trug er noch immer sein Sakko, nur dass er inzwischen damit nicht mehr taufrisch wirkte. „Haben die Medien etwa schon über den Vorfall berichtet?“

„Nein, so schnell sind die nun auch wieder nicht. Aber der junge Mann hat wohl kurz vor seinem Tod noch ein Interview gegeben und darin mit der Kunstszene abgerechnet. Sehr forsch!“, klärte sie ihren Chef auf und blickte Hannes an, denn sie erwartete, dass er sein Smartphone weiterreichte, doch stattdessen scrollte er nur durch einige Seiten.

„Interessanterweise wurde der Artikel bereits gestern Abend online gestellt“, ließ er die beiden an seinen Erkenntnissen teilhaben.

„Gestern schon, das würde ja bedeuten, dass sich hier gerade ein Motiv auftut“, erkannte Schneidlinger.

„Und es wurde kurz darauf in etlichen sozialen Medien geteilt“, berichtete Hannes weiter und blickte auf. „Zum Beispiel auf Facebook, und dort hat es bisher 197 Likes bekommen.“

„Nicht schlecht, wenn man auf diese Art von Erfolg aus ist“, kommentierte Franziska. „Und interessant ist auch, dass mir Frau Tomasko gar nichts von den Unstimmigkeiten zwischen Quentin von Blümstorf und einigen Mitgliedern der ungarischen Akademie berichtet hat.“

„Vorsicht, Frau Steinbacher!“, mahnte Schneidlinger und fügte eine Spur leiser hinzu: „Verdächtigen Sie bitte niemanden leichtfertig. Hier geht es auch um politische Interessen!“

Franziska blickte sich um und sah Engelmann oberhalb der Treppe stehen. Er hatte eine Hand auf den Griff der Eisengittertür gelegt, als überlege er gerade, ob er sie nicht verschließen und sich dahinter verbarrikadieren solle.

„Direktor Engelmann scheint mir völlig integer. Er hätte alles getan, um es nicht nach Mord aussehen zu lassen, oder zumindest den Hocker wieder unter den Toten gestellt“, versicherte sie.

„Na endlich“, kommentierte Schneidlinger mit Blick auf die Tür, durch die Dr. Dieter Schwertfeger gerade hereinkam. „Ach, und Frau Steinbacher, bitte sehen Sie zu, dass Sie etwas anderes zum Anziehen für sich auftreiben. Wir sind schließlich die Mordkommission.“ Mit dieser dringenden, wenn auch nicht unfreundlich vorgetragenen Bitte löste er sich von seinem Team, um den Oberstaatsanwalt in Empfang zu nehmen, der sich bereits suchend nach einem Ansprechpartner umsah.

„Mache ich, Chef“, rief sie zackig ihrem Chef hinterher, obwohl sie sicher war, dass er sie nicht mehr hören konnte.

„Wollen wir vorher trotzdem noch mit Helmut Rother reden?“, fragte Hannes und fügte augenzwinkernd hinzu: „Der wird schon nicht gleich in Ohnmacht fallen, wenn er dich so sieht.“


Nachdem die Kommissarin in ihrem farbbefleckten T-Shirt den Raum verlassen hatte und ihre Schritte sich immer weiter den Gang entlang entfernten, blieb Verena still auf dem Sofa liegen und versuchte sich, ganz auf ihren Atem zu konzentrieren. Sie fühlte sich wie ein waidwundes Tier, das immer mehr in die Enge getrieben wurde.

Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, wenn zwischen ihr und Quentin mehr passieren würde und wenn sich aus ihrer Zusammenarbeit Liebe und körperliche Lust entwickelte? Verena seufzte. Jeden Tag hatte sie sich darauf gefreut, ihn zu sehen, selbst als er sie schmerzvoll erkennen ließ, dass sie vergebens hoffte.

Verdammt, Verena, wach auf, schimpfte sie sich. Quentin war tot – und irgendjemand hatte ihn auf dem Gewissen. Bei diesem Gedanken und der Erinnerung an die Kälte seiner Haut erschauderte Verena erneut. Denn sie ahnte, dass sie denjenigen, der für Quentins Tod verantwortlich war, kannte. Zumindest befürchtete sie es. Der Kommissarin hatte sie gesagt, dass sie nach Hause gegangen war und geschlafen hatte. Doch das war nicht die ganze Wahrheit, denn letztlich wusste sie noch nicht einmal, ob sie selbst die ganze Wahrheit dieser letzten Nacht kannte.

Als sie sich jäh aufsetzte, begann sich in ihrem Kopf alles zu drehen und ihr wurde speiübel. Nur mit Mühe konnte sie einen weiteren Brechanfall verhindern. In den folgenden Minuten versuchte Verena, ihre Gedanken auf etwas Schönes zu lenken, auf etwas, das sie von der schrecklichen Begegnung am Morgen hätte ablenken können, aber es wollte ihr nicht gelingen. Einzig ihr Magen beruhigte sich wieder.

Alles an diesem Tag war so unwirklich, als wäre sie in einem schlechten Film und kein Ende in Sicht. Verena stöhnte leise auf. Ihr Kopf dröhnte nach den vielen Fragen der Kommissarin und inzwischen auch von ihren eigenen. Es machte sie fertig, dass sie keine Antworten fand, dass sie nicht wusste, was mit ihr los war, dass sie sich schämte für das, was sie getan hatte, und dass sie die Schuld aus lauter Verzweiflung sogar auf Helmut Rother geschoben hatte. Dabei war doch klar, wenn Rother schuld war, dann trug auch sie eine Teilschuld an Quentins Tod.

„Warum! Warum hast du das getan?“, hatte sie den über ihr hängenden Quentin vor nicht einmal zwei Stunden gefragt. Inzwischen schien es bewiesen zu sein, dass er sein Leben nicht freiwillig beendet hatte. Quentin habe sich gewehrt, hatte die Kommissarin gesagt, und Verena hatte sich gedacht: Natürlich hat er sich gewehrt. Wer würde sich nicht wehren, wenn man ihn aufhängen würde, um an einem Drahtseil baumelnd zu ersticken? Im letzten Moment schlug sie sich die Hand vor den Mund, um einen spitzen Schrei zu unterdrücken. Sie hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte zu sterben, aber sie hatte oft versucht, sich vorzustellen, wie es sein musste, zu erkennen, dass der Tod unausweichlich bevorstand. Und sie glaubte, egal wie kurz diese Zeitspanne anhielt, sie musste grausam und brutal sein. Verena drückte ihr Gesicht mit einem Schluchzen in die ausgebleichten Kissen.

Schon einmal hatte sie den Tod eines Menschen billigend hingenommen, musste sie das bei Quentin nun auch machen? Sagte man nicht, beim zweiten Mal gehe es leichter? Alles geht leichter, wenn man die erste Hürde genommen hat. Von diesem alten Schmerz übermannt blieb sie liegen, bis sich ihr Kampfgeist zu Wort meldete und sie daran denken musste, wie erniedrigend es wäre, wenn Direktor Engelmann sie suchen und in diesem Zustand finden würde. Ausgerechnet er.

Vom Schrecken dieser Möglichkeit aufgescheucht richtete sich Verena auf dem Sofa auf. Es hatte keinen Sinn, weiter ahnungslos auf diesem Sofa zu liegen und sich die Augen aus dem Kopf zu heulen. Sie musste sich der Wahrheit stellen. Jetzt. Ganz egal, wie sie aussah.

Und dazu musste sie herausfinden, was sie in der vergangenen Nacht getan hatte. Ihr Schlafzimmer hatte ihr am Morgen zu verstehen gegeben, dass sie sich mit einem Mann getröstet hatte, und dieser Mann war nicht Quentin gewesen, auch wenn ihr das gefallen hätte. Obwohl …, sie dachte an ihren Streit. Vielleicht auch nicht.

Das meiste waren Vermutungen, nichts als Vermutungen. Aber vielleicht sollte sie genau an diesem Punkt anfangen, nach der Wahrheit und nichts als der Wahrheit zu suchen. Verena hatte die Kommissarin angelogen. Wenn sie dahinterkam, würde sie sich auf ihren Zustand herausreden. Das könnte reichen, um sie zu überzeugen, aber es reichte nicht, um sie selbst zufriedenzustellen.

Verena hatte diesen Job erst Anfang des Jahres angetreten, und als Engelmann ihr den jungen Künstler vorgestellt hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass das eine Prüfung für sie darstellen und Engelmann sie sehr genau im Auge behalten würde. Und obwohl es mit dem verwöhnten Quentin nicht einfach gewesen war, hatte Verena alles gegeben, um aus seinen Werken ein großartiges Ausstellungskonzept zu entwickeln. So hatte sie auch Moritz kennengelernt. Quentin hatte ihn mitgebracht und als seinen Helfer vorgestellt. Beste Freunde, hatten sie ihr erklärt, und Verena hatte schnell bemerkt, wie sehr sich der elternlose Moritz zu ihr hingezogen fühlte. Sie hatte die beiden mit Pizza und Pasta oder deftigen Burgern versorgt, um sie bei der Stange zu halten. Denn längst ging es nicht mehr nur um Quentins Chance, sondern auch um ihre Reputation.

Noch einmal erhob sie sich und lief barfuß über den rauen Klinkerboden bis zum Fenster, und als sie hinausblickte, sah sie unten auf dem Pflaster der Bräugasse den Leichenwagen des Bestattungsunternehmens „Pietät“ von Anton Stadlbauer stehen. Entsetzt lief sie ins Bad und starrte lange in den Spiegel, der an einigen Stellen bereits trübe war und den grauen Untergrund durchschimmern ließ.

Sie tat alles, um ihr Gesicht und ihren Körper jugendlich zu halten. In ihren Schränken stapelten sich die Cremetiegel und Schminkdöschen namhafter Hersteller. Jetzt allerdings mochte sie kaum glauben, dass das Gesicht, das sie zwischen den blinden Flecken ansah, wirklich noch das ihre war. Hastig riss sie ein paar Papierhandtücher aus der Box, feuchtete sie an und rubbelte sich die Schminke herunter. Das war unprofessionell, aber es tat ihr auf eine seltsame Weise gut.

Sie musste raus aus dieser Selbstverleugnung, raus aus diesem muffigen Zimmer, raus aus dem völlig überhitzten Museum mit dem Toten, den sie noch immer an seinem eigenen Galgen hängen sah.

Wieder lief sie zum Fenster und riss es auf, doch die Luft, die hereindrang, war keinen Deut erfrischend. Unten wurde jetzt der Sarg aus Edelstahl eingeladen. Sie würden Quentin in die Rechtsmedizin bringen. Das ahnte Verena, ohne dass man es ihr sagen musste.

 

Und sie ahnte auch, dass die Kommissarin nicht locker lassen würde, bis sie seinen Mörder gefunden hatte. Sie würde sich in die Jagd verbeißen. Eine Frau, die in einem solchen Freizeit-T-Shirt zum Ermitteln ging, verlor keine Zeit. Nur deshalb hatte sie ihr nicht gleich die ganze bittere Wahrheit gesagt. Sie würde es selbst herausfinden oder nachfragen, bis sie ihr alles erzählen würde.

Trotz aller guten Vorsätze schwankte Verena auf dem Weg zurück zum Sofa. Ihr Körper kannte die Wahrheit, er ließ sich nicht betrügen.

Engelmann hatte ihr eingeschärft, die Mär vom Selbstmord zu betonen. Und sie dumme Kuh hatte das auch noch versucht. Glaubte Engelmann wirklich, er könne so mit ihr umgehen? Was glaubte er eigentlich, wer er war? Und wer war sie denn überhaupt in seinen Augen? Eine, die sich an jeden Mann ranschmiss, auch an einen viel Jüngeren, dachte sie bitter. Rother hatte es mitbekommen und sie war sich nicht sicher, ob er es Engelmann erzählt hatte, aber sie musste davon ausgehen.

Und obwohl Engelmann sie nur zu gern scheitern sehen würde, würde er auch alles tun, um die Ausstellung am Abend nicht zu gefährden. Aber nur, weil aus München ein bayerischer Staatsminister und aus Ungarn ein Generalkonsul, ein Generalsekretär und ein Minister a. D. ihr Kommen angekündigt hatten.

Verena lächelte schwach, auch sie freute sich, wenn derartig wichtige oder zumindest wichtig erscheinende Persönlichkeiten das MMK besuchten – die Presse und unzählige Besucher im Schlepptau.

Einige der Künstler waren, wie sie gehört hatte, nicht sehr begeistert davon gewesen, dass zeitgleich mit der ihren auch eine Ausstellung dieses jungen Deutschen eröffnet werden sollte. Und da fragte sie sich jetzt nach Quentins Tod, weshalb er nicht Nein gesagt hatte. Aber Verena kannte auch nicht die ganze Geschichte, mit der Engelmann geködert worden war, sondern nur den Teil, den sie kennen sollte.

Während Verena dieses ganze Hin und Her überdachte, kam ihr noch ein anderes Problem in den Sinn. Die Kommissarin hatte nicht gewusst, ob die Eröffnungen wie geplant durchgeführt werden würden. Würde Engelmann es trotzdem durchsetzen? Nur wenige Stunden, nachdem sie den toten Quentin gefunden hatte, gerade so, als wäre nichts gewesen?

Und was würden die Ungarn dazu sagen, wenn sie erfuhren, dass im Stockwerk über ihren Ausstellungsräumen der Künstler ermordet worden war? Wären sie entsetzt? Oder wären sie insgeheim zufrieden, weil es mit Quentin den Richtigen erwischt hatte?

Verena versuchte, nüchtern zu denken und ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Ein verheultes Gesicht konnte sie sich heute gar nicht leisten. Denn um wenigstens einige ihrer Fragen zu beantworten, musste sie dieses Zimmer verlassen. Und wenn sie das tat, dann sollte niemand sehen, wie sehr sie alles mitnahm. Vor allem Engelmann nicht.

Daher brauchte sie, bevor sie das Museum verlassen konnte, erst noch einen starken Kaffee. Sie schaltete die Maschine ein, die brodelnd und gurgelnd ihre Arbeit aufnahm. Die schwarze Brühe, die gleich darauf aus dem Filter tröpfelte, schmeckte niemandem. Wenn sie einen Kaffee genießen wollte, unternahm sie einen Spaziergang ins Café Unterhaus in der Höllgasse oder ins Café Minoo, das weiter oben am Residenzplatz lag. Sie liebte diese kleinen Ausflüge zwischendurch und die Begegnungen mit den Menschen, die sie dabei traf. Doch heute war der Kaffee Medizin, und da reichte die Brühe, die sie sich einschenkte und mit viel Zucker in kleinen Schlucken trank. Während Koffein und Glukose ihr Gehirn fluteten und ihr einen wahren Energie-Flash bescherten, schmiedete sie einen Plan und hoffte, es würde ihr gelingen, ihn so schnell wie möglich umzusetzen.


Mord, wieso jetzt Mord? Davon war doch nie die Rede gewesen. Nur ein kleiner Spaß sollte es werden. Anderenfalls hätte er doch gar nicht mitgemacht. Dass Quentin jetzt tot war, wollte Helmut Rother nicht so recht gefallen, aber was ging das letztlich ihn an?

Irgendwie waren die ja selbst schuld. Die hatten ihm ja auch alles weggenommen.

Sonst traf es immer ihn und jetzt eben mal die anderen. Vielleicht war die Welt doch gerechter, als er bisher angenommen hatte. Vielleicht auch nicht, denn jetzt stand die Kriminalpolizei vor seinem Tresen und wollte wissen, was er wusste.

Mann und Frau. Beide noch jung.

Der Chef war nicht dabei, aber vielleicht kam der später. Als Chef musst du nicht immer der Erste sein. Chef sein war eine feine Sache.

Er konzentrierte sich auf die Zahlen vor ihm, wobei das nicht so einfach war, denn die Frau fixierte ihn mit ihrem Blick. Das hatte er aus dem Augenwinkel beobachtet, und der Kollege schaute ihn auch die ganze Zeit über an.

Herrgott noch mal, musste das sein, wie sollte man denn dabei ruhig bleiben?

Ihre Fragen kamen Schlag auf Schlag. Sie führte, das kannte er.

Doch er selbst sagte zu alldem: Nichts. Zuerst einmal immer Nichts. Dann konnte man sich auch nicht verquatschen.

Und bei ihm hatten sie es damals schließlich auch so gemacht.

Niemand hatte etwas mitbekommen, niemand etwas gewusst und machen hätten sie sowieso nichts können. Auch die Polizei nicht.

Pech – selber schuld und Tschüss!

War doch eigentlich ganz einfach. Er schwieg, bis man ihm etwas nachweisen konnte. Und dann gab er es halt zu. Aber immer nur so viel, wie sie ohnehin bereits wussten.

Und im Moment wussten sie nichts. Sie nicht und er nicht.

Bloß die Fragen nervten: „Wo waren Sie zwischen 23 Uhr und ein Uhr nachts? Was haben Sie denn die ganze Zeit über gemacht? Sind Sie denn nicht nach oben gegangen, um nachzusehen, wie lange es noch dauern würde? Wussten Sie, was da oben vor sich ging? Und Sie haben Ihren Platz wirklich nicht verlassen? Kann es sein, dass sich jemand an Ihnen vorbeigeschlichen hat?“

Mann, das nervt, würde er zu gern schreien, aber das wäre nicht gut. Besser ruhig bleiben. Er fühlte sich heute sowieso nicht wohl.

„Ich war hier, die ganze Zeit, und nein, ich bin nicht nach oben gegangen, weil es mich nicht interessiert hat, was der da oben für einen Krampf fabriziert hat.“

Die Frau Kommissarin könnte ihm gefallen. Sie war hübsch. Anders als Verena, aber hübsch. Und das T-Shirt gefiel ihm – das hatte was. Er würde ihr gern ein Lächeln schenken, aber das wäre vielleicht nicht so gut, denn ihr Blick verriet ihm, dass man mit ihr grad nicht scherzen sollte.

„Aber wenn Sie behaupten, dass niemand reingekommen sein konnte, dann kämen ja eigentlich nur Sie als Täter infrage“, stellte sie auf einmal fest, und er ärgerte sich, dass er sich ihren Namen nicht gemerkt hatte. Denn dann hätte er jetzt ganz anders antworten können.

Verena hatte ihn abblitzen lassen. Er war nicht gut genug für sie. Klare Ansage. Natürlich. Langfristig war er nie für jemand gut genug. Es war anderen schon immer leicht gefallen, ihn zurückzuweisen. Da wäre er doch der perfekte Sündenbock. Der Richtige, um ihn als Mörder abzuführen. Aber nicht in dieser Sache. Er kannte seine Rechte.

Trotzdem sah es gerade nicht so rosig für ihn aus. Beinahe hätte er gelacht. Als ob es in letzter Zeit überhaupt einmal für ihn wirklich gut ausgesehen hatte.

„Er war irgendwann weg und ich konnte heimgehen!“, gab er zu Protokoll und freute sich, weil sich das ganz gut anhörte. Vage, nichtssagend.

„Wie jetzt? Quentin von Blümstorf ging durch diese Tür?“, wollte der Mann wissen, der die ganze Zeit über still gewesen war. Er kannte ihn vom Sehen. Der ging manchmal mit dem Kinderwagen draußen auf der Bräugasse vorbei. Er hätte ihm gar nicht zugetraut, dass er bei der Kriminalpolizei war.

Sie räusperte sich. Scheiße, er musste etwas sagen. „Nein, also, ja, ich weiß es nicht. Vielleicht.“ Aufmerksam schaute er die beiden der Reihe nach an. Ihre Blicke ruhten auf ihm. Vielleicht dachten sie bereits darüber nach, wie sie ihn als Täter präsentieren konnten. Der Chef würde ihnen die Hand auf die Schulter legen, sicher erst ihr, und sagen: Das ging aber schnell – gut gemacht. Eins mit Sternchen und Beförderung.