Der Tote vom Oberhaus

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Das Gespräch mit Walter setzte Franziska schwer zu. Wie hatte sie ihm nur sagen können, dass sie ihn nicht mehr sehen wollte? Wo sie doch schon jetzt unter dieser übereilten Entscheidung litt … Wütend schlug sie auf ihr Lenkrad ein und kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder. Sie hatte einen Fall zu klären, den Tod eines Menschen, und sie war es Hannes schuldig, ganz bei der Sache zu sein. Sie musste ihre Gefühle in den Griff bekommen! Doch die kurze Fahrt von der Künstlerwerkstatt bis zur Böhmerwaldsiedlung reichte dafür kaum aus.

Als sie den Kollegen vor der Eingangstür entdeckte, das aufgeschlagene Notizbuch in der Hand und hoch konzentriert am Lesen, überkam sie eine Welle der Zuneigung. Sie mochte Hannes, er hatte immer zu ihr gestanden und ihr bei einer Schießerei sogar einmal das Leben gerettet. Aber sie hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob er vielleicht mehr in ihr sah, als nur eine Kollegin. Ob Walter am Ende doch recht hatte?

„Und, hat es sich gelohnt?“, fragte sie und schob alle Bedenken beiseite, kaum dass Hannes auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

Er verstaute sein Notizbuch und schaute sie prüfend an. Dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht. „Erzähl mir lieber, was mit Froschhammer ist!“

Franziska verschluckte sich beinahe an ihrem künstlichen Getue. „Wie kommst du jetzt auf den?“

„Ich weiß ja nicht, was zwischen dir und dem Typ läuft. Und das geht mich auch nichts an. Aber ich weiß, dass er etwas mit dem Mord zu tun hat, und deshalb will ich wissen, was er gesagt hat. Sonst frag ich ihn nämlich selbst!“

Auf einmal fand Franziska sein Grinsen widerlich.

„Nichts“, erwiderte sie daher scharf.

„Wie, nichts?“ Nur mühsam beherrscht stöhnte Hannes auf. „Er war in dem Raum, das weiß ich zufällig, also erzähl mir nichts von Nichts!“

Franziska räusperte sich. „Woher weißt du das?“

„Hast du vergessen, dass ich eine Dreiviertelstunde vor dir am Tatort war?“

„Samantha Halmgaard?“

„Richtig.“

„Okay. Ja, ich war bei ihm und habe ihn genau danach gefragt.“

„Und?“

Unwillkürlich ließ sie den Blick auf ihre Hände sinken. „Er war in Maierhof bei den Proben.“

„Franziska, du bist so eine schlechte Lügnerin!“

„Ich lüge nicht, er war wirklich da.“

„Ja, klar! Bist du in ihn verknallt?“

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“

„Der Kerl ist verdächtig.“

„Denkst du, das weiß ich nicht?“

„Er könnte der Mörder sein. Er hatte einen Schlüssel.“

„Und hat ihn stecken lassen!“

„Um von sich abzulenken.“

„Oder weil er es eilig hatte!“

„Das hätte ich auch, wenn ich gerade einen Mann erstochen hätte.“

„Er hatte was vor!“

„Ach! Und was?“

„Er hatte einen Termin. Du weißt schon, es ging um ein Gemälde.“

„Na, da bin ich ja mal gespannt, wer diesmal sein Alibi ist …“ Der junge Kommissar warf seiner Kollegin einen skeptischen Blick zu.

„Hör mal, Hannes. Ich möchte wirklich erst dann mit solchen Verdächtigungen anfangen, wenn die Beweise das auch rechtfertigen. Zudem hat Froschhammer kein Motiv.“

„Sagst du.“

„Sagt er.“

„Na gut. Aber wenn wir irgendwo seine Fingerabdrücke finden, dann hol ich ihn mir.“ Hannes grinste noch breiter.

„Hannes, wir werden seine Fingerabdrücke überall finden. Er hatte den Schlüssel, und er hat vielleicht sogar die Lanze angefasst. Immerhin hat er bei den Umräumarbeiten mitgeholfen“, fasste Franziska mit sanfter Stimme zusammen.

„Wie willst du ihn dann entlasten?“

„Mit einem Zeugen für sein Alibi.“

„Und der wäre?“

„Jetzt warte halt einfach mal ab!“, gab Franziska schnippisch zurück. Und um sich nicht länger rechtfertigen zu müssen, konzentrierte sie sich aufs Autofahren.

„Bedeutet dein Schweigen, dass wir für heute Nacht aufhören?“ Hannes warf einen Blick auf seine Uhr und gähnte ausgiebig.

„Nein, natürlich nicht. Wir fahren jetzt ins Präsidium und lesen uns in die Geschichte der Veste Oberhaus ein“, antwortete Franziska lachend. „Vielleicht hat die Tat ja Symbolcharakter.“

„Okay, das kannst du ja gern machen, aber mich lässt du bitte am Gampertsteig raus, da steht nämlich mein Fahrrad.“

Franziska nickte und setzte den Blinker, um in den Anger einzubiegen. „Gut. Und jetzt erzähl mir endlich, was du von den Nachbarn erfahren hast.“


Als Franziska am Dienstagmorgen die Glastür zum Flur der Mordkommission aufstieß, trug sie eine enge Jeans, bequeme Sandalen und ein ärmelloses Shirt. Über der linken Schulter hing ihre braune Wildledertasche, in der sie stets alles bereithielt, was sie während ihrer Ermittlungsarbeiten brauchte. Zusätzlich hatte sie eine Tasche mit zwei Flaschen Mineralwasser und einem Vorrat an Müsliriegeln dabei. Am gestrigen Abend hatte sie alle wesentlichen Informationen im Fall Mautzenbacher in ihr grünes Notizbuch eingetragen und war nun bereit, sich in die Ermittlungen zu stürzen.

„Guten Morgen Ramona!“, rief sie der Sekretärin zu, als sie gerade an deren Schreibtisch vorbeilief. „Na, womit beschäftigst du dich denn schon in aller Herrgottsfrühe?“

„Das sind die Zeugen, die ich vorladen soll“, erklärte sie und sah von ihrer Liste auf. „Der Chef ist auch schon da.“

„Und Hannes?“

„Stell dir vor, sogar Hannes war heute pünktlich!“

Franziska nickte verschwörerisch und ging in ihr Büro.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Steht eigentlich schon was in der Zeitung?“

„Nein.“

„Sehr schön.“

Als sie gerade die Bürotür öffnen wollte, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.

„Ach, Frau Steinbacher, kommen Sie doch bitte mal in mein Büro!“

Franziska drehte sich um, sah den neuen Chef im Flur stehen, lächelte und versprach: „Ja, natürlich. Sofort.“

Gleich darauf schloss Franziska die Tür zum Chefzimmer und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Während sie darauf wartete, dass Schneidlinger das Gespräch eröffnete, schaute sie sich kurz um. Es war Berthold Brausers ehemaliges Büro, auch wenn nichts mehr an den alten Chef erinnerte. Statt der schäbigen Möbel, wie sie im ganzen Haus als Einrichtung dienten, gab es einen modernen Schreibtisch aus Buchenholz und Edelstahl. In einer Ecke des Raumes stand ein Tischchen mit zwei zierlichen Sesseln, neben dem Waschbecken ein moderner Kaffeeautomat. Schneidlinger hatte eine Tasse vor sich stehen, der Kaffee darin roch köstlich. Trotzdem lehnte Franziska sein Angebot ab. Er würde irgendwann schon noch begreifen, dass sie nur Tee trank.

„Sie haben sich bereits in den Fall eingearbeitet?“, begann Schneidlinger endlich.

Franziska nickte, ohne weiter darauf einzugehen.

„Gut. Ich möchte eine Sache von Anfang an klarstellen.“

Schneidlinger rührte eine Weile in seinem Kaffee, und Franziska befürchtete schon, er habe den Faden verloren.

„Egal, worauf Sie in diesem Fall stoßen, egal, welche Zeugen Sie vernehmen und egal, welche Beweise Sie sichern“, ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu bewegen, blickte er Franziska fest in die Augen, „ich will über alles genauestens informiert werden. Ich erwarte von Ihnen ausführliche Berichte. Ist das klar?“

Franziska nickte. Und fühlte sich ertappt. Hatte Hannes ihm von Walter Froschhammer erzählt? Vielleicht die Kollegen oder Samantha Halmgaard? Franziska rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, wollte gerade zu einer Beichte ansetzen, als Schneidlinger zu lächeln begann und hinzufügte: „Ja, dann - fangen Sie an! Man muss die Spuren auswerten, solange sie frisch sind.“

„Ja, natürlich“, antwortete Franziska verunsichert und erhob sich. Sie hielt das Gespräch für beendet.

„Ist ja wirklich zu schade, dass Sie keinen Kaffee mögen. Ich könnte ohne meinen Koffeinkick überhaupt nicht mehr arbeiten.“ Dann warf er einen Blick auf die Uhr. „Wir treffen uns um zehn zu einer Besprechung. Ich möchte, dass Sie und Hollermann die Kollegen mit allen Fakten vertraut machen.“

Franziska stand auf und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken und fühlte sich durchschaut. Hatte Hannes etwas mit dieser Belehrung zu tun? Egal, mit diesem Gespräch hatte sich Schneidlinger bei ihr viele Sympathiepunkte verspielt, und sie beschloss, dass dieser neue Chef von ihr immer nur hieb- und stichfeste Beweise und ausnahmslos Dienstliches erfahren würde.


Die kleine Sunny war in eine übersättigte Welt hineingeboren worden. Der letzte Weltkrieg war lange her, und die Bedrohungen kamen jetzt aus ganz anderen Ecken. Es reichte nicht mehr, satt zu werden, man musste sich auch gesund ernähren und die Umwelt im Auge behalten. Es genügte nicht, ein warmes Haus zu haben, jetzt musste man sich damit auseinandersetzen, wo Strom und Heizöl herkamen. Eine neue Generation Mensch war herangewachsen und hatte gelernt, Fragen zu stellen, ohne Angst vor den Antworten zu haben. Sie fragten, weil die Folgen für andere unbequem waren. Damit machten sie denen das Leben schwer, die dafür sorgten, dass sie so bequem leben konnten. Sie fragten und nahmen sich das Recht, selbst die Antworten zu hinterfragen.

Ausdauernd trugen sie ihre Fragen auf die Straße. Sie demonstrierten und waren erst einmal gegen alles. Doch sie warfen nicht mehr mit Steinen, trugen keine Waffen, sie schmückten sich mit Sonnenblumen und erfanden eine neue Maßeinheit für Liebe.

 

Sunnys Eltern gehörten zu den besonders Berufenen. Sie waren gegen alles, was ihnen nicht richtig erschien, und das war eine ganze Menge und der Grund, warum sie fast das ganze Jahr über in irgendwelchen Camps lebten, die verhindern sollten, dass an dieser Stelle etwas gebaut wurde, was die Gesellschaft ihrer Meinung nach nicht brauchte. Nebenbei studierten sie ein wenig und vergaßen dabei völlig, ihre kleine Tochter auf das Leben vorzubereiten.

Sunny war ein auffallend hübsches Kind mit ihren langen dunklen Haaren und den großen Augen, die alles so unschuldig betrachteten. Alle liebten das kleine Mädchen, das jeder nur Sunny nannte, und schon bald hatte sie viele Mütter und Väter. Es war eine treue Gemeinschaft, die da zusammenlebte und in gewisser Weise auch auf Gott baute. Denn sie säten nicht, und sie ernteten nicht, und der himmlische Vater Staat ernährte sie doch. So viele Träume hatten sie im Kopf, so viele Parolen und Ideale im Herzen. Und auch in Sunnys Kopf war kaum Platz für die Schule, die sie nur sehr nachlässig besuchte, weil es niemandem wirklich wichtig schien.

Sie war ein so glücklicher Mensch, was gab es Schöneres auf dieser Welt?

Eines Tages fand man ihre Eltern friedlich nebeneinander liegend in einem Zelt. Sie hatten gekifft und wer weiß was eingeworfen. Niemand wusste etwas Genaues, und nachdem sie tot waren, wollte es auch niemand genauer wissen. Die anderen sagten, es wäre doch schön für die beiden, weil sie gemeinsam gestorben wären, und Sunny solle sich doch für sie freuen. Aber Sunny konnte sich nicht freuen. Sie hatten sie im Stich gelassen, waren ohne ein Wort, ohne einen Abschied gegangen. Im Grunde waren sie einfach nur feige gewesen, denn sie hatten sich davor gedrückt, Sunny durchs Leben zu begleiten. Das musste jetzt die Gesellschaft übernehmen, die Sunnys Eltern so verabscheut hatten, und die hatte wenig übrig für die Lebensphilosophie der Dauerdemonstranten und steckte Sunny in ein Heim.

Hatte das Mädchen bis dahin nur miterlebt, was aus einem Menschen werden konnte, wenn er nicht mehr Herr seiner Sinne war, so musste sie diese Erfahrung nun schmerzlich am eigenen Körper erleiden. Sie musste lernen, die Zähne zusammenzubeißen und hinzunehmen, was nicht zu ändern war. Von jetzt an wurde Protest nicht mehr geduldet. Protest machte alles nur noch schlimmer.

Als sie in dem kleinen Häuschen am Anger ankam, hatte sie schon fast vergessen, dass es die Großmutter gab. Doch die nahm sie auf und fütterte sie von ihrer bescheidenen Rente durch. Ob sie sich darüber freute, Sunny bei sich zu haben, das Kind ihrer Tochter, das so wenig Ähnlichkeit mit ihr hatte und wohl absichtlich diesen Namen trug, erfuhr Sunny nie.

Noch lange nach dem Tod der Großmutter baute Sunny das Gemüse im Garten an und erntete Erdbeeren, so wie die Großmutter ihr das beigebracht hatte. Für einen kurzen Moment war das Haus ein Ort des ungetrübten Glücks.

Als die Großmutter starb, war Sunny achtzehn Jahre alt und ganz allein. Niemand stand ihr bei, und sie erstickte fast an der Einsamkeit, die sich in ihrem schmalen Körper breitmachte. Die Beerdigung war schlicht, denn die alte Frau hatte keine Zeit gehabt, um Freundschaften zu pflegen, hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet, und als sie ging, war nur Sunny bei ihr. Sie versprach, gut auf das Häuschen und den Garten aufzupassen. Über ihr eigenes Schicksal verlor sie aber kein Wort.

Als sie sich einige Wochen später wieder aus dem Haus traute, traf sie ganz zufällig einen Mann, den sie, wenn er auch viel älter als sie war, in ihrer jugendlichen Verliebtheit bald schon anhimmelte. Von jetzt an schlug ihr Herz nur noch für ihn. Für die Nächte, die sie mit ihm verbrachte, und für die Tage, an denen sie sich nach ihm verzehrte.

Nach einiger Zeit zog er bei ihr ein und zeigte ihr, was Liebe wirklich bedeutete, wie sie sich anfühlte und wie sie wuchs und immer größer wurde. Bald darauf war Sunny zum ersten Mal schwanger. Jetzt schien ihr Glück perfekt, und sie dachte, es gäbe keine Möglichkeit mehr, um ihre Freude noch einmal zu vergrößern. Sie brauchte lange, bis sie erkannte, dass die Welt nicht besser war, nur weil man als Kind an die Kraft der Sonnenblume geglaubt hatte.


„Du hast mich bei Schneidlinger verpetzt!“, keifte Franziska, endlich im Büro angekommen.

„Was hab ich?“ Hannes sah von seinem Notizbuch auf.

„Die Sache mit Froschhammer!“ Franziska stand jetzt neben seinem Schreibtisch. Musste ja nicht jeder mitbekommen, was sie mit dem Maler zu schaffen hatte.

„Traust du mir das wirklich zu?“, entgegnete Hannes und sah zu ihr auf. Sein Blick spiegelte eher Trauer denn Entrüstung wider.

Franziska wurde unsicher. Doch dann dachte sie an Walters Vermutung, dass Hannes eifersüchtig sei, und begann zu nicken, bevor sie energisch den Kopf schüttelte. „Sag du es mir!“

„Franziska, wir sind ein Team.“

Abschätzig verzog Franziska den Mund. Das konnte alles heißen.

„Also gut“, versicherte er. „Nein, ich habe natürlich nichts gesagt. Wie kommst du überhaupt darauf?“

„Ich war beim Chef. Und der meinte: Er wolle über alles, was wir ermitteln, Bescheid wissen, alle Fakten kennen und saubere Berichte erhalten!“ Franziska schob einige Unterlagen zur Seite und setzte sich mit der halben Pobacke auf den Schreibtisch. Nachdenklich atmete sie mehrmals tief ein und aus und zog dann einen Schmollmund. Hannes beobachtete die Kollegin amüsiert.

„Was ist dein Problem?“ Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. „So arbeitet man halt bei der Kripo.“

„Für mich hat sich das nicht nach Arbeitsmoral angehört“, entgegnete Franziska. „Ich glaube, er wollte auf etwas hinaus.“

„Vielleicht will er uns ja tatsächlich etwas unterstellen.“ Hannes stand auf und setzte sich neben Franziska auf die Schreibtischkante. Dann erklärte er ihr in verschwörerischem Ton: „Ramona hat mir heute Morgen erzählt, dass er die alten Berichte liest.“

„Du meinst, daher weht der Wind?“ Franziska passte ihre Stimme an.

Hannes zuckte mit den Schultern und schwieg. Franziska wusste, dass es ihm letztendlich egal sein konnte, wenn sie Ärger mit dem Chef bekam, und dass er sich ohnehin lieber an die Vorschriften hielt. Wenn, dann war sie es, die ihn zu unkonventionellen Praktiken anstiftete.

Auf einmal rutschte Franziska vom Schreibtisch, stellte sich vor ihn und legte ihm die Hände auf die mageren Schultern, so als wollte sie gleich seinen Kopf zu sich herunter ziehen.

„Tut mir leid“, lächelte sie ihn entschuldigend an. „Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Es ist ja nur wegen …“

Hannes löste ihre Hände von seinen Schultern und stand ebenfalls auf. „Kein Wort mehr über deinen Nacktmaler, hörst du! Außer, du willst dich beim nächsten Mal hier in unserem Büro malen lassen. Bildunterschrift: Die Kommissarin nackt bei ihren Ermittlungen!“

Hannes stand auf und holte sich ein frisches Glas vom Regal, dann nahm er eine von Franziskas Flaschen und schenkte sich ungefragt ein. Franziska sah ihm verunsichert zu. „Wie kommst du jetzt darauf?“

Hannes trank einen großen Schluck Mineralwasser, zog die Augenbrauen hoch und lächelte. „Wir sind ein Team. Denkst du, ich merke es nicht, wenn du was vorhast? So, und jetzt lass uns unser Wissen teilen. Je schneller wir den Fall Mautzenbacher aufgeklärt haben, desto schneller kannst du zu deinem Lover zurück.“

Franziska verzog das Gesicht. Genau das hatte sie vermeiden wollen, und jetzt steckte sie mitten in einer Kollegenkampagne! ‚Wisst ihr schon das Neuste über Franziska und ihren Nacktmaler?‘ Und am schlimmsten würde es werden, wenn Gruber und Obermüller dahinter kamen.


Die vergrößerten Fotos von Xaver Mautzenbacher, einmal freundlich in die Kamera blickend, und ein anderes Mal als Leiche mit fahlem Gesicht, Bilder von seiner Bauchwunde sowie von der Partisane waren bisher das Einzige, was an der großen Tafel befestigt worden war. Die Kriminaltechnik hatte etliche Fußabdrücke aus dem Bereich gesichert, wo der Kampf stattgefunden haben musste, saß aber noch an der Auswertung der Spuren. Und das würde, wie Annemarie gleich festgestellt hatte, auch noch ein paar Tage dauern.

„Wir sind ja hier nicht beim Fernsehen, wo die Auswertung der DNA-Spuren nach ein paar Stunden vorliegt“, verkündete sie, und Franziska schmunzelte, weil sie wusste, wie sehr Annemarie diese Filme mit der Alles-ist-möglich-Aufklärung liebte.

Hannes begann, Schneidlingers Wunsch entsprechend,

für alle, die nicht am Tatort gewesen waren, die Fakten zusammenzufassen. „Xaver Mautzenbacher, zweiundvierzig Jahre alt, Beruf unbekannt, wohnhaft in der Böhmerwaldsiedlung. In einer sehr bescheidenen Wohnung.“ Er zeigte auf die vor ihm liegenden Päckchen auf dem Tisch. „Er hatte zwanzigtausend Euro, einen Ausweis und eine Kreditkarte bei sich, außerdem eine Uhr und einen Schlüsselbund.“ Hannes gab die Schale herum. Die Beweisstücke waren alle sauber eingetütet.

Franziska ergriff das Wort. „Der Mann trug einen teuren Anzug …“

„Hey, das ist ja eine echte Rolex!“, rief Obermüller auf einmal dazwischen und drehte die Uhr aus der Schale, die gerade bei ihm Station machte, hin und her.

Hannes lachte amüsiert auf. „Tja, Obermüller, da bist du wohl auf einen Betrug hereingefallen. Diese Uhr ist nur ein billiges Imitat.“

Doch Obermüller ließ nicht locker. „Das hier ist doch kein Imitat! Das ist eine echte Rolex.“

„Nein“, lächelte Hannes noch immer. „Mautzenbacher selbst hat seinem Nachbarn gegenüber behauptet, dass es ein Fake ist. Vielleicht ist sie ja einfach nur gut gemacht.“

„Kennst du dich damit aus?“, fragte Obermüller seinen Nachbarn Gruber und reichte ihm die Uhr, ohne auf Hannes einzugehen. Aber der schüttelte nur den Kopf und gab sie Schneidlinger. Dieser drehte sie hin und her und verkündete siegessicher: „Liebe Kollegen, da gibt es überhaupt keinen Zweifel, die Uhr ist echt!“

Hannes wollte schon aufbegehren, als Hauptkommissar Schneidlinger mit der Uhr in der Hand aufstand und zu ihm nach vorne, an die Kopfseite des Tisches kam. Mit einem Stift zeigte er auf eine Stelle auf der Rückseite der Uhr, genau zwischen den Bandanstößen.

„Herr Hollermann, sehen Sie die Rolexkrone über der schwarzen Referenznummer? Sie ist immer mit einem 3-DHologramm versehen. Und sehen Sie auch, wie sich das Muster darunter verändert, wenn ich die Uhr hin und her bewege und damit den Blickwinkel verändere?“

Hannes nickte stumm, woraufhin Schneidlinger die Uhr wieder umdrehte.

„So wie bei diesem Modell wird bei jeder Rolex die Identifikationsnummer im Gehäuse auf sechs Uhr eingraviert, und zwar kreisförmig und mit sauber abgegrenzten Ziffern. Fälscher können heutzutage viel, aber nicht die Nummern sauber eingravieren“, erklärte der Chef weiter, bevor er hinzufügte: „Das ist übrigens eine Datejust 36 MM. Ein wunderbares Stück aus Edelstahl und Everose-Gold.“

Ohne ein Wort der Bewunderung über das Wissen seines Chefs abzugeben, stammelte Hannes: „Dann verstehe ich aber nicht, warum er seinem Nachbarn erzählt hat, es handle

sich dabei nur um ein Imitat.“

„Vielleicht hat er sie geklaut und wollte keine Begehrlichkeit wecken“, gab Obermüller zu bedenken. „Wobei, wenn sie eine Identifikationsnummer hat, ist das ja leicht rauszukriegen.“

Gruber nickte seinem Kollegen zu. Bei solchen Angelegenheiten waren die beiden Ermittler Spezialisten.

„Findet das mal für mich heraus“, forderte Franziska Obermüller auf und schenkte ihm ein Lächeln. Sie mochte den Kollegen. Denn der war zwar ein Kerl wie ein Schrank, aber trotzdem nicht auf den Kopf gefallen. „Ich habe ohnehin das Gefühl, dass bei diesem Mautzenbacher etwas nicht stimmt. Die Wohnung ist billig eingerichtet: Fernseher, Schränke, Sofa. Sogar die Bücher sind alt und abgegriffen. Man könnte meinen, er habe alles zusammengetragen, was nichts kostet. Und dann hängen im Kleiderschrank teure Anzüge.“

Franziska zuckte mit den Schultern. Sie wollte es jedem Einzelnen überlassen, das Geschilderte zu bewerten.

Als niemand etwas einwandte, fuhr sie fort: „Dass die Uhr echt ist, ändert natürlich einiges. Das heißt, wir müssen auch das gefundene Bargeld neu bewerten. Mautzenbacher lebte wie jemand, der nur vollkommen wertlose Dinge besitzt. Doch als er gefunden wurde, hatte er zwanzigtausend Euro bei sich. In druckfrischen Fünfhundertern. Also sicher nicht zusammengespart.“ Wieder machte sie eine Pause. „Ich denke, wir müssen klären, woher er das Geld hatte beziehungsweise wofür es bestimmt war. Auf der Suche nach dem Täter müssen wir beachten, warum er das Geld, das in der Innentasche seines Sakkos steckte, nicht gefunden beziehungsweise nicht an sich genommen hat. Wenn er davon überhaupt wusste …“

 

„Wir gehen davon aus, dass es im Keller der Burg zu einem Streit kam und Mautzenbacher dabei getötet wurde“, warf Schneidlinger ein.

„Bei der gegebenen Fundsituation drängte sich auch dieser Verdacht auf. Trotzdem muss es ja nicht ums Geld gegangen sein“, überlegte Franziska laut.

Der Chef nickte. „Ja, ja das stimmt. Gibt es denn schon Zeugen, die einen möglichen Täter gesehen oder etwas von einem Streit mitbekommen haben?“

„Nein.“ Franziska lächelte nachsichtig. „Aber wir werden uns heute noch einmal im Oberhaus umhören.“

„Gut, dann werden Sie“, er blickte abwechselnd zu Gruber und zu Obermüller, „alles über Xaver Mautzenbacher herausfinden. Drehen Sie in seiner Wohnung jedes Blatt Papier um, fragen Sie die Nachbarn, Arbeitskollegen …“

„Laut seinem Nachbarn Willi Geiler war er ständig auf Jobsuche“, warf Hannes ein und wartete, bis der Chef ihn ansah.

„Ein guter Hinweis. Haben Sie sonst noch etwas?“

„Ja. Das Auto. Es soll rot und rostig gewesen sein. Vielleicht ein Fiat.“

„In der Wohnung gab es absolut nichts Aussagekräftiges über Mautzenbacher. Am Ende fuhr er sein Leben im Auto spazieren“, gab nun auch Franziska zu bedenken.

„Sehr guter Ansatz“, lobte Schneidlinger. „Wäre doch gelacht, wenn wir nicht ein bisschen Licht in die alten Gemäuer der Burg bringen würden.“

Unsicher sahen sich alle am Tisch des Besprechungszimmers an. Noch wussten sie nicht viel über den neuen Chef. Doch eines war allen klar: Bei diesem Fall würde er sich bewähren

müssen, und das mussten sie alle mittragen.