Todesfalle Campus

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Kriminalhauptkommissar Josef Schneidlinger hatte den neuen Fall und sein Vorgehen gleich bei Dienstbeginn mit Oberstaatsanwalt Dr. Dieter Schwertfeger besprechen wollen, dabei jedoch erfahren, dass dieser im Urlaub war und er sich mit dessen Urlaubsvertretung arrangieren musste. Dass die Gnädigste, wie er sie später freundlich titulierte, nicht die Richtige war, erkannte er sofort. Lydia Ehrenberger hatte weder Interesse an einer gut geführten Teamarbeit noch war sie bereit, persönlich aus dem am Domplatz gelegenen Heinrichsbau zu ihnen in die Nibelungenstraße herüberzukommen.

„Natürlich klären wir diesen Fall in Windeseile auf, gnädige Frau“, murmelte er, als er an Ramona vorbei zum Besprechungsraum ging, um die dort wartenden Kollegen zu instruieren. Die Sekretärin hatte seinen Satz aufgeschnappt und fragte sofort, ob sie etwas für ihn tun könne.

„Bringen Sie der ganzen Truppe Kaffee, den werden wir brauchen“, erklärte er und versuchte sich in einem freundlichen Lächeln. Schließlich konnte die Sekretärin nichts dafür, dass sich die Staatsanwaltschaft hinter Floskeln verschanzte.

Nun war Kriminalhauptkommissar Josef Schneidlinger seit seinem Dienstantritt bei der Passauer Mordkommission dafür bekannt, dass er seinen Kaffee am liebsten selbst zubereitete und anschließend, zur Reflexion der Lage, auch das Geschirr selbst spülte. Wenn er also ohne seinen eigenen, und wie Franziska gern spottete, heiligen Kaffeeautomaten unter dem Arm an Ramona vorbeiging und die Kaffeezubereitung delegierte, dann musste schon ein ganz besonderer Druck auf ihm lasten.

„Dr. Schwertfeger genießt seinen wohlverdienten Urlaub, und die Staatsanwältin, die ihn vertritt, hat heute bereits einen Anruf von der Universitätsleitung bekommen“, erklärte er seiner Truppe und blickte einen nach dem anderen an. „Sie wissen, was das heißt?“

„Dass der Täter seit gestern in seiner Zelle sitzen sollte“, schmunzelte Obermüller gelassen. Der Ermittler, dessen Körperbau man früher mit den Ausmaßen eines Kleiderschrankes verglichen hätte, war seit dreißig Jahren bei der Kripo. Bisher hatten ihn derartige Anforderungen noch nie aus der Ruhe gebracht. Ein tragischer Fall konnte ihn um den Schlaf bringen, oder die Sorge um die Kollegen. Aber eine Drohung der Staatsanwaltschaft sicher nicht.

„Was war mit der Wohnung?“, fragte der Chef, ohne auf diesen flapsigen Kommentar einzugehen. Er mochte von Lydia Ehrenberger halten was er wollte, trotzdem würde er den Beweis antreten, dass er und sein Team einen Ruf zu verlieren hatten.

„Praktisch nichts. Wir haben zwar nicht jedes Buch umgedreht, aber was wir gesichtet haben, wies auf keinerlei Beziehung hin“, erklärte Franziska.

„Gut, dann soll die KTU jedes Buch umdrehen!“

Annemarie verschluckte sich fast an einem Keks, an dem sie knabberte und hustete daher heftig, bevor sie nickte.

„Was ist mit dem Handy?“

Wieder nickte sie. „Wir sind dran, wobei derjenige, der es zerstören wollte, ganze Arbeit geleistet hat.“

Schneidlinger blickte eher durch Obermüller hindurch als er anwies: „Gut, dann gehen Sie mit dem Kollegen Gruber auf den Campus und befragen Kommilitonen und Professoren. Gehen Sie in Uniform, zeigen Sie Präsenz. Finden Sie heraus, mit wem Vanessa Auerbach studierte oder sich sonst getroffen hat. Wer hat sie gekannt, wer weiß etwas über sie?“

Jetzt blickte der Chef zu Franziska und Hannes. „Wer hatte Zugang zu dem Raum, in dem sie gefunden wurde? Wie sind Täter und Opfer hinein gekommen? Et cetera pp. Ich werde sehen, ob wir Verstärkung bekommen können, aber Sie wissen ja selbst, seit Passau das neue Lampedusa für alle Flüchtlinge ist, die über die Balkanroute nach Deutschland kommen, sieht es in dieser Hinsicht schlecht aus.“

Als Ramona gleich darauf die Tür aufstieß, um das beladene Tablett hereinzubalancieren, gönnte er allen eine kurze Pause, die Franziska nutzte.

„Wir haben zwar keinen Hinweis auf eine Männerbekanntschaft, aber ein Foto, das Vanessa beim Abschluss ihrer Schulzeit zeigt und ein weiteres unkommentiertes, vielleicht mit ihrer Clique.“ Sie schob beide Fotos über den Tisch. „Und zudem habe ich gestern Abend noch mit dem Bibliothekar über einen möglichen Zugang zum Tatort gesprochen.“

Sie lächelte ein wenig zufrieden, weil auch Hannes sie erstaunt ansah und fuhr dann fort. „Durch die Bibliothek wäre nur jemand mit einem Generalschlüssel in dieses Dublettenmagazin gekommen. Der Bibliothekar war sich aber nicht sicher, ob nicht er selbst den Raum unverschlossen verlassen hat. Er ist wegen dieser Sache ziemlich zerknirscht“, berichtete die Kommissarin und dachte an seine umständliche Begründung. Dieser Bibliothekar war genau der Typ Mann, der seine Abende lieber an seinem Arbeitsplatz, in der Kneipe oder beim Sport, als zuhause bei der Familie zubrachte.

Schneidlinger ging nicht weiter auf das Schlüsselthema ein, sondern wandte sich wieder an Obermüller und Gruber. „Dann nehmen Sie dieses Foto mit, vielleicht kennt ja jemand die Abgelichteten“, ordnete er an, bevor er sich zu Franziska hindrehte.

„Frau Steinbacher …“, die Oberkommissarin erwiderte seinen Blick, „… Sie fahren bitte gleich im Anschluss mit Herrn Hollermann nach Deggendorf und reden mit den Eltern der Toten, bevor die diese Nachricht aus den Medien erhalten. Ich habe bereits einige Anfragen von Journalisten bekommen.“

„Alles klar, Chef“, nickte sie und schaute kurz zu Hannes, ob der etwas einzuwenden hatte.

„Ach ja!“ Schneidlinger hielt kurz inne, als müsse er erst nach dem richtigen Ton suchen. „Und vergessen Sie bitte die Nachbarn nicht. Vielleicht gibt es ja doch einen Freund, er muss ja nicht bei ihr gelebt haben.“

Franziska wollte schon protestieren, als sich Schneidlinger erhob und in die Runde grüßte. „So, dann trinken Sie Ihren Kaffee aus und machen sich an die Arbeit. Wenn sich etwas Neues ergibt …“ Der restliche Satz ging im allgemeinen Gemurmel unter.


„Wir müssen unbedingt wissen, mit wem Ihre Tochter befreundet war“, erkundigte sich Franziska bei Jens und Mandy Auerbach, nachdem sie den beiden die traurige Nachricht vom Tod der Tochter überbracht hatte. Sie versuchte, sich nicht zu sehr vom Anblick der abgewetzten Sofalehnen, des verschlissenen Teppichs und der angestoßenen Kaffeebecher auf dem Tisch gefangen nehmen zu lassen.

Gleich nach der Besprechung waren sie ins rund fünfzig Kilometer entfernte Deggendorf gefahren, wo die Eltern in einem zum Sofa passenden Wohnblock lebten. Oder vielmehr ihre Zeit totschlugen.

„Das wissen wir nicht“, erklärte die Mutter mit noch immer zitternder Stimme. Unter Schluchzen nickte sie ihrem Mann zu. „Sie war … Wir kamen ja gar nicht mehr an sie heran, und sie wollte auch nichts mehr mit uns zu tun haben.“

„Sie hielt uns für Spießer, nein, eigentlich für Loser“, erklärte Vanessas Vater. „Sie meinte, wir wären ja selber schuld an unserer Situation. Wir hätten unser Leben verpfuscht. Ihr könnte so etwas nicht passieren, glaubte sie.“ Resigniert nickte er seinen eigenen Worten nach.

Franziska wechselte einen schnellen Blick mit Hannes und mutmaßte dann vorsichtig: „Sie hatten nicht sehr viel Kontakt zu Ihrer Tochter?“

„Unsere Tochter war auf der Suche nach einem besseren Leben. Aber vor allem wollte sie es ganz anders machen als wir.“ Wieder lachte der Vater bitter auf. „Nun, wie es aussieht, hat sie das ja jetzt geschafft.“

„Jens, wie kannst du so etwas sagen!“ Vanessas Mutter konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

„Ist doch wahr!“ Er sah sich im Wohnzimmer um, als müsse er selbst erst begreifen, wie er hierher gekommen war. „Auch wir haben doch immer von einem besseren Leben geträumt.“

Nach einer kurzen Pause sah er erst Hannes und dann Franziska an. „Wir stammen von Drieben“, erklärte er und verfiel tatsächlich noch ein wenig mehr in seinen sächsischen Heimatdialekt. „Zunächst kannten wir es nicht anders, wir sind ja in das System hineingewachsen.“

„Es war ja auch nicht alles schlecht“, kommentierte die Mutter und lächelte wie ertappt, weil dieser Satz schon so häufig dafür hatte herhalten müssen, wenn Menschen versuchten, die eigene Vergangenheit nicht zu sehr abwerten zu lassen.

„Es wurde ja erst mit den Jahren immer enger, immer aussichtsloser. Oder vielleicht haben wir erst mit der Zeit kapiert, dass wir keine Perspektiven hatten, dass es um uns herum nur noch ein Verwalten des Untergangs gab. 1989, kurz vor der tatsächlichen Wende, träumte fast jeder … wenn nicht von der Flucht, so doch vom Leben im goldenen Westen.“

Jens Auerbach nahm seine Tasse und trank einen Schluck Kaffee. Keiner der anderen im Raum sagte etwas. „Wir kamen mit einem Urlaubsvisum nach Ungarn und flohen dann über Österreich nach Westdeutschland. Im Sommer 89 war das wie ein Virus. Die Ungarn hatte ihre Grenzen geöffnet, und wir DDR-Bürger sahen das Wunder.“

„Das wirkliche Wunder war, dass wir ein Visum bekommen haben“, mischte sich seine Frau ein. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Ja, alle wollten weg, und es schien dem Regime trotzdem nicht aufzufallen, dass ein Urlaub in Ungarn der beste Weg dafür war. Als wir Mitte Oktober in Budapest ankamen, war die Botschaft der Bundesrepublik schon überfüllt, und so mussten wir in Zelten im Garten unterkommen. Wir hatten fast alles zurückgelassen und konnten, nachdem uns die Stasi fotografiert und damit aktenkundig gemacht hatte, ja auch nicht mehr zurück.“

Er nahm noch einen Schluck von seinem mittlerweile kalten Kaffee. „Es sollten drei lange, zähe Wochen werden, bis eines Abends die Botschaft verkündet hat, dass wir rausdürfen. Und auf einmal ging alles ganz schnell. Wir wurden über die Grenze nach Österreich gebracht, in einen Bus gesetzt und erst nach Passau und dann nach Deggendorf gefahren. Dort landeten wir dann in der Turnhalle der Kaserne des Bundesgrenzschutzes zusammen mit hundertfünfzig anderen Flüchtlingen. Das war dann zwar auch nicht besser als in Budapest, aber es fühlte sich sehr gut an, denn immerhin waren wir jetzt im Westen. Da wo wir hingewollt hatten. Nach zwei weiteren Wochen fanden wir Unterkunft und Arbeit und konnten das enge Lager verlassen. Erst bekamen wir Arbeit, dann kam Vanessa auf die Welt, und schließlich bauten wir uns ein Häuschen in Fischerdorf.“

 

„Wir hatten alles erreicht, was wir uns gewünscht hatten. Wir waren frei und es ging uns gut …“

„Aber da konnte Ihre Tochter doch stolz auf Sie sein“, bemerkte Franziska und verstand einfach nicht, was daran schlecht war.

„Ja, bis das Hochwasser kam und uns in wenigen Stunden alles nahm. Auf dem Haus waren noch Schulden, und mein Betrieb machte kurz danach auch noch dicht.“

„Diesmal mussten wir fliehen, und als wir zurückgehen konnten, war alles kaputt. Zerstört vom Wasser und vom Öl“, ergänzte die Mutter. „Seither leben wir im Sozialbau. Keine Arbeit, keine Perspektive.“

„Vanessa sagte, ihr habt es geschafft, aus dieser beschissenen DDR zu fliehen und dann hängt ihr in diesem Kaff fest, baut euch ein Häuschen ins Überschwemmungsgebiet und jammert, wenn das Wasser kommt und euch alles nimmt!“

Beim Erzählen hatte die Mutter den Ton angenommen, in dem Vanessa vermutlich mit ihren Eltern gesprochen hatte. „Sie wollte studieren und dann hinaus in die Welt. Etwas sehen, etwas verändern, flexibel sein und vor allem etwas für sich tun.“

Und dann schluchzte die Mutter so laut auf, dass es Franziska ein wenig mit der Angst zu tun bekam. „Wir haben alles verloren, und jetzt auch noch unser Kind.“ Sie sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Dann war aus dem Nachbarraum die schlagende Tür zu hören.

„Und wir sind schuld. Wir haben sie verzogen. Wir haben eine Egoistin aus ihr gemacht“, fasste Jens Auerbach nüchtern zusammen.

Dann stand auch er auf, ging mit seiner Kaffeetasse zum Schrank und schenkte sich aus einer großen Schnapsflasche reichlich ein. Franziska sah ihm zu und hoffte, dass zuvor tatsächlich Kaffee in der Tasse gewesen war.


„Ruf doch mal bitte bei Obermüller an und frag ihn, ob er schon was erfahren hat.“

Franziska fädelte sich auf der A3 in Richtung Passau in den Verkehr ein. Dann schüttelte sie in Erinnerung an das eben Erlebte den Kopf. „Hast du gesehen, wie der Vater den Schnaps einschenkte? Das sah für mich wie Routine aus. Die fliehen in den goldenen Westen und dann enden sie so.“

Hannes antwortete nicht, offenbar hatte er den Kollegen schon erreicht. „Ja, hallo Obermüller, Franzi möchte wissen, ob es schon was Neues gibt.“ Er lauschte.

„Stell doch mal laut“, bat Franziska und schien vor Neugierde fast zu vergehen.

„Ja, ja gut, ich sag es ihr.“

„Was ist?“, wollte Franziska sofort wissen.

„Nur dass wir uns im Büro treffen.“

Hannes grinste, lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen. Die vergangene Nacht war ausgesprochen kurz gewesen und hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen. Erst der Leichenfund, dann die Wohnung, und als er nach Hause gekommen war, hatte seine Freundin Sabrina auch noch mächtigen Redebedarf gehabt. Lächelnd beschwor er ihr Bild herauf.

„Denkst du an dein Schätzchen?“, fragte Franziska dann auch prompt, woraufhin er zusammenzuckte. „Vor mir kannst du eben nichts verbergen“, freute sie sich, lächelte nun ebenfalls zufrieden, und beide hingen ihren nichtdienstlichen Gedanken hinterher.

Eine halbe Stunde später saßen sie im Büro, hatten jeder eine Tasse heißen Tee vor sich und in der Mitte, da wo ihre Schreibtische zusammenstießen, stand eine Box voller belegter Brote, die Sabrina Hannes vorbeigebracht hatte und die er jetzt mit Franziska teilte. „Hm!“, schwärmte die gerade, als Obermüller die Tür aufriss und hereinstürmte.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, wie ein altes Ehepaar“, neckte er die beiden.

„Das alte nimmst du zurück“, grinste Franziska, prüfte ihren Tee und trank einen großen Schluck, bevor sie fragte: „Und, Obermüller, hast du was Schönes für uns?“

„Ich habe ihren Studienplan. Sie studierte „Business Administration and Economics“ … das hat früher wahrscheinlich mal BWL geheißen. Und hier ist eine Liste aller Studenten, die mit ihr zusammen in den Kursen sind.“ Er schob eine lange Liste über den Tisch.

„Na viel Spaß, wenn ihr die alle durchgehen wollt!“

„Danke.“ Obermüller nickte. „Wie war es bei den Eltern?“

„Die waren vorher schon fix und fertig, aber ich schätze, der Tod der Tochter wird sie endgültig erledigen“, fasste Franziska zusammen. „Und wissen tun sie auch nichts. Vanessa scheint sich sehr intensiv abgenabelt zu haben.“

„Eigentlich traurig, oder? Da ziehst du dir ein Kind groß und dann bist du doch allein.“

„Hey, Obermüller, nicht so sentimental. Bei dir wird das alles mal ganz anders, du bist ein toller Vater, ich würde dich sofort nehmen.“ Sie lächelte ihn frech an.

„Danke für die Blumen, aber sooo alt bin ich dann auch noch nicht.“

„Warum seid ihr denn eigentlich schon zurück? Hat der Chef nicht gesagt, dass ihr alle befragen sollt?“

Obermüller lachte. „Wir machen das jetzt per Rund-Mail. Wir haben alle angeschrieben, die in der Gruppe sind und auf der Liste stehen und um Rückmeldung und Hinweise gebeten. Die, die sich nicht melden, werden persönlich überprüft.“

„Und?“

„Bisher nichts wirklich Brauchbares.“

„Das kann doch nicht sein. Da wird ein so hübsches Mädchen derart bestialisch ermordet und niemand weiß etwas?“

„Vielleicht sind die eben auch alle zu geschockt“, versuchte es Obermüller mit einer lahmen Erklärung.

„So ein Blödsinn. In dem Alter hält man sich noch für unverwundbar“, wusste Franziska und schielte auf Vanessas Kursplan. „In einer halben Stunde beginnt eine Vorlesung mit Scheinpflicht“, las sie vor, und bevor einer der beiden Kollegen etwas antworten konnte, entschied sie: „Da fahren wir doch mal hin und konfrontieren die Kommilitonen mit Fotos der toten Vanessa. Vielleicht fällt denen dann doch ein, mit wem sie häufiger zusammen war.“

Sie schob die Brotbox zu Hannes hinüber, trank den letzten lauwarmen Schluck ihres Tees und erhob sich. „Nimm unser Lunchpaket mit, vielleicht brauchen wir später noch etwas zur Stärkung.“

Obermüller grinste über ihren Eifer. Der Schock und das anfängliche Entsetzen hatten dem professionellen Wunsch Platz gemacht, den Täter zu finden und damit der Bevölkerung wieder das Gefühl einer ungetrübten Sicherheit zu geben. Etwas anderes konnten sie sich in ihrem Job auch gar nicht leisten.


Zwar gehörte Franziska zu den beneidenswerten Frauen, die praktisch alles tragen konnten und zu fast jeder Zeit und in jeder Lage gut aussahen, doch das war nur äußerlich. In ihrem Inneren spürte sie sehr wohl die biologische Uhr ticken. Und die sagte ihr mit jedem Schlag zur vollen Stunde: Alles ist vergänglich. Was im Hinblick auf die vielen jungen Studentinnen, denen sie gleich begegnen würde, natürlich erst recht ins Gewicht fiel.

Daher machte sie, kurz bevor sie zur Uni aufbrachen, noch einen Abstecher zu den Toilettenräumen, um sich ein wenig aufzuhübschen. Was sich wenig später als unnötig herausstellte, denn als sie Hannes abholen wollte, empfing der sie mit einer überraschenden Nachricht.

„Wir haben eine Zeugin!“

„Was?“ Franziska warf einen schnellen Blick auf ihre Uhr. Sie war hin- und hergerissen. Einerseits die Möglichkeit, eine sich freiwillig meldende Zeugin zu befragen, andererseits die Gelegenheit, ein wenig Uni-Luft zu schnuppern und viele potentielle Zeugen aufzutun. „Wer ist es?“

„Stephanie Mittermaier, die beste Freundin von Vanessa Auerbach.“

„Wow!“ Ohne zu zögern war Franziskas Entscheidung gefallen. „Wo ist sie und weiß sie, was passiert ist?“

„Ja. Frau Mittermaier sitzt im Besprechungszimmer und wirkt“, Hannes sah ein wenig ratlos drein, „ziemlich gefasst!“ Davon konnte sich Franziska gleich darauf persönlich überzeugen.

„Hallo, ich bin Steffi, ich habe gehört, dass Sie jemand suchen, der Vanessa gut gekannt hat.“ Die junge Frau, die einen ziemlich unfrisierten kupferroten Kurzhaarschnitt und ein sackartiges Batikkleid trug, blickte von Hannes zu Franziska und dann auf einen Umschlag, den sie mitgebracht hatte.

„Und Sie kannten Vanessa Auerbach gut?“, fragte Franziska, die sich über den munteren Ton wunderte.

„Wir sind sozusagen die allerbesten Freundinnen!“ Ohne aufzublicken entnahm sie dem Umschlag ein Foto und schob es den Kommissaren über den Tisch zu. „Das war immer unser Lieblingsbild.“

Franziska zog das Foto zu sich heran und starrte es eine Weile an. Es zeigte zwei junge Frauen, die sich lachend umarmten. Die eine kupferrot, die andere blond.

„Dann wissen Sie ja sicher auch, wer der Freund Ihrer Freundin war?“, fragte Franziska und blickte die Zeugin eindringlich an.

„Vanessa konnte jeden haben, und sie konnte sich nicht entscheiden.“ Steffi lächelte einen Moment. „Sie sagte immer, das Leben ist zu kurz, um sich jetzt schon festzulegen.“

„Aha!“ Franziska versuchte ihre Verwunderung zu verbergen. „Und wie lief dieses Jeden-haben-können so ab?“, fragte sie leichthin.

„Ich glaube, sie verliebte sich einfach nicht. Sie traf sich mal mit dem einen und mal mit dem anderen, aber bevor es ernst werden konnte, hatte sie schon den nächsten.“ Stephanie Mittermeier zuckte gleichgültig mit den Schultern, als wäre das auch ihre Philosophie in Punkto Männer.

Wieder nickte die Kommissarin und warf ihrem Kollegen einen unsicheren Blick zu. „Gehts auch ein bisschen genauer?“, fragte der, woraufhin die Zeugin zum ersten Mal zu bemerken schien, dass ein Mann im Raum war. Nachdenklich schaute sie ihn an, sagte aber nichts. „Mit wem war sie am Wochenende verabredet?“, hakte Hannes nach.

„Tut mir leid, das weiß ich nicht, sie war da sehr spontan.“ Steffi schenkte Hannes einen Unschuldsblick aus kajalumrandeten Augen.

„Ihre beste Freundin ist tot“, betonte Franziska mit geduldiger Stimme, die ihre Verwunderung über das Auftreten der Studentin gut verbarg. „Sie wurde von einem Mann brutal misshandelt. Er hat sie gefesselt, geschlagen und getreten. Können Sie sich vorstellen, welcher dieser Freunde, mit denen sie spontan zusammenkam, so etwas mit ihr getan haben könnte?“

Damit ging Franziska ziemlich weit, doch tatsächlich zeigte ihre drastische Schilderung ein wenig Wirkung. Die Zeugin starrte sie entsetzt an und brach wie auf Kommando in Tränen aus. „O mein Gott, das ist ja furchtbar.“ Hannes warf seiner Kollegin einen scharfen Blick zu. „Das habe ich nicht gewusst. Ich dachte, sie wurde nur …“

„Vergewaltigt“, half Franziska verwundert aus.

„Ja! Ja, und das ist doch irgendwie immer auch ein wenig romantisch, oder?“ Steffi schniefte heftig auf, suchte in ihrer großen Tasche nach einem Taschentuch und schien wieder sehr gefasst. „Ich meine, das ist doch ein Zeichen, dass ein Mann einen wirklich haben möchte. Vielleicht kann er es nicht zeigen, kann nicht so gut reden oder weiß nicht, wie er es anfangen soll und dann nimmt er sie und zeigt ihr, dass er sie und nur sie haben möchte.“

Steffis Augen leuchteten unter einem feinen Tränenfilm. Franziska musterte sie eine Weile, doch kein Anzeichen verriet, dass die junge Dame bluffte.

Stephanie Mittermaier war, abgesehen von ihren Haaren, eine eher blasse Erscheinung, eine Frau, die auf Männer sicher nicht die Wirkung hatte, die sie ihrer Freundin zuschrieb. Und sie hatte bestimmt auch nicht deren Auswahlmöglichkeiten. Eine, die eher in die Gattung Mauerblümchen und Jungfrau ohne Erfahrung passte. Sie war Vanessa sicher keine ebenbürtige Freundin gewesen, keine, mit der man sich messen konnte, hatte ihr dafür aber vielleicht bedingungslos die Treue gehalten. Sie ist eine, bei deren Anblick man sich immer besser fühlt als man eigentlich ist, dachte Franziska. Und bekam bei dieser Einschätzung direkt ein schlechtes Gewissen.

 

„Ich will mir kaum vorstellen, dass Ihrer Freundin romantische Gedanken durch den Kopf gingen. Sie muss sehr gelitten haben.“

Die Kommissarin versuchte, nüchtern und sachlich und auch ein wenig vage zu bleiben. Sie hatte kein Recht darauf, der Zeugin vorzuschreiben, wie sie denken musste. Ihre Aufgabe war es, in Erfahrung zu bringen, wer für Vanessa Auerbachs Tod verantwortlich war. Nicht mehr.

„Also, Vanessa schwärmte immer von starken Männern, von denen, die wussten, wo es langgeht. Alphamännchen, wie man so schön sagt.“ Vanessas Freundin lächelte wieder kurz auf, bevor sie hinzufügte: „Vor ein paar Tagen erzählte sie von einem Typen, mit dem sie sich treffen wollte, aber sie hat mir nicht gesagt, wie er heißt. Ich weiß nur, dass er ihr eine SMS geschrieben hat und sie ihn ganz süß und heiß fand und dass sie sich sehr auf das Treffen gefreut hat. Meinen Sie, er hat das getan?“

„Das kann ich nicht sagen. Hat sie keinen Namen genannt?“

„Nein“, gab die Zeugin patzig zurück.

„Woher kannte sie ihn, wie hat sie ihn kennengelernt? Das hat sie Ihnen doch bestimmt erzählt. Ich meine, wo lernt man süße, heiße Typen kennen?“ Franziska deutete Hannes mit einem kurzen Blick an, dass er sie bitte nicht zu ernst nehmen sollte.

„Kannte sie diesen Mann aus der Uni?“, fragte der nun seinerseits nach, woraufhin Stephanie Mittermaier ihn lange anblickte.

„Ja, ja es ist natürlich gut möglich, dass er Student oder auch Dozent oder Professor war, sie hat da keine Unterschiede gemacht …“