Der Tote vom Oberhaus

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„Er hatte keinen Empfang.“ Annemarie zeigte mit dem Kopf zur Wand. „Wir sind im Keller.“

„Trotzdem, das spricht noch nicht für einen Mord“, beharrte Franziska. Sie beugte sich über die Körpermitte des Toten, um sich dessen Bauchwunde genauer ansehen zu können. „Was ist mit dem Gürtel? War der schon offen, oder habt ihr ihn geöffnet?“

Annemarie zuckte die Schultern und schaute Buchner an, der nach der Streife als Erster am Tatort angekommen war. Er nickte. „Das Hemd musste ich aufreißen. Der Gürtel dagegen war offen“, sagte er, ohne darüber zu spekulieren, welchen Sinn das machen könnte.

Franziska stöhnte resigniert und hielt die eingepackte Partisane dicht vor die klaffende Wunde. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie in den Bauch des Toten eingedrungen war, und bat Mona, die Szene mit der Kamera festzuhalten.

„Möchtest du mit drauf sein?“, fragte Mona und hob die Kamera weit über ihren Kopf. Mithilfe des drehbaren Displays richtete sie das Objektiv aus.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Franziska verwundert und sah die Kriminaltechnikerin, die gut einen Kopf kleiner als sie war, streng an.

„Gut, du hast da nämlich was.“Mona lächelte verschmitzt und deutete auf die Stelle unterhalb von Franziskas Schlüsselbein, die Hannes schon zuvor bemerkt hatte.

Als Mona mit dem Fotografieren fertig war, sah Franziska in die Runde und fragte erneut: „Also, was ist jetzt? Mord oder Suizid?“

Als niemand reagierte, mutmaßte sie weiter und merkte gar nicht, dass sie sich dabei immer weiter vom gewünschten Resultat entfernte. „Wenn ich mich töten will, indem ich mir diese Blattklinge in den Bauch stoße, dann muss ich die Holzstange ganz nah an der Metallklinge greifen.“ Sie zeigte mit leeren Händen, was sie meinte. „Und sie mir dann mit voller Wucht durch das Hemd in den Bauch stoßen.“ Sie hielt kurz inne, weil das passende Bild vor ihrem inneren Auge nicht entstehen wollte. „Wir wissen, dass Suizidenten oft davor zurückschrecken, die eigene Kleidung zu ruinieren. Warum aber öffnete er die Hose und nicht das Hemd?“

Sie sah sich um, doch keiner hatte eine Erklärung dafür.

„Und ich frage mich, wie du das machen willst. Die Holzstange ist fast zwei Meter lang und so schwer, dass du die Waffe kaum waagrecht halten kannst.“ Annemarie grinste sie frech an.

Franziska warf einen Blick auf die Statur des Toten und meinte lapidar: „Er hatte sicher mehr Kraft als ich.“

„Vielleicht hat er sie zwischen Boden und Wand geklemmt und sich dann hineingestürzt“, versuchte Hannes, eine Erklärung zu liefern. Man spürte aber, dass ihm bei dieser Überlegung nicht wohl war.

„Ja, das könnte sein“, nickte Franziska. „Aber, ob ein Mensch so kaltblütig sein kann?“

„Letztendlich wird uns diese Frage die Rechtsmedizin beantworten müssen. Nur die können anhand des Winkels sagen, ob die Spitze von unten oder von vorn eingedrungen ist. Wobei“, Anni wog die Tatwaffe erneut abschätzend in der Hand und sah sie prüfend an, „wenn er sich hineingestürzt hätte, dann müsste sich viel mehr Blut am Schaft befinden. Und“, sie zögerte, bevor sie ihre Einsicht kundtat, „wäre er dann mit der Waffe im Bauch bis zur Mitte des Raumes gegangen, hätte sie sich dort herausgerissen, auf den Boden geworfen, wäre zusammengebrochen und schließlich auf allen Vieren bis zur Tür gekrochen, nur um festzustellen, dass die verschlossen war?“

Es lag nicht unbedingt an der Schilderung, die allen den Atem verschlug. Vielmehr war es die Tatsache, dass die Tür verschlossen war. Von außen verschlossen.

Vom Täter verschlossen?

„Warum sagst du das nicht gleich?“, fragte Franziska nicht unfreundlich.

Entschuldigend hob Annemarie die Hände.

„Abwehrspuren gibt es jedenfalls nicht“, ergänzte Dr. Buchner, der mit seiner Tasche in der Hand das Gespräch verfolgt hatte.

Franziska überlegte, was diese zwei neuen Erkenntnisse zu bedeuten haben könnten. „Er hat den Täter gekannt und ist von dessen Angriff wahrscheinlich völlig überrumpelt worden.“ Sie hielt einen Moment inne. „Es könnte sogar sein, dass er sich arglos mit ihm hier getroffen hat, während der Täter alles geplant hatte und die Kaltblütigkeit besaß, sein blutendes Opfer eingesperrt zurückzulassen.“

„Vielleicht ging der Täter davon aus, dass sein Opfer Hilfe holen könnte“, versuchte es Hannes mit einer anderen Version, bis ihm auffiel, dass es noch viel perfider gewesen sein musste. „Der Täter wusste, dass es hier keinen Empfang gab. Er kannte sich aus, schließlich hatte er einen Schlüssel.“

„Wer hat ihn eigentlich gefunden?“, fragte Franziska. Sie wollte herausfinden, ob derjenige auch als Täter infrage kam.

„Die Direktorin des Museums entdeckte Blut auf dem Boden unter der Tür und rief uns an, weil sie sie nicht öffnen konnte“, wusste Hannes von den Streifenbeamten.

„Und wo ist sie jetzt?“

„In ihrem Büro. Im Gästehaus. Sie war dabei, als unsere Kollegen die Tür aufgeschoben und den Toten gefunden haben, und das ging ihr ziemlich nah.“

„Wo ist das Gästehaus?“

„Wenn du die Treppe raufgehst rechts, und dann gleich gegenüber.“

„Dann werde ich sie dort mal besuchen, vielleicht ist ihr ja sonst noch was aufgefallen“, entschied Franziska und sah Hannes an. „Wo bleibt eigentlich der Chef?“

Hannes schaute auf seine Uhr. „Er wollte so gegen acht kommen.“ Franziska versuchte, auf seine Uhr zu schielen. „Noch gut fünfzehn Minuten“, ergänzte Hannes.

Super, dachte Franziska und vergaß für einen Moment den Tatort, ich lass alles stehen und liegen und der Chef sagt einfach: Ich komme gegen acht.

„Was ist eigentlich mit dem Geld?“

Hannes nickte Annemarie zu, die den Beutel mit den zwanzigtausend Euro aus der Asservatenkiste holte und ihn in die Höhe hob. „Alles da!“

Franziska schmunzelte, als sie den überkorrekten Eifer der beiden sah. „Mich interessiert lediglich, wo ihr den gefunden habt.“ Kopfschüttelnd grinste Franziska die beiden an.

„Es war in seinem Sakko, in der Innentasche“, sagte Hannes. Franziska blickte auf das Jackett, das in einem Plastikbeutel neben dem Toten lag, und Annemarie beeilte sich zu versichern, dass das bei ihrem Eintreffen an der Stelle gelegen habe, wo die Blutspur begann, und dass Mona alles im Originalzustand fotografiert habe.

Franziska schüttelte den Kopf und stöhnte. Sie hätte gern

tief durchgeatmet, doch die Luft in diesem Raum war einfach zu stickig. Es roch nach süßem, schwerem Tod. Nichts, was sie besonders verlockend fand.

„Mir schwirrt schon der Kopf.“ Zum Zeichen, dass sie es ernst meinte, verdrehte sie die Augen.

„Wie sagtest du, heißt die Direktorin?“

„Halmgaard, Samantha Halmgaard“, las Hannes von seinen Notizen ab. Zum Dank klopfte Franziska ihm auf die Schulter und verließ den Tatort.


Kaum hatte die Kommissarin den Burghof überquert, stand sie auch schon vor einer der hölzernen Eingangstüren, die zum ehemaligen Gästehaus führten. Die Tür war versperrt, weshalb Franziska klingelte, und die Zeit, in der sie auf die Museumsdirektorin wartete, dazu nutzte, um den viel beachteten Farbfleck unterhalb ihres Schlüsselbeines zu entfernen. Dann hörte sie auch schon das leise Knarzen der Tür, die sich nur schwerfällig in den Angeln bewegte, und erblickte schließlich eine zierliche Frau, die sie mit großen Augen fragend ansah.

„Ja, bitte?“

„Oberkommissarin Franziska Steinbacher von der Mordkommission Passau.“ Sie zückte ihren Ausweis. „Sie sind Frau Halmgaard?“

Die Museumsdirektorin nickte, während sie Franziskas Papiere studierte, und gab der Kommissarin damit Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Ihr Kostüm saß perfekt, die braunen Haare waren zu einer raffinierten Hochsteckfrisur arrangiert, das Make-up war dezent.

„Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.“

„Ja, natürlich. Kommen Sie doch rein.“ Samantha Halmgaards Stimme war angenehm, der Händedruck fest.

Während sie nacheinander die ausgetretenen Steinstufen hinaufstiegen, fiel hinter ihnen die Eingangstür geräuschvoll ins Schloss. Franziska erschrak ein wenig, weil sie gerade fasziniert die hohen zweifarbigen Lackpumps Samantha Halmgaards inspiziert hatte. Solche Schuhe trugen nur wenige Frauen, vor allem, wenn sie tagtäglich über Pflaster und Kies gehen mussten.

„Wissen Sie denn schon, wie es passiert ist?“, fragte Samantha Halmgaard, nachdem sie die Tür zu ihrem Büro geschlossen hatte.

„Allem Anschein nach wurde der Mann erstochen“, erklärte Franziska und beobachtete das Gesicht der Direktorin.

„Erstochen, sagen Sie?“ Die zierliche Frau erschauderte.

„Ja, mit einer Partisane.“

„Doch nicht mit einer der historischen Prunkpartisanen?“

Die Kommissarin nickte.

„Oh, mein Gott, das ist ja furchtbar!“ Samantha Halmgaards Gesicht zeigte blankes Entsetzen. Franziska sah ihr an, dass sie wusste, von welcher Waffe die Kommissarin sprach. Doch eine Sekunde später hatte die Direktorin ihre Emotionen wieder unter Kontrolle. Mit einer einladenden Handbewegung zeigte sie zu einer kleinen Tischgruppe. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

Franziska wählte den Sessel, von dem aus sie den ganzen Raum im Blick hatte, und setzte sich. Ungefragt schenkte die Hausherrin Wasser in zwei Gläser ein und setzte sich ebenfalls.

„Wer tut so etwas?“

„Ich hoffe, dass Sie mir bei der Beantwortung dieser Frage helfen können.“ Franziska lächelte kurz und konzentrierte sich auf das Gesicht ihres Gegenübers.

„Ja, natürlich. Wenn Sie mir sagen, wie …“

 

„Zunächst einmal müsste ich wissen, wer alles einen Schlüssel zu der Tür hatte, hinter welcher der Tote gefunden wurde.“

Die Direktorin nickte, als habe sie schon die ganze Zeit auf diese Frage gewartet. „Normalerweise ist dieser Raum ja nicht abgeschlossen. Aber soweit ich weiß, gibt es zwei Schlüssel.“ Sie hielt kurz inne, schloss die Augen und massierte sich mit den Fingerspitzen beider Hände die Schläfen. Dabei blitzte ein funkelnder Diamantring im Licht der Deckenlampe auf. Fasziniert sah Franziska dem Lichtspiel zu.

„Bitte entschuldigen Sie, aber das war heute alles ein bisschen viel. Wie war noch einmal Ihre Frage?“

Franziska lächelte nachsichtig. „Ich wollte wissen, wer alles einen Schlüssel hatte.“

„Ah ja, natürlich.“ Samantha Halmgaard ließ die Hände in den Schoß sinken und richtete sich auf. „Einen Schlüssel habe natürlich ich, er liegt immer in meinem Schreibtisch, und den zweiten habe ich dem Maler gegeben, der den Raum gerade umgestaltet.“

„Das heißt nur Sie und der Maler hatten Zugang zu dem Raum?“, kombinierte die Kommissarin.

„Im Moment. Ja, das ist richtig.“

Franziska gab sich mit dieser Antwort zufrieden undwechselte das Thema. „Wie kam es eigentlich, dass Sie den Toten gefunden haben?“

„Ich … Es war purer Zufall. Ich wollte mir die Skizzen des Malers ansehen, bevor morgen die Ausmalarbeiten beginnen.“ Samantha Halmgaard rückte ihre Brille zurecht und versuchte, sich zu konzentrieren. „Als ich auf die Tür zuging, sah ich die Blutlache. Das heißt, zunächst dachte ich, es sei verschüttete Farbe, und ich ärgerte mich, weil ich fürchtete, dass das schöne Parkett ruiniert sei.“

„Und?“

„Ich schloss die Tür auf und stellte fest, dass sie sich nicht öffnen ließ. Es war ganz merkwürdig. Ich spürte ja, dass sie offen war, aber sie wollte einfach nicht nachgeben. Da bückte ich mich noch einmal, um mir die Flüssigkeit genauer anzusehen, und stellte fest, dass es Blut war.“ Samantha Halmgaard schaute auf den Zeigefinger ihrer rechten Hand, als haftete noch immer das Blut des Toten daran.

„Sie können sich bestimmt vorstellen, wie entsetzt ich war, als die Polizei die Tür schließlich aufdrückte und wir diesen Mann auf dem Boden entdeckten.“

„Haben Sie den Mann schon einmal hier gesehen?“

Die Direktorin schüttelte gedankenverloren den Kopf und schloss erschöpft die Augen. „Es war einfach grotesk, er sah so friedlich aus, und dann das viele Blut auf dem Boden. Ich glaube, das war alles ein bisschen viel für meine Nerven.“

Müde öffnete sie die Augen und sah die Kommissarin an. „Aber wissen Sie, was wirklich seltsam war? Mir ist erst später aufgefallen, dass ich gar nicht mit meinem Schlüssel aufgeschlossen habe, sondern mit dem, der die ganze Zeit über im Schloss steckte.“

Zur Bekräftigung ging sie zu ihrem Schreibtisch und holte einen weiteren großen Schlüssel heraus, der genau wie der aussah, der bereits am Tatort sichergestellt worden war.

„Gut, dann spreche ich mit dem Mann, der den zweiten Schlüssel hatte. Wenn Sie mir bitte seinen Namen und die Adresse geben, unter der ich ihn erreichen kann.“

„Sie glauben doch nicht, dass Froschhammer …“ Die Direktorin schien zu überlegen und zuckte dann unentschieden mit den Schultern, was Franziska jedoch kaum noch beachtete.

„Froschhammer“, wiederholte sie tonlos und dachte für einen Moment, der Boden gäbe unter ihren Füßen nach. Soweit sie wusste, gab es nur einen Maler, der Froschhammer hieß. Walter Froschhammer.

„Ja“, bestätigte die Direktorin inzwischen überzeugter und sprach weiter. „Ich suche Ihnen die Adresse heraus, sie muss hier irgendwo stehen.“

Erleichtert registrierte Franziska, dass die Direktorin aufstand, zu ihrem Schreibtisch ging und in einem Adressbuch blätterte. Bestimmt war ihr Gesicht so bleich wie das blutleere Antlitz des Toten! Sie stand auf und ging zum Fenster, als interessierte sie sich urplötzlich für das Altstadt-Panorama, das sich dem Betrachter von hier aus bot.

Dabei schien die Direktorin ihre Nervosität gar nicht zu bemerken. „Hier ist die Adresse, es ist eigentlich ganz einfach zu finden, Sie müssen nur …“

„Kann es denn sein, dass jemand diesen Schlüssel ohne Ihr Wissen nachmachen ließ?“, fiel Franziska ihr ins Wort. Alles, nur nicht Walter, dachte sie und bemerkte selbst, dass sie bereits auf der Suche nach einer Entschuldigung für Walter war.

„Ich wüsste offen gestanden nicht, welchen Grund es dafür geben sollte. Der Raum ist ja normalerweise immer zugänglich.“

„Und seit wann hatte Froschhammer den Schlüssel?“, überging Franziska ihre Erklärung und spürte, wie ihr die Stimme entglitt.

„Seit Freitag.“

Die Kommissarin wandte sich vom Fenster ab. „War Froschhammer heute im Haus?“ Sie hielt die Luft an und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

„Ja. Das weiß ich zufällig, weil er kurz bei mir vorbeischaute.“ Samantha Halmgaard lächelte, als sei sie mit dem Verlauf des Gespräches sehr zufrieden, während Franziska verzweifelt versuchte, ihre Betroffenheit nicht allzu offensichtlich zu zeigen.

„Und wissen Sie auch noch, wann das war?“

„Es muss so gegen zwei gewesen sein. Er sagte, er wäre mit den Vorarbeiten fertig und fange morgen mit dem Ausmalen an. Wenn ich wollte, könnten wir es uns gemeinsam ansehen. Ich sagte, jetzt wäre es schlecht, aber ich würde es mir auf jeden Fall heute noch anschauen. Dann ist er gegangen.“

„Und wie lange blieb er bei Ihnen?“

„Nicht lange. Er schien es eilig zu haben.“

„Eilig wegzukommen?“

„Also, das ist jetzt nur eine Vermutung von mir, aber ich denke, er hatte noch etwas vor. Er schien irgendwie … aufgeregt zu sein.“

„Hat er Ihnen etwas erzählt?“

Samantha Halmgaard überlegte, schüttelte aber den Kopf und fragte dann mit aufgebrachter Stimme: „Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Walter Froschhammer den Mann getötet hat?“

Franziska zuckte die Schultern. Was sie glaubte, war in diesem Fall völlig unwichtig.

„Wir müssen alles in Betracht ziehen“, antwortete sie schließlich. Es war ein Automatismus. Sie hatte diesen Satz schon hunderte Male, in hunderten von Situationen gesagt, aber nie, nie vorher, war er ihr so grausam vorgekommen, wie in diesem Moment.


Kaum hatte er sich am Telefon gemeldet, da blaffte ihn auch schon eine wütende Stimme an. „Hey, du kleiner Wichser, was sollte die Scheiße heute?“

„Was?“ Er musste sich verhört haben. Seit Stunden wartete er auf eine Nachricht. Hoffte, dass alles gut gegangen war. Und jetzt dieser bizarre Satz.

„Sie müssen sich verwählt haben!“, sagte er schließlich mit fester Stimme und hoffte, dass das eine angemessene Reaktion war. Während er sich krampfhaft überlegte, wie er das Gespräch zügig beenden konnte, versuchte er gleichzeitig, die auflodernde Erinnerung zurückzudrängen. Als er gerade auflegen wollte, begann der Anrufer zu schreien. „Verarsch mich nicht, du weißt genau, wer ich bin und was ich will!“

„Nein“, antwortete er gedehnt, und es fiel ihm endlich wie Schuppen von den Augen, zu wem die Stimme gehörte.

„Wir waren verabredet. Du wolltest mir etwas geben!“, mahnte der Anrufer. Der Satz klang nach einer weiteren Chance. Und auf einmal, von einer Sekunde auf die andere, kamen ihm die Bilder seiner schlimmsten Erfahrung in den Sinn. Niemals würde er diesen Abend vergessen.

„Aber … aber ich dachte …“ Er fühlte sich auf einmal so hilflos. Was war nur schief gegangen?

„Du dachtest? Sieh einmal an, und ich dachte, du nimmst immer nur!“

Ein höhnisches Lachen löste die Beschimpfung ab, woraufhin er den Hörer in die andere Hand nahm, um sich die verschwitzte Hand an seiner Hose abzuwischen. Er war sich jetzt ganz sicher. Die Stimme gehörte zu Samstagabend. Angst floss wie schwarzer Teer durch seine Brust. Er brauchte Zeit. Er musste nachdenken! Aber Zeit gab ihm der andere nicht.

„Wenn du also denken kannst, dann solltest du dir ganz schnell einfallen lassen, wie du deinen Kopf retten willst. Oder hast du gedacht“, er spuckte das Wort förmlich in den Hörer, „du könntest mich hintergehen? Seit heute Nachmittag bist du vogelfrei! Hörst du? Jeder, der Bock darauf hat, kann dich jetzt abknallen. Gefällt dir die Aussicht?“

„Wie?“, fragte er kleinlaut und schwitzte noch mehr. Er war sich jetzt ganz sicher, dass etwas schief gegangen war.

„Dich zu finden wird eine Kleinigkeit sein. Was sie mit dir machen? Keine Ahnung! Aber es sind ziemlich viele, und sie sind ziemlich sauer auf dich. Denen wird schon was einfallen. Wut ist die Tochter der Enttäuschung, und deren Kind heißt Vergeltung“, erklärte der Mann und fügte fast mitleidig hinzu: „Wie bist du nur auf die Idee gekommen, bei einer so beschissenen Nummer mitzumachen?“

Angestrengt lauschte er in den Hörer, aber es klang tatsächlich so, als wolle der andere seine Erklärung hören. Erneut schöpfte er Hoffnung.

„Das verstehe ich auch nicht“, versuchte er den Anrufer zu beschwichtigen.

„Wie bitte?!“, schrie der Mann am anderen Ende der Leitung, und es klang jetzt überhaupt nicht mehr freundlich.

„Ich weiß es doch auch nicht …“, antwortete er mit weinerlicher Stimme.

„Du willst mich tatsächlich verarschen!“

„Nein. Nein!“

„Nein, was?“

„Nein, ich will dich nicht verarschen.“

„Das würde ich dir auch nicht raten …“ Die Stimme des Anrufers war jetzt wieder zuckersüß. „Du hast exakt noch eine Chance: Du lieferst, und zwar mit Zins und Zinseszins, weil sonst …“ Sein Lachen klang hämisch. „Wir sehen uns wieder!“

Vor Schreck fiel dem Mann der Telefonhörer aus der Hand. Rasch bückte er sich, konnte aber nur noch die letzten Worte des Anderen hören: „Ich melde mich!“

Apathisch blieb er sitzen und starrte auf den Hörer, bevor er ihn vorsichtig auf die Station zurücklegte und sich vergewisserte, dass die Verbindung auch wirklich unterbrochen war. Seine Hände zitterten. Sein Körper bebte. Er war noch nie mutig gewesen. Er hatte sich einfach darauf verlassen, dass alles gut gehen würde! Dabei hätte er doch wissen müssen, dass es in jedem Spiel Gewinner und Verlierer gab. Geben musste. Wann war er eigentlich auf die Idee gekommen, von jetzt an zu den Gewinnern zu zählen?

Als er aufsah, hatte er das Gefühl, draußen einen Schatten vorbeihuschen zu sehen. Hastig sprang er auf und ließ die Rollos herunter. Aber sicher fühlte er sich deshalb noch lange nicht. Er wusste ja noch nicht einmal, wie viele es waren.


„Machen Sie sich schon mal ein Bild von der Lage“, hatte der Chef am Telefon zu Hannes gesagt, nachdem ihn dieser über den Leichenfund im Oberhaus informiert hatte. „Ich übernehme dann.“

Zuerst hatte Hannes sich darüber geärgert, wie sein Chef ihn behandelte. Frei nach dem Motto: Der kleine Hannes macht die Vorarbeit, und der große Schneidlinger übernimmt, wenn es interessant wird. Doch dann hatte er die Chance erkannt und Franziska angerufen, um sie mit ins Boot zu holen. Wenn Schneidlinger später kam, könnten sie beide, als eingespieltes Team, zeigen, dass auf sie Verlass war.

Doch Franziska war an diesem Abend eine große Enttäuschung. Und sie hatte ihn angelogen. Nichts Dramatisches, aber es hatte ihn geärgert. Was sollte das mit der Ausstellung und der ganzen Farbe an ihrem Dekolleté? Sie hatte ein Date gehabt und wollte nicht darüber reden. Nun, sollte sie doch, aber musste sie ihn deshalb mit so einer billigen Ausrede abspeisen?

„Kommissar Johannes Hollermann“, so hatte er sich schon als kleiner Bub beim Spielen mit seinen Freunden vorgestellt und gewusst, wenn er erst einmal groß war, dann würde er zur Polizei gehen. Und groß war er geworden, fast ein bisschen lang, und dank seiner Gene und dem ständigen Radeln sehr schlank. Beruflich gesehen hatte in seinem Leben bisher alles ganz gut geklappt. Nur der Tod seiner Freundin Mira hing ihm noch immer nach. Wegen ihr war er vor einem guten Jahr zur Mordkommission gewechselt. Den Grund hatte er niemandem genannt, und inzwischen war es auch egal. Er mochte den Job und seine Kollegin Franziska, und so war er auch an diesem Abend voll bei der Sache. Trotz oder vielleicht gerade weil sie so taten, als sei er noch immer der kleine Bub, der davon träumte, ein großer Held zu sein.

 

In der letzten halben Stunde hatte sich Hannes um die wenigen Besucher gekümmert, die zum Zeitpunkt des Leichenfundes noch auf dem weitläufigen Burggelände gewesen waren und vielleicht etwas von der Tat mitbekommen hatten. Wie zu erwarten, war seine magere Ausbeute nicht dazu geeignet, um seine Stimmung zu heben.

Das änderte sich erst, als er zurück zum Tatort kam. Schon von draußen hörte er Schneidlingers Stimme, und als er durch die alte Eichenholztür in den Kellerraum trat, sah er

ihn mit der Chefin der Kriminaltechnik neben dem Toten stehen. Der ‚neue‘ Chef, wie er von den Kollegen betitelt wurde, bis er sich seinen endgültigen Spitznamen verdient hatte, trug auch an diesem heißen Juniabend einen tadellos sitzenden Anzug, eine Krawatte und schwarze Lackschuhe, und Hannes musste zugeben, dass ihm dieser Aufzug sehr gut stand.

Als Annemarie ihn sah, lächelte sie ihn an und rief ihm zu: „Ah, Hannes, gut, dass du kommst, der Chef ist jetzt auch endlich da!“

So eine Spitze konnte sich nur Annemarie leisten. Sie hatte weder Mann noch Kind und war es nicht gewohnt, sich von irgendjemandem Vorschriften machen zu lassen.

Ohne auf den verbalen Seitenhieb einzugehen, beendete Schneidlinger das Gespräch mit Annemarie. „Na, wie ist es gelaufen?“, raunte er Hannes zu und sah ihn komplizenhaft an. Fehlte nur noch, dass er ihm vertrauensvoll den Arm um die Schultern legte, dachte Hannes.

„Der Mann heißt Xaver Mautzenbacher, ist zweiundvierzig Jahre alt …“ Gewissenhaft zählte Hannes erst die Fakten und dann ihre Schlussfolgerungen auf.

Schneidlinger, der seine Hände so aneinandergelegt hatte, dass sich die Fingerspitzen berührten, wippte, während er seinem Mitarbeiter aufmerksam zuhörte, mit dem Oberkörper sanft vor und zurück.

„Gute Arbeit, Kollege“, sagte er, als Hannes seinen Bericht beendet hatte und aus dem Augenwinkel heraus Franziska kommen sah.

„Ach, Frau Steinbacher, wie schön!“

Franziska nickte zum Gruß, und Hannes sah den Ärger in ihrem Gesicht. Schneidlingers Begrüßung hörte sich an, als habe er eine Stunde auf sie gewartet und nicht sie auf ihn.

„Der Tote wurde übrigens von der Museumdirektorin gefunden“, verkündete Hannes, um seinen Bericht zu beenden und an Franziska abzugeben.

„Ja“, bestätigte diese und nahm den Faden auf, „und Frau Halmgaard sagt, es gibt zwei Schlüssel, einen hat sie und einen …“

„Samantha Halmgaard?“

„Ja“, bestätigte Franziska irritiert und verstand offensichtlich nicht, was daran so wichtig war.

„Das gibt’s ja nicht! Wie klein ist denn diese Welt?“ Schneidlinger beugte sich ein wenig vor und fügte erklärend hinzu: „Wir haben während des Studiums zusammengewohnt. Also, in einer WG natürlich. Sie studierte Geschichte. Eine sehr ehrgeizige Frau. Ich wusste schon damals: Sie wird es einmal zu etwas bringen.“ Er legte die Fingerspitzen aneinander und begann wieder zu wippen, bis er grinsend hervorstieß: „Direktorin des Oberhausmuseums. Nicht schlecht!“

„Könnte man sagen“, ging auch die Kommissarin auf seinen Ton ein und erklärte dann etwas sachlicher: „Ich habe gerade mit ihr gesprochen.“

„Und? Wie sieht sie aus? Immer noch sehr hübsch?“

Franziska sah ihn ungläubig an, dann nickte sie. „Äh … ja!“

„Das dachte ich mir.“ Mit einem kurzen Kopfschütteln schloss Schneidlinger das Thema ab. „Sie sagten, es gibt zwei Schlüssel zu diesem Raum. Dann müssen wir natürlich mit denen reden, die den Schlüssel haben.“

Schneidlinger sah Hannes an, doch bevor der etwas sagen konnte, stimmte Franziska zu. „Natürlich. Allerdings würde ich mir vorher gern die Wohnung des Toten ansehen und abklären, in welchem Umfeld er lebte.“

„Ja, machen Sie das, und nehmen Sie Herrn Hollermann mit.“ Er schenkte Franziska und Hannes ein joviales Lächeln und entließ sie mit einer entschlossenen Kehrtwende aus dem Gespräch.