Tödliche Kunst

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Von Dagmar Isabell Schmidbauer

Tödliche Kunst

Kriminalroman

Imprint

Tödliche Kunst

Dagmar Isabell Schmidbauer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2020 Dagmar Isabell Schmidbauer

Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de



Freitag

Die Passauer Altstadt war praktisch menschenleer, als die dunkelhaarige Frau an diesem Julimorgen mit zwei Taschen in den Händen die Bräugasse erreichte. Die Hitze des Sommers hatte sich seit Tagen über die Stadt gelegt und die meist alten Mauern der Häuser aufgeheizt. Nicht mehr lange, dann würden die Gäste der Kreuzfahrtschiffe, die unweit am Donaukai vor Anker lagen, die schmalen Gassen der Altstadt füllen, und mit den Touristen kämen der Lärm und der intensive Geruch von schwitzenden Leibern. Es war täglich der gleiche allgegenwärtige Spuk, bis sie zum Abend hin, wie auf ein Zeichen, zu ihrem All-Inclusive-Essen wieder im Bauch der jeweiligen Schiffe verschwanden. Verena kannte diese getaktete Übernahme ihrer Geburtsstadt, hatte sie doch alles täglich von ihrem Arbeitsplatz aus im Blick. Die Stadtführerrouten verliefen zwischen dem Rathaus, dem Dom und der Neuen Residenz. Manche wählten einen Abstecher aufs Oberhaus, und die ungarischen Gäste besuchten das Grab der seligen Gisela, das gleich hier um die Ecke, in der Klosterkirche von Niedernburg, lag.

Verena blieb neben dem Fenster der Pizzeria stehen und seufzte gequält. Zu sagen, sie fühle sich unwohl, wäre eine massive Untertreibung. In Wirklichkeit ging es ihr absolut beschissen und im Nachhinein ahnte sie, dass sie besser im Bett geblieben wäre. Zumindest bis zum Nachmittag.

Mit dem Unterarm wischte sie sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn und stöhnte leise auf. An normalen Tagen hätte es sicher niemanden interessiert, ob sie früher oder später kam, solange sie ihre Aufgaben gewissenhaft erledigte. Doch heute war ein ganz besonderer Tag.

Während sie weiter ging, glaubte sie auf einmal in der Spiegelung der Fenster das schöne Gesicht des Künstlers zu entdecken, den sie momentan betreute. Er sah sie an, wie er es anfangs oft getan hatte. Bestimmt hatte er gewusst, dass er sie mit diesem Blick um den Finger wickeln konnte. Sie hatte alles möglich gemacht, wenn er sie nur so ansah, überlegte Verena. Sie lächelte leicht und spürte, wie allein der Gedanke an ihre gemeinsame Zeit ihren Puls in die Höhe trieb.

Denn das war der wahre Grund, weshalb sie, statt im Bett zu bleiben, auf dem Weg ins Museum Moderner Kunst war. Heute sollte sein großes Geheimnis gelüftet werden, und durch nichts hätte sie sich die Chance entgehen lassen, die erste zu sein, die es zu sehen bekam.

Acht Wochen hatten sie auf diesen Tag hingearbeitet. Acht Wochen voll großer Gefühle, Angst, Schweiß, Streit und Selbstüberwindung. Acht Wochen, in denen sie miteinander gerungen hatten, um für einen großen Traum über sich selbst hinauszuwachsen.

Im Weitergehen spürte sie, wie der dünne Stoff ihres Kleides schweißnass auf Rücken und Bauch klebte. Der Pulsschlag ihres erregten Herzens pochte laut in ihren Schläfen. Vielleicht war es ja doch einfach die Hitze und die Anspannung. Am Abend fand die Passauer Kunstnacht statt. Zwei Ausstellungseröffnungen gab es allein im Museum. Für das Gelingen der einen war sie verantwortlich.

Diese Tatsache war aber noch lange kein Grund für den Schwindel, der sie in der Mitte der Klostermauer erneut zum Stehenbleiben zwang. Verena war lange in diesem Geschäft, sie wusste, was sie tat. Zumindest meistens. Tief durchatmend suchte sie Halt an den rau verputzten Steinen. Gleich hatte sie es geschafft, sie musste nur noch die Straße überqueren, dann stand sie vor der Eingangstür des Museums, holte ihren Schlüssel aus der Tasche und schloss auf.

In der ehemaligen Zufahrt, die die vier Häuser miteinander verbunden hatte, legte sich die kühle Luft auf ihre feuchte Haut und ließ sie erschaudern. Routiniert warf sie einen Blick in den Kassenraum hinüber, aber der Kollege war noch nicht da und damit war auch der Aufzug noch nicht in Betrieb. Außer ihrer Neugierde gab es keinen Grund, schon so früh im Museum zu sein, die ersten Besucher durften erst in zwei Stunden eintreten.

Inzwischen hielt sie sich nur noch mit Mühe aufrecht und war froh, als sie die ersten Stufen und gleich darauf das schwarz gestrichene Eisengitter erreichte, das außerhalb der Öffnungszeiten den Zutritt zu den oberen Stockwerken des MMK versperrte. Halt suchend krallte sie sich mit einer Hand daran fest. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es verschlossen war. Allerdings hatte sie auch nicht damit gerechnet, dass es ihr so schlecht gehen würde.

Langsam ließ sie vom Gitter ab und setzte sich auf eine der kühlen Stufen, um sich auszuruhen. Sie hasste Schwächen wie diese, auch wenn sie sich ihr nur selten in den Weg stellten. Seit ihrer Geburt vor 42 Jahren hatte Verena ein sorgloses Leben geführt und es hatte eigentlich nur ein einziges Mal gegeben, bei dem sie sich ähnlich hilflos und erbärmlich gefühlt hatte wie jetzt hier auf dieser kühlen Steinstufe.

Heute dagegen hatte sie einfach ein Date und das noch nicht einmal mit einem Mann, der sie begehrte, sondern lediglich mit seinem Kunstwerk. Lächelnd lehnte Verena den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Wieder sah sie den mehr als zehn Jahre jüngeren und vor Energie und Lebensfreude fast berstenden Künstler vor Augen, der sie regelmäßig zum Träumen brachte.

Quentin von Blümstorf war ein großer, hübscher Kerl mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Eine Mischung aus Renaissanceprinz und Räuberhauptmann, überlegte sie voller Zuneigung. Seine dunklen, lockigen Haare fielen ihm immer ein bisschen unordentlich in die Stirn, als hätte sie jemand liebevoll mit den Fingern verwuschelt, und wenn sie ihm so begegnete, hoffte Verena noch immer, sie wäre diejenige gewesen. Sie liebte es, Männern durch die vollen Haare zu fahren, und stellte sich gern vor, wie er sie dabei aus seinen vergissmeinnichtblauen Augen ansah. Ein Blick, für den sie hätte töten können. In ihrer Fantasie lächelte er mit seinen sanft geschwungenen Lippen, bis sie ihn nur noch zärtlich küssen wollte. Verena schmachtete ihrer eigenen Fiktion hinterher. Liebevoll streichelte sie ihm in Gedanken über sein markantes und glattrasiertes Kinn. Sie dachte an die vielen Pizzen to go, die sie in der letzten Zeit zusammen direkt aus dem Karton gefuttert und wie sie sich anschließend ungeniert die fettigen Finger abgeleckt hatten – nur eben leider nicht gegenseitig.

„Wie bist du eigentlich zu deinem Namen gekommen?“, hatte sie ihn anfangs gefragt, und er hatte gelacht und übertrieben geheimnisvoll geflüstert: „Einer meiner Vorfahren war ein Ritter der Tafelrunde beim alten König Artus.“ Irritiert hatte Verena ihn angesehen und schließlich laut aufgelacht. Es war schön, so zusammen zu lachen. „Was, das glaubst du mir nicht?“, hatte er voller Ernst den Gekränkten gespielt, bis er ihr plötzlich offenbarte: „Da geht’s dir wie mir. Die Wahrheit geht nämlich so: Meine Ur-Urgroßmutter stammte aus England, und die brachte neben dem innovativen Namen für ihren ersten Sohn auch eine fette Mitgift über den Kanal nach Deutschland.“ Sie saßen nebeneinander auf zwei Kisten und Verena hing an seinen Lippen. Sie liebte solche Geschichten, vielleicht weil ihre eigene ähnlich spannend war. „So kam‘s, dass mein Urgroßvater Quentin schließlich dieses Baugeschäft gründete, das immer größer wurde und das ihm sogar den Adelstitel vom ollen Kaiser Wilhelm persönlich einbrachte. Großvater Quentin war als strammer Deutscher und Kriegsteilnehmer dann allerdings gar nicht mehr so glücklich über das feindliche Namenserbe und hat meinen Vater, obwohl der eine ganze Weile nach dem Krieg auf die Welt kam, nach seinem anderen Großvater Georg genannt. Aber bei meiner Geburt wurde die Familientradition wiederbelebt und jetzt bin ich Quentin der Jüngste – wer weiß, vielleicht ja auch Quentin der Letzte.“

Nach diesem Tauchgang durch die Vergangenheit nestelte Verena ihr Kleid zurecht und versuchte, sich aufzurappeln. Wenn es irgendeinen Sinn hatte, heute so viel früher als alle anderen hier zu sein, dann sollte sie sich jetzt auf den Weg nach oben machen. Sie nahm alle Kraft zusammen, hob den Arm und steckte den Schlüssel ins Schloss.

Als sie das Gitter zur Seite führte, ächzte das Scharnier, als wolle es ihr eine Warnung zuflüstern. Der geschwächten Frau lief ein Schauer über den Rücken. Doch sie war nicht in der Verfassung, auf solche Zeichen zu hören.

Stattdessen stemmte sie sich in die Höhe und nahm ihre beiden Taschen auf. Sie musste weiter. Notfalls auf allen Vieren. So kurz vor dem Ziel würde sie niemals aufgeben, schon aus Prinzip nicht.

Eigentlich war Verena eine Frühaufsteherin und eigentlich brachten sie zwei Tassen stark gebrühter Kaffee immer auf die Beine, aber heute schien ihr, als habe sie Kamillentee geschlürft.

Energisch kämpfte sie sich die letzten Stufen bis ins erste Stockwerk hinauf. Ohne einen Blick in die Ausstellungsräume in dieser Etage zu werfen, lief sie den hellen, mit Sandsteinplatten belegten Flur entlang und weiter bis zur nächsten Treppe. Zum Glück gab es hier kein zweites Eisengitter. „Ich schaff das“, flüsterte sie und zog sich am hölzernen Handlauf die Steinstufen hinauf. Sie spürte die Hitze, die mit jedem Schritt größer wurde, und die Nervosität, die sie dennoch antrieb.

 

In einer Hand hielt sie die Papiertüte mit einem zweiten, in diesem Fall schwarzen und sehr eleganten Kleid für den Abend und ihren Louboutins: spitz, hoch und mit der roten Sohle unverwechselbar. Die teuersten Pumps, die sie besaß. Verena lachte wehmütig auf. Sie hatte alles bis ins kleinste Detail geplant: Die Laudatio, die sie für Direktor Engelmann vorbereitet hatte, Kleid und Schuhe für ihren eigenen Auftritt, sogar bei der Kosmetikerin und ihrem Friseur war sie vorgestern noch gewesen. Doch wenn sich ihr Zustand nicht bald besserte, war alles umsonst gewesen. Das wäre dann der erste wirklich schwere Fauxpas, der ihr in ihrer Karriere passiert war, und sie befürchtete, der Direktor würde nicht zögern ihn gegen sie zu verwenden.

Endlich im zweiten Obergeschoss angekommen, stellte sie ihr Gepäck auf den Boden, strich ein letztes Mal ihr Kleid glatt und sammelte sich für diesen feierlichen Augenblick, den sie ganz allein genießen wollte. Voller Spannung ging sie dem Werk entgegen, das am gestrigen Abend hinter den nächsten Türen ohne Zeugen und Zuschauer entstanden war.

Dabei dachte sie erneut an Quentin, und mit seinem Bild vor Augen erreichte sie den ersten seiner Ausstellungsräume, achtete hier jedoch kaum auf die versammelten Gemälde und Skizzen des Künstlers. Frech, verspielt, innovativ, herausfordernd und ungewöhnlich, um nur einige Attribute zu nennen. Sie sollten den Betrachter in Empfang nehmen, herausfordern, zum Nachdenken animieren. Sie kannte sie alle. Verenas Interesse galt an diesem Morgen einzig der großen Überraschung, die Quentin in den zweiten Raum platziert hatte. Seine Idee hinter dieser Installation war es, Quentin von Blümstorf, den aufsteigenden Stern am Kunsthimmel, wie er lachend erklärt hatte, hinauf ins Universum zu schießen. Mit seinem geradezu charismatischen Blick hatte er sie beschworen, an ihn zu glauben, und sie hatte ihm vertraut.

Während Verena weiterging, knarzte das alte Parkett leise unter ihren Schritten, und die weißgetünchten Wände warfen das Echo zurück. Prüfend sah Verena sich um, aber sie war ganz allein. Ein herrlicher Moment. Sie blickte nach oben zu der wunderbaren Stuckdecke, die in diesem Geschoss auch nach der letzten Renovierung erhalten geblieben war, und auf einmal wurde sie ganz ruhig.

Quentin hatte sie weggeschickt. Er war sich nicht sicher gewesen, ob ihr gefallen würde, was er vorhatte, und Verena hoffte jetzt einfach, dass sie sich für das, was er getan hatte, begeistern konnte. Etwas anderes blieb ihr auch nicht übrig, denn sie hatte versprochen, das Beste aus dem Jungen herauszuholen. Aus einem Jungen, der längst ein Mann war und der doch noch immer so tat, als müsste sich alles nur um ihn drehen.

Kurz bevor sie die geöffnete Tür erreicht hatte, schloss sie die Augen und tastete sich mit einer Hand an der glatt verputzten Wand weiter. Sie atmete tief durch und stellte sich vor, Quentin selbst würde ihr die Sicht nehmen und sie langsam zu seinem Werk führen. Sie spürte die Wärme seiner Hand auf ihrer Schulter und hörte in Gedanken seine Stimme. Verena lächelte und ein lustvoller Schauer rieselte über ihren Rücken. Augenblicklich fühlte sie sich besser.

Ach, wäre das schön, seufzte sie innerlich. Und im Stillen bettelte sie, er möge sie doch nicht so sehr quälen. Obwohl sie genau das, auch bei anderen Gelegenheiten und vor allem bei anderen Männern, so sehr genoss.

Er könnte sie zärtlich auf den Nacken küssen, bevor er ihre Augen freigab, überlegte sie und baute diese innige Geste in ihren Kopfkinofilm mit ein. Und nachdem sie die Augen geöffnet hatte, würde er sie fragen: „Na, was sagst du, meine Liebe, gefällt es dir?“

Verena lächelte glücklich und dachte an jene Tage, als sie sich erst kennenlernen mussten. Damals hatte er sie noch gesiezt und war stets wegen einer neuen Kleinigkeit zu ihr gekommen, um ihren Rat einzuholen. Seither glühte in ihrem Herzen die unerfüllte Liebe zu ihm – bitter und süß zugleich. Noch nie hatte ein Mann sie so sehr fasziniert und war gleichzeitig so unerreichbar für sie gewesen. Ach, wenn sie doch nur seine Liebe sein könnte!

Inzwischen war ihre Neugierde größer als ihre Sehnsucht nach etwas, was nicht in Erfüllung gehen konnte. Doch auch heute würde er sie als Erstes fragen: „Na, meine Liebe, hast du das von mir erwartet?“ Quentin konnte das, einfach so tun, als wäre nichts gewesen.

Langsam öffnete Verena die Augen und starrte voller Entsetzen in den Raum hinein.

Von ihrem Platz hatte sie alles im Blick. Jedes Detail. Jedes verdammte Detail, das sich blitzschnell auf ihrer Netzhaut einbrannte. Obwohl sie sofort die Augen schloss, sah sie immer noch den Raum mit all seinen Abscheulichkeiten vor sich.

Oder war das nur ein Albtraum? Hier oben war es noch heißer als unten in der Bräugasse. Hatte sie das Bewusstsein verloren und bildete sich alles nur ein? Sie öffnete die Augen und ihr Herz galoppierte los, als könne es um ihr Leben laufen.

Verena konnte sich nicht von der Stelle rühren. Sie war wie versteinert. Mit dem Boden verwoben. Wie im Traum war alles völlig surreal. Nichts passte zusammen, nichts entsprach ihren Erwartungen. Es fehlte nur noch, dass sie losfliegen konnte. Bestimmt lag sie in ihrem Bett und … Ich muss aufwachen!, entschied sie. Manchmal funktionierte so ein Wunsch. Heute wünschte sie vergebens.

Am gestrigen Nachmittag hatte sie heimlich einige Teile, die später zu Quentins Installation verbaut werden sollten, inspiziert und sich anschließend so manches zusammengereimt. Doch egal, wie weit sie in ihrer Fantasie gegangen war, nichts, aber auch gar nichts war so verstörend gewesen wie das, was sie in diesem Moment zu sehen bekam.

Halt suchend krallte sie sich mit den Händen am Türrahmen fest. Wellen von Schmerz und Fassungslosigkeit überspülten sie und drohten sie zu ersticken. Sie hatte das Gefühl, der Boden würde sich unter ihren Füßen öffnen und sie in eine unendliche Tiefe saugen.

Sie fiel und fiel und fiel und fiel.

Voller Entsetzen riss sie den Mund auf, konnte aber nicht schreien. Nur ein leises Wimmern kroch langsam ihre Kehle hinauf und ergoss sich zu einem endlosen Klagelaut in den Raum hinein.

„Neeeiiin, neeeiiin“, jammerte sie, und ihr ganzer Körper vibrierte, bis sie am Türrahmen entlang zu Boden rutschte. Kraftlos blieb sie liegen, schlug die Hände vor den Mund, zitterte und bebte am ganzen Leib. Gerade noch vor unerfüllter Liebe glühend, drohte ihr Herz jetzt zu erfrieren, so kalt wurde ihr mit einem Mal. Endlich bahnten sich Tränen ihren Weg und bedeckten die ganze groteske Szene, von der sie den Blick nicht mehr abwenden konnte, mit einem sanften Schleier.

„Warum? Warum?“, schluchzte sie und kroch langsam, jammernd und klagend, auf allen Vieren in den Raum hinein.

Je näher sie der Installation kam, desto weiter musste sie den Kopf heben, und das Erste, was sie sah, waren seine nackten Füße, die eine Handbreit auseinanderstehend in ihre Richtung zeigten. Sie waren blauviolett gefärbt, als hätte er sie in ein Farbbad getaucht. Eine ausgeblichene und an einigen Stellen aufgerissene Jeans bedeckte seine langen Beine bis zu den Knöcheln. Verena erkannte die große Gürtelschnalle, die sie schon des Öfteren bei ihm gesehen hatte und die das Abbild eines Tigerkopfes zeigte. Er liebte Tiger, weil sie so stark und unerbittlich seien, hatte er ihr erklärt, als sie ihn darauf angesprochen hatte. Er wäre auch gern ein Tiger gewesen.

Während sie die Schnalle betrachtete, registrierte sie, dass seine feingliedrigen Hände und seine Unterarme die gleiche blauviolette Farbe aufwiesen wie seine Füße.

Verena spürte den Sekt der letzten Nacht, der unangenehm nach oben drängte. Sie musste würgen, versuchte aber, sich und ihren krampfenden Magen zu beruhigen. ‚Tief ein- und wieder ausatmen!‘, gab sie sich selbst das Kommando.

Trotz des Gürtels war die Jeans ein wenig heruntergerutscht und ließ sie so den Schriftzug von Dolce & Gabbana, der zu seinem Slip gehörte, lesen. Wie schön er doch war, dachte Verena und betrachtete Quentins gut trainierten Bauch und seine stramme Brust – von jeglichem Haarwuchs befreit, mit kleinen braunen Brustwarzen.

Nichts, was sie zu sehen bekam, war tätowiert und nichts gepierct.

Nur ganz langsam wanderte ihr Blick weiter nach oben. Sie hatte Angst davor, was sie sehen musste, wenn sie ihm ins Gesicht schauen würde. Und doch konnte sie nicht länger warten, denn sie brauchte Gewissheit.

Die dunklen, lockigen Haare fielen ihm wie immer in die Stirn. Die Augen – seine unfassbar charismatischen Augen – waren geschlossen. Die langen, vollen, schwarzen Wimpern berührten wie müde Schmetterlingsflügel seine unnatürlich blasse Haut. Nie wieder würde er ihr einen dieser unwiderstehlichen Augenaufschläge schenken.

Aus ihrer Kehle drang leises Wimmern. Aber sie konnte den Blick trotzdem nicht von ihm abwenden.

Auf seinen sonst sorgfältig rasierten Wangen begannen sich leichte, schwarze Bartschatten abzuzeichnen. Fast sah er aus wie für einen Männerkalender zurechtgemacht, dachte sie und erschrak über diese unpassende Idee. Denn um seinen Hals lag ein dünner Draht und sein sonst so markantes Gesicht mit den klar definierten Zügen wirkte aufgedunsen, die Haut schimmerte nicht mehr gesund und leicht gebräunt. Sie hatte einen gelblich-grauen Ton angenommen und wies unappetitliche, rote Sprenkel auf.

Auch seine sonst so rosigen Lippen hatten jede lebendige Farbe verloren. Die Zunge hing ein wenig heraus und war blauschwarz angelaufen. Aus dem rechten Mundwinkel führte eine kleine Speichelspur bis zum Kinn und weiter bis zum Boden. Verena streckte die Hand aus, um zu prüfen, ob er wirklich aus Fleisch und Blut oder vielleicht doch nur ein Trugbild war. Kaum hatte sie seine Füße berührt, da zog sie ihre Hand zurück, als habe sie sich verbrannt. Dabei war er kalt. Eiskalt.

Von Hysterie gepackt rutschte Verena rückwärts, bis sie am Türrahmen anstieß, und weiter bis auf die andere Seite des Durchbruchs. Aus dieser sicheren Perspektive betrachtete sie den ebenholzfarbenen Kasten, der einmal ein Klavier gewesen sein musste, den dicken, dunkel gebeizten Balken, der aus dem Kasten herauszuwachsen schien, und den Querbalken, der verstrebt war wie ein Galgen und um dessen Ausläufer der Draht gewickelt war. Ungläubig musterte Verena die ganze Installation, und je länger sie sie anstarrte, desto harmonischer verbanden sich die einzelnen Teile miteinander. Auch Quentin fand auf makabre Weise seinen Platz darin und vervollständigte das Kunstwerk wie das letzte fehlende Teil in einem Puzzle des Grauens.

„Quentin“, jammerte Verena hilflos. „Oh, Quentin“. Hinter all dem Entsetzen hatte sie immer noch das Bild des jungen, von ihr angebeteten Künstlers vor Augen. So, wie er gewesen war, als sie noch miteinander Pizza verdrückt hatten. Und dann dachte sie an die Geschichte um seine Namensgebung …

„… und jetzt bin ich Quentin der Jüngste – wer weiß, vielleicht ja auch Quentin der Letzte.“

Die Wucht dieser Erinnerung – an die sorglose Zeit einer zaghaften Annäherung und an Quentins beinahe prophetische Aussage – raubte Verena fast den Verstand. Sie rollte sich wie ein verletztes Tier auf dem Parkettboden zusammen und schluchzte hemmungslos.


Franziska Steinbacher, Oberkommissarin bei der Passauer Mordkommission, erwachte an diesem Freitagmorgen vom Hupen eines LKWs und den wüsten Beschimpfungen zweier Männer, die sich auf dem Parkplatz unter ihrem Wohnhaus in der Wolle zu haben schienen. Der Hitze wegen hatte sie die ganze Nacht über ihre Fenster weit geöffnet gehabt, was sich jetzt als Nachteil herausstellte. Seufzend wollte sie sich gerade das Kissen über den Kopf ziehen, um weiterschlafen zu können, als ihr Blick den Wecker streifte. Kurz vor acht. „Verdammt!“ Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und lief barfuß den Flur entlang. Wie konnte ihr das nur passieren, wo sie doch Ramona versprochen hatte, deren Tochter Bianca heute Morgen erneut beim Streichen der neuen Wohnung zu helfen. Natürlich gleich in der Früh, weil es später zu heiß werden würde.

Im Badezimmer schnappte sie sich die mit Farbe bekleckerten Sachen vom Vortag und schlüpfte hinein. Dann lief sie in die Küche, um sich vor Beginn der Arbeit mit einem Glas Milch zu stärken.

Als Kriminalkommissarin rannte Franziska täglich viele Stufen rauf und runter und manchmal blieb ihr auch Zeit für einen Waldlauf oder eine Runde Schwimmen im See. Als besonders sportlich hätte sie sich allerdings nicht bezeichnet, auch wenn man das aufgrund ihrer Figur vielleicht vermutet hätte. Das Streichen einer Wohnung hatte sie bis zum gestrigen Tag erfolgreich anderen überlassen, ihrem Exfreund zum Beispiel, der als Künstler darin geübt war, den Pinsel zu schwingen.

 

Weil Walter nun aber nicht mehr zu ihrem Leben gehörte, und Ramona, die Sekretärin des Kommissariats, Rücken hatte und seit Tagen mit leidendem Blick durchs Büro schlich, war sie unter die Anstreicher gegangen. Zumindest aushilfsweise. Franziska mochte die ältere Kollegin, die sie im vergangenen Herbst mit unzähligen Aufmunterungen unterstützt hatte. Damals hatte sie sich gerade von Walter getrennt, weil der sich auf unmögliche Weise in ihr Leben eingemischt hatte, und Ramonas mütterliche Fürsorge hatte ihr gutgetan. Darum war es für sie auch selbstverständlich, sich dadurch zu revanchieren, indem sie Bianca beim Umzug ein wenig unter die Arme griff.

Nach einem weiteren Aufenthalt im Badezimmer und eingehüllt in eine Wolke ihres Lieblingsparfüms hastete Franziska, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter zum inzwischen menschenleeren Parkplatz.

Bisher hatten sich Ramona und ihre Töchter ganz gut allein durchs Leben geschlagen. Dann war Julia für ein Jahr nach Neuseeland geflogen und Bianca hatte eröffnet, dass sie mit zwei weiteren Mädels eine WG gründen wollte. Diese Veränderungen machten Ramona sehr zu schaffen, und daher, so vermutete Franziska, kam auch die Geschichte mit dem Rücken. Nur wie sollte sie das einer Mutter sagen, der das Herz blutete? Franziska lebte inzwischen auch wieder allein, aber das hatte sie, bevor Walter in ihr Leben getreten war, ja auch getan, sagte sie sich dann trotzig und spürte doch, dass ihr Leben ohne ihn ein wenig unvollkommen war.

Gerade hatte Franziska den Ilzdurchbruch in Richtung Hals hinter sich gelassen, als ihr Telefon einen eingehenden Anruf meldete.

„Ach, hallo, Ramona!“, grüßte sie mit zerknirschter Stimme und wollte sich schon für die Verspätung entschuldigen, als ihr auffiel, dass es sich nicht um deren Handynummer, sondern um die Nummer des Büros handelte. „Ich bin gleich da“, versprach sie. „Aber warum bist du denn im Büro?“

„Na, zu irgendetwas muss ich doch noch nützlich sein“, entgegnete die Sekretärin mit leidender Stimme, und Franziska fürchtete, dass jetzt wieder die Nummer kam mit: „All die Jahre habe ich mich gekümmert, aber jetzt müssen die Damen natürlich auf eigenen Füßen stehen.“

„Du, ich bin schon in der Freyunger Straße, es kann wirklich nicht mehr lange dauern“, berichtete Franziska betont munter und hängte als Erklärung an. „Ich habe tatsächlich verschlafen, wahrscheinlich bin ich die körperliche Arbeit einfach nicht mehr gewohnt.“ Sie schloss mit einem gekünstelten Lachen.

„Kannst du vergessen!“, entgegnete Ramona und Franziska verdrehte die Augen. „Dreh um und fahr in die Bräugasse. Es gibt einen Toten im Museum Moderner Kunst. Der Chef und Hannes sind auch schon auf dem Weg.“

„Nicht dein Ernst?“, entfuhr es Franziska. Mechanisch setzte sie den Blinker und lenkte ihr Auto vor der Abzweigung zur Alten Straße in die Bushaltestelle, um auf der Fahrbahn zu wenden und über die Hängebrücke an die Ortsspitze zu gelangen. Ein Toter im MMK, dachte sie, und dann fiel ihr ein, dass das nicht einfach werden würde, weil am Abend die Kunstnacht stattfinden sollte und die Altstadt dann jedes Jahr im Ausnahmezustand war.


Franziska setzte ihren Wagen rückwärts in den letzten der Parkplätze, die vor der Mauer zum Kloster Niedernburg eingezeichnet waren, und entdeckte Hannes in Jeans und kurzärmligem Hemd vor der Eingangstür des Museums.

„Na, das nenne ich ja mal einen Heimateinsatz, oder?“, begrüßte sie ihren jungen Kollegen, der nur wenige Häuser entfernt direkt an der Ortsspitze wohnte. Hannes war im vergangenen Dezember Papa geworden und wirkte seither immer ein wenig unausgeschlafen. Franziska hatte sich an seinen Zustand schon richtig gewöhnt: Die Haare ein wenig wirr, die Mundwinkel ein bisschen zu tief, die Augen mit dunklen Schatten unterlegt. Freude kam bei ihm so richtig erst auf, wenn er auf seinem neuen, supermodernen Smartphone weitere Schnappschüsse der kleinen Anjetta Franziska, die aber alle im Büro nur Klein-Franzi nannten, präsentieren konnte. „Hast du schon erste Erkenntnisse?“ Zumindest Franziska versuchte, seine Karriere nicht aus den Augen zu verlieren, doch Hannes lächelte sie nur fragend an. „Bist du unter die Maler gegangen?“

„Sehr witzig!“, konterte Franziska. „Wenn du uns geholfen hättest, wären wir fertig geworden und ich hätte jetzt was Ordentliches an.“

Entwaffnet hob Hannes die Hände. „Steht dir aber, hat so was Bodenständiges“, lächelte er, und als sie ihn schon anfauchen wollte, fügte er hinzu: „Notarzt und KTU parken unten am Donaukai.“

„Okay. Und seit du das erfahren hast, stehst du hier und wartest?“ Jetzt war es an Franziska, ihn aufzuziehen. „Wolltest wohl mal wieder nicht der Erste am Tatort sein.“ Franziska kannte ihren Kollegen lange genug und freute sich gleichzeitig. Denn sie war sehr gerne vor allen anderen am Schauplatz des Verbrechens. „Na, dann komm, lassen wir den Toten nicht länger warten!“ Lässig ergriff sie Hannes‘ Ellenbogen und zog ihn mit sich in den kühlen Eingangsbereich des Museums, als ein Porsche Boxster über das Pflaster der Bräugasse entlang gebrettert kam und sich quer vor ihren Wagen stellte. Gleich darauf schälte sich ihr Chef, der leitende Kriminalhauptkommissar Josef Schneidlinger, aus dem Fahrersitz und schlüpfte in sein Sakko.

„Guten Morgen! Ach, wie schön – alle versammelt“, trällerte Schneidlinger ausgelassen.

Im Vergleich zu Hannes war Schneidlinger seit Monaten in Höchstform. Kein Wunder. Nachdem seine Ehefrau Gabi, die Mutter der vier gemeinsamen Kinder, die Scheidung eingereicht hatte, war er nun ganz offiziell mit Paulina, seiner langjährigen Passauer Flamme, liiert. Jünger, sehr hübsch, um nicht zu sagen sehr schön, und ausgesprochen sympathisch, wie Franziska fand.

„Dann mal los!“ Ohne auf das „Guten Morgen, Chef!“ seiner Mitarbeiter zu achten, stürmte Schneidlinger durch die offenstehende Eingangstür in die ehemalige Zufahrt des mehrere Jahrhunderte alten Häuserensembles und prallte prompt mit dem Museumsdirektor zusammen, der gerade im Begriff war, sich eine Zigarette anzuzünden. Durch den Zusammenstoß fiel ihm der Glimmstängel aus der Hand, und er musste ihn ächzend wieder aufheben. Genau wie der Hauptkommissar trug er eine dunkle Hose und ein weißes Hemd, allerdings zeigte beides bereits Spuren seiner morgendlichen Hektik: Auf der anthrazitgrauen Stoffhose zeichnete sich ein stümperhaft gereinigter Kaffeefleck ab, und das Hemd war an einigen Stellen bereits durchgeschwitzt und zerknittert „Sind Sie Kriminalhauptkommissar Josef Schneidlinger?“

„Das ist korrekt. Und Ihr werter Name ist …?“

„Dr. Hubertus Engelmann. Ich bin hier der Direktor und habe Sie informiert.“ Sein Blick ging zum Kassenraum und dort zur Uhr, die über einem halbhohen Regal mit Broschüren hing. „Nur noch neun Stunden. Eine Katastrophe, eine ein-zi-ge Katastrophe ist das“, betonte er, nahm seine randlose Brille ab und wischte sich mit einem großen Taschentuch über Stirn und Augen, bevor er sie wieder aufsetzte. „Und das ausgerechnet heute und ausgerechnet, wenn der Minister kommt. Wie konnte er mir das nur antun!“ Energisch schob er seine Brille an ihren Platz und schimpfte dabei weiter. „Wie sollen wir das unseren ungarischen Gästen und unseren Besuchern erklären …?“ Er holte tief Luft, doch bevor er Gelegenheit fand, den Rest seiner Tirade loszulassen, fiel ihm Schneidlinger freundlich ins Wort.

„Wir gehen jetzt erst einmal zum Tatort, und dann sehen wir weiter“, entschied der Hauptkommissar und zeigte mit einem Nicken an, dass Franziska und Hannes vorangehen sollten. „Meine Kollegen kümmern sich.“

„Noch mehr Kollegen.“ Engelmann seufzte unglücklich. „Die Treppe hinauf. Zweiter Stock. Das können Sie gar nicht verfehlen, so ein Durcheinander, wie da oben gerade herrscht.“