Tödliche Kunst

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„Warst du schon mal hier?“, wollte Franziska wissen, während sie am offenstehenden Gitter vorbei die Stufen erklomm. Eine Wand des Treppenaufgangs war komplett mit den Namensschildern derer bedeckt, die hier in den vergangenen dreißig Jahren ausgestellt hatten.

Hannes schüttelte den Kopf. „Nein, aber angeblich sollen Teile des Hauses aus dem 12. Jahrhundert stammen. Und ich weiß, dass es ursprünglich vier Häuser waren, die zusammengefügt wurden. Eigentlich sollten es Sozialwohnungen werden, aber na ja …“ Während Hannes sein Wissen kundtat, blickte Franziska den eben erreichten Flur des ersten Stockwerkes entlang und entschied sich spontan für einen Rundgang.

Die erste Tür auf der linken Seite führte sie in einen großen Raum, der mit dunklen Holzdielen belegt war. Die Decke bestand aus massiven Holzbalken, die Wände waren weiß gestrichen. Zwei Fenster führten in Richtung Donau. In der Mitte stand eine Skulptur mit großen Köpfen, rechts befand sich ein offener Durchgang ins nächste Zimmer, das sie schnell und ohne auf die Ausstellungsstücke zu achten durchquerte. Nach einem weiteren, aber deutlich tieferen Mauerdurchbruch landete sie in einem noch größeren Raum, von dem sie annahm, dass es sich um das zweite ehemalige Haus handelte. Vor den weit geöffneten Fenstern stand ein Rednerpult, während der ganze Saal für den Abend bestuhlt war. Die nächste Tür führte sie zurück in den Flur, der sich an dieser Stelle zu einem offenen Raum weitete und temporär Platz für Tische und Getränkekühlschränke bot. Gegenüber führte sie ihr Rundweg über ein paar Stufen hinauf in einen kleineren Raum, durch dessen Fenster sie auf die Bräugasse hinunterblicken konnte. Auch sie standen weit offen, und sie sah ihr Auto an der Klostermauer stehen.

Franziska sah sich nach Hannes um. „Jetzt weiß ich, was du meinst. Dieses Zimmer hier müsste früher das dritte Haus gewesen sein.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg sie erneut zwei Stufen hinauf und landete auf der nächsten Ebene. Um in einen weiteren Raum zu kommen, musste sie dann wieder eine Stufe hinabsteigen. Überall gab es Holzdielen, überall wunderschöne alte Deckenbalken. Durch eine weitere Tür und eine weitere Stufe gelangte sie zurück in den Flur. Links gab es einen Aufzug und zwei geschlossene Türen, direkt vor ihr lag ihr Ausgangspunkt.

„Können wir?“, wollte Hannes wissen. Er schien nervös zu sein.

„Ja klar, worauf wartest du?“, gab Franziska neckend zurück. „Ich wollte mir ja nur schnell einen Überblick verschaffen. Wenige Augenblicke später betrat sie einen Stock höher abermals das erste ehemalige Haus mit dem Unterschied, dass die Grundfläche hier oben von einem einzigen, großen Zimmer eingenommen wurde, dessen Eingang direkt neben der Treppe lag. Franziska vermutete, dass der untere Bereich wegen einer tragenden Mauer eine andere Aufteilung hatte. Der Durchgang in das rechts davon liegende Zimmer war weniger tief, und der Raum schien auch größer als der untere. Im Unterschied zum unteren Stock gab es hier oben keine Holzbalken, sondern geschwungene Stuckdecken. Die Türstöcke aus Eichenholz wirkten auf Franziska barock und ließen sie einen Moment ehrfürchtig innehalten, bevor sie dem Lärm folgend hindurchging und vor einer skurril anmutenden Klavierinstallation stand, an der ein nur teilweise bekleideter junger Mann hing. Um ihn herum wuselten die Kollegen der Kriminaltechnik, und ein uniformierter Beamter stand an der Tür Wache. Franziska trat näher. Der Tote schien noch keine dreißig zu sein. Er trug eine ausgebleichte Jeans, die von einem Gürtel gehalten wurde. Ansonsten war er nackt, und die Kommissarin überlegte, ob er mit dieser Zurschaustellung seines durchaus ansprechenden Körpers wohl etwas hatte beabsichtigen wollen.

„Hey, Franze, wie siehst du denn aus?“ Franziska wandte sich um und entdeckte ihre Freundin, die im Klinikum arbeitete und auch als Notärztin tätig war.

„Hallo, Freddy, dir auch einen schönen Tag!“ Betont gleichmütig lächelte sie der Medizinerin zu. Denn seit sie im vergangenen Herbst nach einem ausgiebigen Stadtbummel durchgefroren gemeinsam in der Badewanne der Freundin gelandet waren und Freddy ihr erklärt hatte, dass sie kein Interesse an Männern, sondern lediglich an Frauen hatte, wusste Franziska nie, ob sie nicht gerade von ihr angebaggert wurde. „Das ist mein Kollege Hannes. Hannes, das ist Frederike, die neue Notärztin und eine Freundin von mir. Ich glaube, ihr kennt euch noch nicht.“

Hannes wollte ihr die Hand entgegenstrecken, als er jedoch ihre Handschuhe bemerkte, zog er sie rasch wieder zurück.

„Hast du schon irgendwelche sachdienlichen Hinweise oder Erkenntnisse?“, erkundigte sich Franziska nüchtern und musterte dabei den Mann am Drahtseil.

„Also, ich würde sagen, Suizid können wir ausschließen. Er sieht zwar sehr gut trainiert aus, aber ich traue ihm nicht zu, in die Höhe gesprungen zu sein und gleichzeitig seinen Kopf in die Schlinge gesteckt zu haben.“ Die Notärztin blickte von Hannes zu Franziska und zog dabei die Stirn in Falten. Als beide unisono zustimmten, fuhr sie fort.

„Ein weiterer Hinweis sind seine Fingerspitzen.“ Frederike ergriff die beiden Hände des Toten und präsentierte sie Franziska. Die Nägel waren eingerissen, die Fingerspitzen bräunlich eingetrocknet. „Ich schätze, dass er, als sich die Drahtschlinge um seinen Hals zuzog – was im Übrigen sehr schmerzhaft gewesen sein muss – verzweifelt versucht hat, die Finger zwischen Hals und Schlinge zu bringen, um seine Atemwege freizubekommen.“ Resigniert schüttelte sie den Kopf. „Allerdings ist so etwas bei Draht aussichtslos und letztlich wird man dann ja auch ganz schnell bewusstlos.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wer sich selbst töten will, der bleibt einfach hängen und wartet auf den Tod, weil genau das sein Ansinnen ist. Der zappelt nicht und wehrt sich nicht. Das machst du nur, wenn du voller Panik erkennst, dass du gleich am Arsch bist“, erklärte die Ärztin, von der Franziska wusste, dass sie einige Jahre bei Professor Wassly in der Rechtsmedizin in München gearbeitet hatte.

Der Blick der Oberkommissarin ruhte auf den unbekleideten Stellen des perfekten Männerkörpers. „Das heißt, es muss ihn jemand angehoben, ihm die Schlinge um den Hals gelegt und ihn dann fallen gelassen haben“, überlegte sie.

„Dazu muss man ganz schön viel Kraft haben, oder?“, warf Hannes ein.

„Dazu musst du mindestens zu zweit sein. Einer packt den Körper, hebt ihn hoch und weicht gleichzeitig den Abwehrschlägen aus, während ein zweiter ihm die Schlinge um den Hals legt.“ Die Ärztin sah Hannes herausfordernd an. „Aber dann müsste man das sehen.“

„Und was schätzt du? War er vielleicht bewusstlos, und hat sich deshalb nicht gewehrt?“, überlegte Franziska, bis ihr einfiel. „Aber dann hätte er nicht versucht, die Finger unter die Drahtschlinge zu schieben.“

„Richtig!“ Freddy zwinkerte Franziska anerkennend zu. „Meine Vermutung lautet: Der Tote hat sich selbst auf diesen Hocker gestellt“, sie deutete auf einen Klavierhocker, der weit abseits an der Tür zum Flur stand.

„Er soll sich freiwillig die Schlinge um den Hals gelegt haben?“ Hannes blickte skeptisch zwischen dem Hocker und den Füßen des Toten hin und her, als könne ihm das die Wahrheit offenbaren. „Warum sollte er das getan haben?“

„Das könnte uns wohl nur er mit Sicherheit beantworten. Es gibt so viel zwischen Himmel und Erde …“, ergänzte die Ärztin kryptisch und blickte zu Franziska, während sie mit den Schultern zuckte. „Oder, stimmt doch, Franze?“

„Hast du denn schon eine Ahnung, wann es passiert sein könnte?“, wich Franziska aus. Kurz blieb ihr Blick an einer lebensgroßen Stoffpuppe hängen, die in einem Frack steckte, wie sie Dirigenten trugen, bevor sie sich ihrer Freundin zuwandte.

Frederike schenkte ihr ein warmes Lächeln und erklärte: „Da die Totenstarre vollkommen ausgeprägt ist, muss es vor ein Uhr nachts passiert sein. Aber wenn ihr genug gesehen habt, können wir ihn zusammen abnehmen und ausziehen, damit ich ihn mir näher ansehen und die Körpertemperatur exakt messen kann.“ Bevor Franziska mit anpacken konnte, stellte sich Annemarie Michl, die Chefin der Kriminaltechnik, in ihrem weißen Overall zu ihnen.

„Der Titel dieser eigenartigen Installation lautet übrigens Klaviatur des Todes, und interessant ist auch, dass der Erschaffer alles so verbaut hat, dass es einen Menschen tragen konnte“, informierte sie das kleine Grüppchen. „Ich habe mir die Verstrebungen und das Innenleben des Korpus bereits angesehen, weil ich wissen wollte, wie die Konstruktion dieser Wucht, die vom Herumzappeln des Opfers ausging, überhaupt standgehalten hat …“

Annemarie ging auf die andere Seite und rief anerkennend: „So ein altes Klavier wiegt gut und gerne 400 Kilo, und der Querbalken ist so kurz, dass es keine großen Hebelwirkungen gab. Außerdem hat er den Korpus mit großen Steinen befüllt.“ Franziska trat hinzu und blickte in den Kasten. „Siehst du die langen Schrauben? Das war eine Heidenarbeit, den Balken so zu befestigen.“

„Das würde ja heißen: Der Künstler hat ein Werk geschaffen, bei dem nicht die Kunst im Vordergrund stand, sondern die Möglichkeit, tatsächlich einen Menschen aufzuhängen?“ Die Oberkommissarin blickte die Kriminaltechnikerin aufmerksam an.

„Zumindest hat er es so gebaut, dass es nicht nur bei diesem Kandidaten funktionieren würde“, bestätigte Annemarie und deutete auf die an der Wand lehnende Dirigenten-Stoffpuppe. Franziskas Blick schweifte erneut kurz zur Wand mit der lebensgroßen Puppe.

„Soll das heißen, der Künstler hat geplant, jemanden umzubringen?“, fragte Hannes voller Skepsis in der Stimme.

„Wäre auf jeden Fall interessant, genau das den Künstler zu fragen. Und die nächste Frage lautet: Hat der Künstler den Toten gekannt?“, erklärte Franziska. „Haben wir eigentlich schon die Identität des Toten und wer hat ihn überhaupt gefunden?“

 

Die Kriminaltechnikerin deutete in Richtung der Tür, neben der der bereits erwähnte Klavierhocker stand. „Da fragst du am besten Obermüller, der war als einer der Ersten hier und weiß sicher schon mehr darüber.“

„Aber zuerst hilfst du mir beim Abnehmen!“, forderte Frederike energisch, doch noch bevor Franziska sich in Bewegung setzen konnte, wurde sie lautstark unterbrochen.

„So, meine Herrschaften, da bin ich.“ Kriminalhauptkommissar Schneidlinger betrat mit energischen Schritten den Raum, musterte erst den Toten und dann das anwesende Team, bevor er offenbarte: „Quentin von Blümstorf. Ein hübscher Kerl aus wohlhabendem Hause, dem es an nichts gemangelt hat. Zumindest behauptet das Direktor Engelmann.“

„Sprechen Sie von ihm?“ Franziska wies auf den Toten.

„Ja“, bestätigte Schneidlinger. „Opfer und Künstler zugleich, falls das Ihre nächste Frage wäre.“

„Gut“, erkannte Franziska. „Dann wäre das geklärt.“

„Wenn wir ihn vielleicht jetzt herunternehmen könnten“, erinnerte Freddy ungeduldig und blickte Schneidlinger dabei an.

„Ah, Frau Doktor Semmelweis, unsere neue Notärztin! Wir hatten noch nicht das Vergnügen.“ Schneidlinger kehrte seine besten Manieren hervor, deutete einen Diener an und streckte seine Hand in ihre Richtung, bis er sah, dass sie noch die Handschuhe von der Leichenschau trug. „Sie sind aber nicht zufällig …“

„… eine Nachfahrin des großen Ignaz Semmelweis, des Retters der Mütter?“, die junge Ärztin lächelte bescheiden, man sah ihr an, dass sie diese Frage schon sehr oft hatte beantworten müssen. „Und wenn?“, fragte sie kokett.

Schneidlinger lächelte ein wenig überdreht. „Es wird mir eine Ehre sein, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, so oder so“, erklärte er diplomatisch.

„Gut, dann wollen wir beide mal“, meinte sie, und der Kriminalhauptkommissar reichte in Ermangelung einer Ablagemöglichkeit sein Sakko an Franziska weiter, bevor er in seine Handschuhe schlüpfte. Gemeinsam mit der Notärztin hob er den Toten an und wartete, bis Annemarie mit einer Zange den Draht ein gutes Stück über dem Kopf des Toten durchtrennt hatte. Danach legten sie den Leichnam auf eine zuvor ausgebreitete Plane. Nachdem Mona, die ebenfalls zum Team der KTU gehörte, weitere Aufnahmen gemacht hatte, zwickte Annemarie vorsichtig auch den Draht um den Hals des Toten durch und legte so die dünne, rotbraune, an manchen Stellen schon eingetrocknete Strangfurche frei. Mit einem schwarzen Faden verband sie die losen Enden der Schlinge wieder, um später alles bei Bedarf rekonstruieren zu können.

„Hier sieht man sehr schön, dass sich das Opfer, wie ich schon vermutet habe, zu wehren versucht hat“, erklärte die Ärztin an Schneidlinger gerichtet und zeigte auf die Abschürfungen am Hals.

„Also definitiv kein Suizid? Direktor Engelmann hofft inständig darauf.“

„Tun wir das nicht alle?“, mischte sich Franziska ein und reichte Schneidlinger sein Sakko zurück.

Ohne auf diese Frage einzugehen, öffnete die Ärztin Gürtel und Hose und streifte beides über die Beine nach unten. „Hier sehe ich allerdings keine Spuren, die für ein gewaltsames Festhalten sprechen würden“, erklärte sie, nachdem sie den Unterleib des Toten inspiziert hatte, drehte ihn zur Seite und begann mit der rektalen Temperaturmessung.

„Oh, wir haben Glück“, verkündete sie nach einer Weile. „Die Körpertemperatur liegt noch höher als die Umgebungstemperatur.“ Die Ärztin starrte auf ihre Uhr und begann im Kopf zu rechnen. „Ja, wie ich ebenfalls schon vermutet habe: zwischen 23 und 1 Uhr, genauer geht das leider im Moment nicht.“

„Nachts im Museum. Das scheint ja modern zu werden“, kommentierte Franziska und wandte sich an ihren Chef. „Wer hat ihn eigentlich gefunden?“.

„Frau Tomasko, die Museumspädagogin. Sie war für das Gelingen dieser Ausstellung zuständig.“

„… und sie sei sich ganz sicher, dass sich der Künstler selbst aufgehängt habe“, verkündete Obermüller, der gerade zu ihrem Grüppchen hinzugetreten war. „Sagt zumindest Direktor Engelmann.“ Der korpulente Ermittler blickte auf den Toten auf der Plastikplane und zuckte mit den Schultern, als ginge es ihn nichts an.

„Also, das ist doch wirklich …“ Schneidlinger konnte sich gerade noch beherrschen. „Ich spreche noch einmal mit ihm!“, erklärte er mit fester Stimme, blieb aber, wo er war.

„Ja, das sollten Sie, und ich spreche mit Frau Tomasko“, beschloss Franziska, wartete aber darauf, dass Schneidlinger ihre Entscheidung gutheißen würde. Sie blickte zu dem Klavierhocker. „Am Ende hat sie den Hocker weggestellt …“.

„Und sagt deshalb, dass es ein Selbstmord war“, überlegte Hannes.

„Was aber nicht zu den Fingerspitzen passt“, gab Freddy zu bedenken.

„Obermüller, weißt du, wo sich Frau Tomasko gerade aufhält?“, erkundigte sich Franziska und sah zu, wie Annemarie den Hocker in eine übergroße Tüte steckte, um das Verwischen von Spuren zu verhindern.

„Laut Direktor hat sie sich zurückgezogen, weil es ihr nicht so gut geht“, murmelte er. „Ich weiß allerdings nicht, wohin.“

„Das krieg ich raus“, versicherte Franziska.

„Und ich bin dann auch mal weg“, meldete sich die Notärztin zu Wort und raffte ihre Sachen zusammen. „Wenn du mich brauchst, Franze, weißt du ja, wo ich zu erreichen bin.“

Im Gehen hob Franziska die Hand, zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. „Ja, mach ich. Tschau dann.“


Über eine hölzerne Treppe, die für Besucher mit einer dicken Kordel gesperrt war, stieg Franziska ins dritte Obergeschoss des Museums hinauf und gelangte so in den Verwaltungstrakt. In diesem vor der Öffentlichkeit verborgenen Teil des Museums bestand der Fußboden aus roten Klinkersteinen, und auch hier konnte man die verschiedenen Häuser anhand der Übergänge noch immer erkennen, wenn auch nicht so offensichtlich wie unten. Der vor ihr liegende Flur war verwinkelt, die Decken weniger hoch. Entlang der Wände standen Schränke, deren Türen teils schief in den Angeln hingen, Stühle, Kisten und kleine Tische. Es wirkte wie ein Sammelsurium all dessen, was man in den Beletagen des Hauses nicht sehen sollte. Kaum zehn Uhr vormittags, schien das Thermometer hier oben die 30-Grad-Grenze bereits überschritten zu haben, und es war ausgesprochen stickig, was an der Glaskuppel liegen musste, die den Lichthof überspannte und die Sonne ungehindert hereinscheinen ließ. Neugierig trat Franziska an die Brüstung und schaute hinunter. Wenn man sein Leben beenden wollte, wäre es sicher einfacher, hier hinunterzuspringen, als sich an einer Klavierinstallation aufzuhängen, überlegte sie und wandte sich unschlüssig um. Vielleicht konnte ihr Frau Tomasko eine Antwort auf die Frage geben, was Quentin von Blümstorf mit seinem Kunstwerk hatte aussagen wollen, und am Ende mochte sie sogar eine Ahnung davon haben, wer den jungen Künstler so sehr gehasst hatte, dass er ihm diese Art der zur Schaustellung antat.

Um ihre Suche zu starten, hielt sie auf den Raum zu, der ihrer Einschätzung nach über dem Tatort liegen musste. „Museumspädagogik“ stand auf dem Hinweisschild, und Franziska vermutete, dass es sich hier um die Wirkungsstätte der Museumspädagogin handelte. Als sie die Tür einen Spaltbreit öffnete, um hineinzusehen, entdeckte sie am offenen Fenster statt der Gesuchten jedoch Direktor Engelmann. Der Raum an sich war schlicht eingerichtet. Es gab ein paar Tische mit eingeschobenen Stühlen und an einer Wand Sideboards und offene Regale, die mit Büchern, Papierstapeln und verschiedenen Boxen bestückt waren. Engelmann schien sie nicht bemerkt zu haben, denn sein Blick ruhte weiterhin auf Donau oder Oberhaus. Gierig zog er an seiner Zigarette und inhalierte den Rauch tief, bevor er ihn energisch zum Fenster hinausstieß.

Franziska räusperte sich. „Herr Direktor Engelmann!“, rief sie, und der Angesprochene, den sie auf Mitte 50 schätzte, zuckte zusammen, als habe sie ihn gerade bei einer verbotenen Handlung erwischt. „Sie können mir bestimmt weiterhelfen“, mutmaßte sie, worauf Engelmann rasch seine Zigarette in einer kleinen Metalldose ausdrückte, sich umdrehte und Franziska unverhohlen musterte.

„Tut mir wirklich leid, aber heute bin ich nicht in der Stimmung, mich mit jungen Künstlern auseinanderzusetzen“, erklärte er und sein Blick wanderte über ihr T-Shirt, wo er an einem kräftig gelben Farbklecks in Brusthöhe hängenblieb.

In sich hineinschmunzelnd schüttelte Franziska den Kopf. „Kriminaloberkommissarin Franziska Steinbacher, wir hatten uns ja schon kurz in der Halle gesehen“, erinnerte sie ihn und lächelte, um ihm Zeit für ein Zeichen des Wiedererkennens zu geben. „Ich ermittle im Tötungsdelikt Quentin von Blümstorf“, stellte sie sich trotzdem noch einmal ganz formell vor. „Und zu Ihrer Info: Ich hätte eigentlich Urlaub und war im Begriff, einer Freundin beim Renovieren zu helfen. Aber bei ungeklärter Todesursache müssen solche Dinge halt warten.“

„Ungeklärte Todesursache“, echote Engelmann mit einem Kopfschütteln. „Aber, aber“, er kam ein paar Schritte auf sie zu. Schweiß stand auf seiner Stirn. „Das ist doch überhaupt nicht zu beweisen. Wahrscheinlich wurde dem jungen Mann die ganze Geschichte zu groß und darum hat er sich …“ Mit der rechten Hand holte der Direktor die nächste Zigarette aus der Schachtel und führte sie zu seinen Lippen, wo er sie kurz hängen ließ, dann aber wieder in die Schachtel zurücksteckte, in seine Hosentasche griff und ein Taschentuch zutage förderte, mit dessen Hilfe er sein Gesicht trocknete. Unschlüssig zuckte er mit den Schultern, und Franziska vermutete, dass er einfach noch nicht begriffen hatte, was einen Stock tiefer wirklich geschehen war.

„Sie haben Herrn von Blümstorf ja sicher gekannt. Hat er Ihnen gegenüber etwas Derartiges geäußert?“, fragte sie, um zu erkennen, wie Engelmann zu dieser Meinung kam, doch der schüttelte nur den Kopf. „Nein, das hat er nicht, aber ich hatte ja auch nicht viel mit ihm zu tun.“

„Aber Sie als Direktor haben doch sicher gewusst, welche Art Kunst er ausstellen würde, oder etwa nicht?“

„Ich muss zugeben, dass ich diese Entscheidung Frau Tomasko überlassen habe.“ Noch einmal wischte er sich übers Gesicht, bevor er umständlich seine Brille zurechtrückte. „Ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Immerhin beginnt heute im ersten Stock diese durchaus und vor allem politisch bedeutendere Ausstellung, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ Gönnerhaft musterte er die Kommissarin, wobei sein Blick erneut und eine Spur zu lange auf dem gelben Fleck ihres T-Shirts ruhte. Mit einem wissenden Lächeln im Gesicht ging Franziska auf den Direktor zu, bis sie knapp vor ihm stand, und blickte ihm herausfordernd in die Augen. „Nein, ich weiß tatsächlich nicht, was Sie meinen, aber ich erkenne an dieser Aussage, dass Sie nicht einschätzen konnten, ob Quentin von Blümstorf seine Ausstellung über den Kopf wuchs oder nicht.“

„Ich bringe Sie zu Frau Tomasko, dann können Sie das ja mit ihr klären. Verena, also Frau Tomasko, hat ja doch in den letzten Wochen sehr eng mit dem jungen Mann zusammengearbeitet.“

„Sehr gern“, lächelte Franziska und machte ihm Platz, damit er zwischen ihr und einer Tischgruppe hindurch zur Tür gehen konnte.

„Ja, dann folgen Sie mir bitte“, lud Engelmann die Kommissarin mit einer wegweisenden Handbewegung ein. „Wir haben hier oben ein kleines Appartement mit Bad. Einer meiner Vorgänger hat sich dort manchmal häuslich niedergelassen. Inzwischen dient es den Mitarbeitern als Aufenthaltsraum und zum Lagern ausgefallener Stücke“, erzählte er im Plauderton einer Museumsführung. „Auf einem der Regale liegen sogar zwei Leichen, aber keine Angst, die sind schon seit vielen hundert Jahren tot, und über den Grund ihres Todes kann man heute nur noch spekulieren. Ihre Skelette wurden bei den Ausgrabungsarbeiten im Kellergeschoss gefunden … So, da sind wir auch schon.“ Ohne anzuklopfen, öffnete er eine weißlackierte Tür. „Frau Tomasko, hier ist eine junge Dame von der Polizei. Bitte versichern Sie ihr …“ Franziska warf Engelmann einen mahnenden Blick zu, woraufhin dieser verstummte und entschuldigend beide Hände hob. „Tut mir leid“, nuschelte er und wollte sich gerade umwenden, um zurückzugehen.

„Ach übrigens, Herr Direktor, mein Chef sucht Sie, vielleicht könnten Sie sich bei ihm melden. Er ist am Tatort und hat ebenfalls Fragen an Sie.“ Seufzend verschwand Engelmann in den Tiefen des Flurs.

Vorsichtig schloss Franziska die Tür und ließ ihren Blick über Regale, eine Anrichte mit einer Kaffeemaschine samt Zubehör, einzelne Stühle, jede Menge Schachteln und schließlich ein Sofa schweifen, auf dem eine schlanke und ausgesprochen hübsche Frau zwischen altmodischen, lichtgebleichten Kissen halb saß, halb lag. Ihre braunen Haare waren schulterlang. Sie trug ein luftiges Sommerkleid mit Streublumen auf hellblauem Grund, das ihre jugendliche Figur betonte. Im Gegensatz zu ihrer mädchenhaften Aufmachung war sie stark geschminkt und erinnerte Franziska damit eher an Frauen, die von ihrem Mann oder Zuhälter verprügelt worden waren und die Spuren dieser Übergriffe verdecken wollten. Fragte sich nur, was Verena Tomasko zu verbergen hatte.

 

„Ich bin Kriminaloberkommissarin Franziska Steinbacher von der Passauer Mordkommission. Wie fühlen Sie sich?“ Die Tür zum angrenzenden Bad stand einen Spalt offen, und die Luft war von einem säuerlich-schalen Geruch erfüllt, als habe sich gerade erst jemand erbrochen.

„Es geht schon“, räumte die Museumspädagogin ein und erhob sich umständlich vom Sofa, um ihre Besucherin zu begrüßen. Als sie Franziska die Hand entgegenstreckte, zog das Feuer eines Brillantringes, der am Mittelfinger ihrer rechten Hand steckte, diese in seinen Bann. Während sie ihn beeindruckt betrachtete, registrierte sie aber auch das leichte Schwanken seiner Trägerin.

„Bitte setzen Sie sich doch wieder“, bat sie rasch und schenkte ihrem Gegenüber ein warmes Lächeln. „Darf ich?“, Franziska zog sich einen der Stühle heran und setzte sich ihrer Zeugin gegenüber. „Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Ist das für Sie in Ordnung?“

Verena Tomasko ließ sich auf die vordere Kante des Sofas zurücksinken, legte die Hände in den Schoß und versuchte sich ebenfalls in einem Lächeln. „Ja, natürlich. Ich verstehe das gar nicht. Normalerweise bin ich nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, aber …“

„Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe, das, was Sie sich ansehen mussten, lässt kaum jemanden kalt“, versuchte die Kommissarin sie zu trösten. „Und bitte entschuldigen Sie meine Kleidung, aber ich war gerade auf dem Weg zu einer Freundin, um beim Renovieren zu helfen.“ Franziska hatte schon bei Engelmann erkannt, dass das ein guter Einstieg war, um ein Gespräch zu beginnen.

„Oh, das ist aber schade, dass Sie jetzt extra …“

„Ja, schade, aber bei einem ungeklärten Todesfall lasse ich alles stehen und liegen“, versicherte Franziska und hörte die nächste Frage im Geiste, ehe sie gestellt wurde.

„Sie meinen, es war Mord?“ Interessiert beugte sich Verena Tomasko über den Tisch. „Quentin hat sich nicht selbst – also vielleicht nur aus Versehen – sein Leben … genommen?“ Sie blickte auf ihre Hände, die sie umständlich knetete.

„Nein, das können wir ausschließen. Im Gegenteil, er hat alles versucht, um sich zu wehren, aber er hatte keine Chance“, verriet Franziska, und die Zeugin schien diese Erkenntnis zu überdenken. „Haben Sie eine Idee, wer ihm das angetan haben könnte?“ Die Kommissarin schaute nun ebenfalls auf die Hände der Befragten und sah, wie der Ring erneut in den unterschiedlichsten Spektralfarben aufblitzte. Sie wusste nichts über so richtig teuren Schmuck, aber sie vermutete, dass dieses Exemplar ein kleines Vermögen wert war.

Verena hob den Kopf. Entsetzen lag in ihrem Blick. „Nein“, beteuerte sie nachdrücklich. „Ich, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wer Quentin so etwas …“ Vehement schüttelte sie den Kopf und brachte damit ihre auffällig langen, glitzernden Ohrringe zum Klimpern, von denen Franziska annahm, dass es sich dabei ebenfalls nicht um billigen Modeschmuck handelte. „Allerdings kenne ich ihn auch noch nicht lange genug, um mir eine Einschätzung zu erlauben.“ Vorsichtig nahm sie den Schmuck ab und legte ihn auf den niedrigen Tisch zu ihrem Wasserglas, wo sie die einzelnen Goldglieder mit ihren zitternden Fingern so lange hin- und herschob, bis beide Ohrringe exakt nebeneinander lagen. „Die waren schon für heute Abend“, erklärte sie leise und fügte ungefragt hinzu: „Mein Papa hat sie mir nach dem Abitur geschenkt und ich habe immer Angst, ich könnte sie verlieren.“ Kurz ertappte sich Franziska bei der Vermutung, dass Papa Tomasko entweder sehr stolz auf seine Tochter war oder sehr reich oder beides. „Mir zeigte sich Quentin voller Lebenslust, Tatendrang und stets zuvorkommend. Aber wie schon mein Papa immer sagte: Man kann in die Menschen nicht hineinschauen.“

„Frau Tomasko, Sie waren heute Morgen die Erste im Museum und die Erste am Tatort. Haben Sie etwas angefasst oder gar verändert?“

„Ja, ich, ich habe ihn angefasst. Ich konnte nicht glauben, was ich sehe. Aber er war so kalt“, flüsterte sie mit einer Stimme, der das Grauen deutlich anzuhören war.

„Das war sicher schlimm. Aber was ich wissen muss, ist: Haben Sie am Tatort etwas verändert, vielleicht etwas weggenommen oder an einen anderen Platz gestellt?“ Franziska musste aufpassen, denn wenn sie direkt nach dem Hocker fragen würde, könnte die Zeugin am Ende vorgeben: Ach ja, das habe ich ja ganz vergessen. Den habe ich zur Seite gestellt, tut mir leid und so weiter. Andererseits: Hätte sie nach allem, was Direktor Engelmann von ihr erwartete, nicht eher den Hocker unter den Hängenden gestellt und so die Theorie eines Suizids untermauert?

Verena legte die Hände vors Gesicht und seufzte leise, bevor sie berichtete: „Diese ganze Installation – niemand hatte sie vorher gesehen – es war, es war ein Schock für mich. Ich war auf eine Überraschung vorbereitet, habe mich darauf gefreut, aber doch nicht auf so etwas“, erzählte sie stoßweise, bevor ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Die Kommissarin brauchte einen Moment, bis sie die ganze Tragweite dieser Aussage begriffen hatte. „Wie bitte?“, fragte sie schließlich verwundert und versuchte, sich vorzustellen, wie der Künstler allein mit all den Teilen hantierte.

„Als Quentin die Kiste gestern Nachmittag mitten im Raum abstellen ließ, dachte ich tatsächlich, es wäre nur eine Kiste voll irgendwelcher Teile. Ich war natürlich sehr neugierig, aber Quentin untersagte jedem, unter die Abdeckung zu schauen. Niemand sollte sein Werk sehen, bevor es fertig war.“ Mit großen Augen schaute sie Franziska an. „Und als ich ihn gefunden habe, musste ich erkennen, dass es sich um ein Klavier handelte. Die Kiste war in Wirklichkeit der Klavierkorpus, an dem er einen Galgen befestigt hat, um sich aufzuhängen.“ Entsetzt schluchzte sie auf.

Diese Information musste Franziska erst einmal verarbeiten. Wenn das stimmte, was Frau Tomasko ihr gerade erzählt hatte, dann könnte man tatsächlich glauben, Quentin von Blümstorf habe seinen eigenen Tod inszeniert, um mit einem Paukenschlag aus der Welt zu gehen. Warum aber hatte er sich dann gewehrt? Weil Sterben doch nicht so schön war, wie sich das manch jugendliches Gehirn ausmalte? Und dann blieb ja auch noch die Frage nach dem Hocker. Warum hatte der an der Wand gestanden? Der Tote konnte ihn ja schlecht dort hingestellt haben. Am meisten aber wunderte Franziska die Vorgehensweise der Verantwortlichen des Museums. „Ich verstehe nicht, warum nicht Sie oder Direktor Engelmann diese sehr spezielle Installation abgenickt haben, ich meine, sie wäre selbst mit einer Puppe sehr makaber. Ist das denn nicht üblich, dass Sie sich erst die Entwürfe dazu zeigen lassen?“

„Nein, eigentlich nicht, aber wer konnte denn so etwas ahnen?“ Ein Satz, der die Kommissarin in seiner Stereotypie innerlich zusammenzucken ließ. Wie oft hatte sie den schon zu hören bekommen?

„Ich glaube, in diesem Fall kam einfach alles zusammen“, begann Verena nach einer Weile des Schweigens. „Wie Sie sicher wissen, findet heute die Kunstnacht statt. Das ist ein Termin im Passauer Kulturjahr, an dem jeder, der etwas mit Kunst zu tun hat, dabei sein will. Und da das alle tun, versucht natürlich jeder, etwas Besonderes auf die Beine zu stellen.“ Sie blickte Franziska kurz an, doch die signalisierte ihr, fortzufahren. „Aus gegebenem Anlass planten wir für dieses Jahr eine Ausstellung zum Thema: 30 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs. Mit den Mitgliedern der ungarischen Kunstakademie, die das Ganze bestreiten sollten, hatten wir alles längst in trockenen Tüchern. Trotzdem gab es natürlich viel zu tun. Und letztlich werden bei uns ständig Ausstellungen auf- und abgebaut. Wir eröffnen pro Jahr 12 bis 15 Schauen mit ganz unterschiedlichen Laufzeiten.“