Selbstoptimierung und Enhancement

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2 Normative Bezugsgrößen

Um sich ein umfassendes Bild über den aktuellen Selbstoptimierungstrend zu machen, sind Kenntnisse und Forschungsmethoden aus verschiedensten Disziplinen und letztlich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar. Bei einem empirisch-deskriptiven Zugang etwa im Rahmen medizinischer, naturwissenschaftlich-technischer, soziologischer und psychologischer Studien über Selbstoptimierung wird Wissen aus der Erfahrung gewonnen mit dem Ziel einer möglichst exakten und intersubjektiv überprüfbaren Beschreibung und Erklärung dessen, was der Fall ist. Im Gegensatz dazu geht es bei dem hier gewählten normativ-wertenden Zugang nicht um eine wertneutrale Beschreibung des Ist-Zustandes oder eine Prognose wahrscheinlicher zukünftiger Veränderungen von Technologien, gesellschaftlichen Verhältnissen oder psychischen Zuständen, sondern um normative, d.h. wertende Aussagen über bestimmte Selbstoptimierungspraktiken. Im Zentrum philosophisch-ethischer Reflexionen steht anstelle des „Seins“ das „Sollen“. Die EthikAllgemeineAllgemeine EthikEthik ist eine Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen menschlichen Handeln zu begründen versucht (vgl. Fenner 2007, 16). Anders als eine theologische Ethik setzt eine säkulare philosophische Ethik keine bestimmte Religion oder Weltanschauung voraus, sondern ihre Reflexionen und Begründungen sollen dem Anspruch nach für alle vernunftfähigen Lebewesen einsichtig sein. Während sich empirische Vorgehensweisen auf Beobachtungen, Umfragen oder Experimente stützen, bedienen sich normativ-wertende Betrachtungen philosophischer Methoden der kritischen Hermeneutik und des rationalen Argumentierens und Begründens. Wichtig ist daher eine Argumentationslehre, die den richtigen Umgang mit sich teilweise widerstreitenden Gründen und Argumenten klärt und das Auge für starke und schwache oder logisch gültige und ungültige Argumente schult. Neben der Ethik ist es zusätzlich noch das Recht, das klar wertend und noch stärker vorschreibend und verordnend zu menschlichen Handlungen Stellung bezieht: Die in Gesetzestexten schriftlich fixierten rechtlichen Regelungen neuer Biotechnologien sind zwar nur dann legitim, wenn sie sich mit ethischen Argumenten rechtfertigen lassen. Sie können aber die allein an die innere Selbstverpflichtung appellierenden Normen besser durchsetzen, indem sie die schwachen moralischen Sanktionen wie gesellschaftlicher Tadel oder Ausgrenzung zusätzlich durch staatliche Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen unterstützen.

Um menschliche Handlungen bewerten, kritisieren oder rechtfertigen zu können, beziehen wir uns in aller Regel auf gesellschaftlich anerkannte Werte, Normen, Prinzipien oder Rechte. Während in alltäglichen Diskussionen die Richtigkeit solcher normativer Maßstäbe meist stillschweigend vorausgesetzt wird, prüft die wissenschaftliche Disziplin der philosophischen Ethik die Legitimität der dabei erhobenen Geltungsansprüche. In diesem Kapitel sollen vier normative Bezugsgrößen, Konzepte oder Prinzipien genauer untersucht werden, die bei der ethischen Positionierung für oder gegen Selbstoptimierung eine große Rolle spielen: „Glück“ und „gutes Leben“ als individualethischer Maßstab (Kap. 2.1), „Gerechtigkeit“ als sozialethischer Maßstab (Kap. 2.2), „Freiheit“ und „Würde“ (Kap. 2.3) sowie „Normalität“ und „Natürlichkeit“ (Kap. 2.4). Auf sie wird zwar in der Enhancement-Debatte häufig ohne weitere Erläuterungen Bezug genommen, aber bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als äußerst mehrdeutig und vielschichtig. Die seit den Anfängen der philosophischen Ethik in der griechischen Antike präsenten Begrifflichkeiten sind bis heute Gegenstand philosophischer Kontroversen, ohne dass sich einheitliche und allgemein anerkannte Definitionen durchgesetzt hätten. Um eine differenzierte und gut begründete Positionierung für oder gegen Selbstoptimierungs- oder Enhancement-Praktiken entwickeln zu können, empfiehlt sich daher eine Klärung der Konzepte „Glück“, „Gerechtigkeit“, „Natürlichkeit“, „Freiheit“ und „Würde“. Diese Liste menschlicher Grundwerte oder Prinzipien beansprucht keine Vollständigkeit, sondern ist auf die Selbstoptimierungs-Debatte zugeschnitten. Ganz allgemeine Grundwerte wie „Leben“ oder „Verantwortung“ bilden gleichsam die Grundlage der Diskussion über Selbstoptimierung, weil eine Optimierung natürlich das Leben der Betroffenen voraussetzt und ethische Reflexionen nur sinnvoll sind unter der grundsätzlichen Möglichkeit und Bereitschaft der Menschen zur Übernahme von Verantwortung. Viele weitere Werte oder Prinzipien werden in anderen Kapiteln ausführlich erörtert, z.B. „Gesundheit“ (Kap. 1.3), „Schönheit“ (Kap. 3.1), „Authentizität“ (Kap. 4.1) oder „Bildung“ (Kap. 4.2).

In den darauffolgenden Kapiteln 3–5 stehen dann nicht mehr ethische Begründungsfragen und begrifflich-konzeptuelle Schwierigkeiten im Zentrum, sondern einzelne Verbesserungspraktiken. Diese Reflexionen sind daher nicht mehr der begründungsorientierten, theorielastigen „allgemeinen Ethik“ zuzurechnen, sondern einer problembezogenen, praxisorientierten „angewandten Ethik“: Angewandte EthikEthikAngewandte ist eine noch junge Teildisziplin der Ethik, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifische Handlungsbereiche und konkrete gesellschaftliche Probleme anwendet (vgl. Fenner 2010, 10ff.). Entsprechend der verschiedenen menschlichen Handlungsfelder mit unterschiedlichen moralischen Konflikten haben sich mittlerweile klassische Bereichsethiken wie Bio-, Wirtschafts- und Medienethik etabliert. Aufgrund des deutlichen Schwerpunkts auf dem biomedizinischen Enhancement in diesem Buch wären Fragen der Selbstoptimierung zunächst der weiteren Bereichsethik der BioethikEthikBio- zuzuordnen, die sich mit den ethischen Problemen im Umgang mit allem Lebendigen widmet. Angesichts der Dreiteilung des Lebendigen in menschliches, tierliches und pflanzliches Leben gehören sie im engeren Sinn zur MedizinethikEthikMedizin-, die sich mit den ethischen Problemen beim Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen befasst (vgl. ebd., 53). Angewandte Ethik versteht sich generell nicht mehr als rein wissenschaftliche Disziplin, sondern weitet sich aus zu einer Tätigkeit des gemeinsamen demokratischen Sich-Beratens in der Öffentlichkeit. Aufgabe der EthikEthiker in solchen Meinungsbildungsprozessen besteht wesentlich darin, Diskurse zu strukturieren und zu ihrer Versachlichung beizutragen. Statt einfache und klare Antworten zu geben und damit den Beteiligten die Urteils- und Entscheidungsfindung abzunehmen, sollen vielmehr deren Reflexions- und Argumentationskompetenzen durch begriffliche Differenzierungen und das Aufdecken unhinterfragter Wertvorstellungen gefördert werden.

Als eine Art Rahmentheorie kann dabei die von Karl-Otto Apel und Jürgen HabermasHabermas, Jürgen begründete DiskursethikEthikDiskurs- dienen, die beim ethischen Begründen des Moralprinzips von den Voraussetzungen moralischen Urteilens ausgeht (vgl. Fenner 2008, 110ff.). Denn wenn wir über ethisch strittige Praktiken wie z.B. biotechnologisches Enhancement diskutieren, orientieren wir uns den Diskursethikern zufolge immer schon an allgemeinen Diskursregeln: etwa die Regeln, dass alle sprach- und handlungsfähigen Wesen als vernünftige und gleichberechtigte Gesprächsteilnehmer respektiert werden und ihre Standpunkte einbringen können, alle ihre Positionen statt mit emotionalen Appellen oder Gewalt mit Argumenten und Gründen rechtfertigen und am Ende das beste Argument gelten lassen. Wer diese Regeln akzeptiert, erkennt aber implizit zugleich das diskursethische Moralprinzip an: Ethisch legitim kann diesem zufolge nur diejenige Norm sein, die bei allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung finden könnte. Nicht jeder faktische Konsens, sondern nur ein begründeter rationaler Konsens verbürgt wohlgemerkt nach diesem Prinzip die Legitimität von Normen.

2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab

Innerhalb der normativen EthikEthik lassen sich zwei grundlegende Bewertungshinsichten unterscheiden, die in zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln beleuchtet werden sollen: die prudentielle Perspektive der Individual- oder StrebensethikEthikIndividual-, Strebens-, die sich der persönlichen Lebensführung des Einzelnen und dem für das Individuum Guten widmet, und die moralische Perspektive der Sozial- oder SollensethikEthikSozial-, Sollens-, die sich mit dem menschlichen Zusammenleben und dem für die Gemeinschaft Guten befasst (vgl. Fenner 2008, 8f.). Dabei unterscheidet sich der normative Anspruch der beiden ethischen Bereiche: Während die Individualethik Ratschläge und Empfehlungen für die je eigene Lebensgestaltung gibt, zielt die Sozialethik auf allgemeingültige Sollensforderungen oder Regelungen ab. Allerdings bildet das gute Leben der vom Handeln betroffenen Mitmenschen eine zentrale Hinsicht für die gebotene moralische Rücksichtnahme, sodass individualethische Reflexionen auch für die Sozialethik bedeutsam sind. Obgleich es in der Debatte um Selbstoptimierung und Enhancement nicht immer klar benannt wird, geht es bei den verschiedenen Optimierungsmaßnahmen im Grunde immer um ein glückliches oder gutes Leben bzw. größere Chancen auf ein solches (vgl. exemplarisch KassKass, Leon u.a., 19/NagelNagel, Saskia, 72/HeilingerHeilinger, Jan-Christoph, 39). Nach der sogenannten welfarist definition wird Enhancement ausdrücklich bestimmt als jede biologische oder psychologische Veränderung einer Person, die ihre Chancen auf ein gutes Leben erhöht (vgl. SavulescuSavulescu, Julian u.a., 7). Nicht nur in dieser „welfarist“-Definition, sondern in der Selbstoptimierungs-Debatte ganz allgemein wird aber zumeist nicht näher angegeben, was das „gute Leben“ oder „Glück“ genau bedeuten sollen (vgl. dazu BayertzBayertz, Kurt u.a., 11). Häufig wird lediglich auf die Vielfalt philosophischer Theorien des guten Lebens verwiesen, ohne einem der systematischen Ansätze den Vorzug zu geben. Statt bei ihren Überlegungen eine bestimmte verbindliche Theorie des Guten vorauszusetzen, sollen diese offen bleiben für eine ganze Bandbreite unterschiedlichster individueller Vorstellungen von menschlichem Wohlergehen (vgl. ebd., 12/HeilingerHeilinger, Jan-Christoph, 95). Ganz unabhängig von der empirischen Frage nach konkreten Inhalten des Glücks einzelner Menschen ist aber die philosophisch-begriffliche Klärung sinnvoll, was menschliches Glück ganz allgemein und formal gesehen ist (vgl. BirnbacherBirnbacher, Dieter 2005, 2). Im Folgenden wird ein Mittelweg eingeschlagen zwischen einem paternalistisch-konservativen objektivistischen und einem radikalliberalen subjektivistischen Verständnis vom guten Leben oder Glück. Denn die mehr oder weniger bewussten subjektiven Glücksvorstellungen der Menschen sind sehr wohl einer philosophischen Reflexion und Kritik zugänglich, sodass sie beispielsweise auf immanente Widersprüche oder problematische Konsequenzen hin geprüft werden können. Wie lassen sich also das „gute Leben“ und das „Glück“ näher bestimmen?

 

2.1.1 Definitionen vom „Glück“ oder „guten Leben“

In der Antike benutzte man für das Höchst- und Letztziel allen menschlichen Strebens das griechische Wort „eudaimonia“, das in gleicher Weise „Glück“ wie „gutes Leben“ meinte. Unter einem guten LebenGlückstheoriengutes Leben kann in einer noch sehr allgemeinen Formulierung eine bestimmte Form der aktiven Gestaltung des Lebens verstanden werden, bei der das Leben im Großen und Ganzen positiv beurteilt und entsprechend gefühlsmäßig bejaht werden kann. Der Begriff „GlückGlück“ hingegen ist nicht nur notorisch vieldeutig, sondern hat sich in der Neuzeit erheblich gewandelt: In der Antike dominierte ein Glückstheoriensubjektivistische/objektivistischeobjektivistisches Glücksverständnis mit dem Postulat allgemeiner objektiver Kriterien, anhand derer sich das Glück oder Unglück der Menschen gleichsam vom Außenstandpunkt aus feststellen ließ. Im Laufe der neuzeitlichen Individualisierungsprozesse wurde jedoch der Glücksbegriff zunehmend GlückSubjektivierung/Psychologisierung dessubjektiviert, privatisiert und psychologisiert (Kap. 1.2). Gemäß dem heute allgemein verbreiteten subjektivistischen Glücksverständnis meint „Glück“ einen innerlichen, subjektiven, empirischen Gefühlszustand, über den letztlich nur die Betroffenen selbst Auskunft geben können. Ökonomische, sozialwissenschaftliche oder psychologische Studien der noch jungen empirischen Glücksforschung verzichten entsprechend bei ihren großangelegten Befragungen auf eine vorgängige Glücksdefinition, und auch einige Philosophen der Gegenwart verwenden den Glücksbegriff rein subjektivistisch und lassen nur subjektive Bewertungsmaßstäbe gelten (vgl. vgl. Frey u.a., 21/BirnbacherBirnbacher, Dieter 2005, 12ff./Sumner, 140). In jüngerer Zeit hat sich aber in der Philosophie die Tendenz durchgesetzt, im Rückgriff auf antike Glücksmodelle wieder objektive Bewertungsmaßstäbe zu statuieren. Glück ist dann nicht lediglich ein innerer psychischer Zustand, sondern bemisst sich am Vorliegen bestimmter objektiver Güter oder Lebensbedingungen. Typologisch vereinfachend wird dem in der Neuzeit dominierenden empirisch-psychologisch verstandenen subjektiven EmpfindungsglückGlückEmpfindungs-/Erfüllungs- ein auf die Antike zurückgehendes objektives Erfüllungsglück entgegengesetzt, das ein objektiv günstig verlaufendes und erfüllendes Leben wie beispielsweise als erfolgreicher Pianist, geachteter Mitbürger und Familienvater voraussetzt (vgl. Horn 2011, 382). Häufig werden bei dieser Entgegensetzung die Glücksbegriffe durch andere differenziertere Ausdrücke ersetzt: Statt von „Empfindungsglück“ wird dann etwa vom gleichermaßen subjektiv und psychologisch verstandenen Wohlbefinden GlückWohlbefinden/Wohlergehengesprochen, statt von „ErfüllungsglückGlückEmpfindungs-/Erfüllungs-“ von einem weniger subjektivistisch konnotierten Wohlergehen („well-being“) oder von „Wohlfahrt“ („welfare“). Viele Philosophen meiden den Begriff „GlückGlück“ aber aufgrund seiner subjektivistischen Konnotationen ganz und bevorzugen den als Übersetzung für das griechische „eudaimonia“ eingeführten künstlichen Terminus „das gute LebenGlückstheoriengutes Leben“, der offener für externe objektive Beurteilungskriterien ist (vgl. SteinfathSteinfath, Holmer 2011, 297).

Hilfreich für die Selbstoptimierungsdebatte ist nicht nur diese elementare Unterscheidung zwischen subjektivem „Wohlbefinden“ und objektivem „Wohlergehen“, sondern die damit zusammenhängende zeitspezifische Abgrenzung von einem „episodischen“ und einem „Lebensdauerglück“ (vgl. SeelSeel, Martin 1995, 62f.): Das episodische GlückGlückepisodisches ist ein herausragendes Hochgefühl, das zeitlich begrenzt ist auf eine „Episode“ im Leben eines Menschen und sich auf seine jeweilige augenblickliche psychische Verfassung bezieht. Es kann sich um ein rein subjektives Empfindungsglück handeln, aber auch um ein komplexeres Glück als Momentaufnahme einer fesselnden, herausfordernden Tätigkeit oder eines sich insgesamt erfreulich entwickelnden Lebens. Typisch ist der rezeptive oder passive Charakter solcher Augenblicke des akuten Bewusstwerdens des eigenen Glückszustandes, da sie nicht willentlich steuerbar sind und die Betroffenen meist unerwartet „überkommen“ (vgl. BirnbacherBirnbacher, Dieter 2005, 4f.). Im Gegensatz zum „episodischen Glück“ bezieht sich das übergreifende GlückGlückLebensdauer-, übergreifendes auf einen größeren Lebensabschnitt, im Fall des „Lebensdauerglücks“ sogar auf das ganze Leben. Es ist nicht bloß ein augenblicklicher positiver Gefühlszustand, sondern setzt vielmehr eine reflexive Distanz zu den vorübergehenden Gefühlsregungen, Bedürfnissen und Wünschen sowie eine positive Bewertung der Lebensperiode voraus. Das Lebensdauerglück kann definiert werden als eine anhaltende, höchst positive Stimmung aufgrund der Beurteilung des eigenen Lebens als eines guten, wobei sowohl die Vergangenheit als auch die zu erwartende zukünftige Entwicklung der Lebenssituation mitberücksichtigt werden (vgl. Fenner 2003, 621). „StimmungenGefühle-regungen/Stimmungen“ sind im Unterschied zu zeitlich begrenzten, auf konkrete Ereignisse bezogenen „Gefühlsregungen“ relativ stabile, atmosphärische Hintergrundtönungen des gesamten Erlebens. Eine solche positive Grundstimmung kann viele vorübergehende Phasen des Leids und der Entbehrungen überdauern, durch die sie nur zeitweilig eingetrübt wird. Anders als das episodische Glück weist das übergreifende Glück eines guten Lebens insofern gleichsam einen aktivischen Charakter auf, als es gerade einen geeigneten Umgang mit dem Wechsel von schmerzhaften und ekstatischen Erlebnissen voraussetzt: Die übergreifende Qualität eines Lebens zeigt sich darin, dass durch alle Krisen hindurch immer wieder eine insgesamt erfüllende und bejahenswerte Lebenssituation geformt werden kann (vgl. SeelSeel, Martin 1995, 67f.). Bezüglich menschlicher Selbstoptimierungs-Bestrebungen zielen traditionelle philosophische, aber auch moderne psychologische und populärwissenschaftliche Methoden der Ratgeberliteratur und Coachingangebote fast durchgängig auf den Kompetenzenerwerb für ein aktives Lebensdauerglück ab. Die in der Enhancement-Debatte diskutierten neueren biomedizinischen Verfahren wirken jedoch auf einer rein (neuro)physiologischen Ebene, sodass sie bestenfalls ein episodisches Empfindungsglück bewirken zu können scheinen (Kap. 4.1).Glück

Die Beziehung zwischen „gutem Leben“ und „Lebensdauerglück“ lässt sich nun folgendermaßen näher bestimmen: Das „Lebensdauerglück“ setzt das „gute Leben“ voraus, das sozusagen eine Vorstufe oder Vorbedingung des Glücks ausmacht und die kognitive Komponente des übergreifenden Glücks bildet (vgl. Fenner 2007, 144). Während das gute Leben etwa durch die geeignete Wahl von Lebenszielen oder den Erwerb wichtiger Kompetenzen aktiv gestaltet werden kann, lässt sich das glückliche Leben entsprechend dem sogenannten Glücksparadox nicht direkt anpeilen (vgl. ebd., 52f./BirnbacherBirnbacher, Dieter 2005, 3). Es stellt vielmehr eine Folge bzw. Begleiterscheinung einer gelingenden Lebensführung dar, wobei das Erleben eng mit der reflexiven Einstellung und der Bewertung des Lebens verbunden bleibt. Damit rückt das „Lebensglück“ in die Nähe der Lebenszufriedenheit als einem eng verwandten positiven Gefühl, bei dem aber die kognitive Komponente noch stärker betont wird. Zwischen einem gelingenden guten Leben und einem sich einstellenden Lebensglück gibt es zudem keinen direkten kausalen und linearen Zusammenhang, weil zusätzlich noch psychische Variablen wie Persönlichkeit oder Temperament dazwischen treten können. Ein gutes Leben ist also nicht zwingend schon ein glückliches, scheint aber auch kein gänzlich unglückliches sein zu können (vgl. SteinfathSteinfath, Holmer 2013, 174). Mit Befragungen von Tausenden von Zwillingen über die Einschätzung ihres Glückszustandes über einen längeren Zeitraum hinweg hat die empirische Glücksforschung die große Rolle der genetischen Faktoren nachgewiesen, die gleichsam einen persönlichen „set point“, „Glücksfixpunkt“ oder „Glücks-Grundwasserspiegel“ eines jeden Menschen festlegen (vgl. Bauer, 21/Bruni, 407): Je nach Studie soll das Ausmaß an Glück zu 50 % oder gar 80 % von diesem „set point“GlückGlücks-„set point“ abhängen, auf den sich die Individuen nach starken positiven wie negativen Erfahrungen wie z.B. einem Lottogewinn oder einer Beinamputation nach einer gewissen Phase der Abweichung immer wieder einpendeln. Ob diese individuell unterschiedlichen biologisch-genetischen „Voreinstellungen“ des GlückGlücks von einzelnen Genen oder der Dichte und Funktionsweise bestimmter Botenstoffe im Hirn abhängen und wie genau sie gemessen werden können, ist jedoch bislang noch unklar (vgl. Esch, 164/Kap. 4.1). Aufgrund des offenbar viel größeren Einflusses des „hedonistischen set points“ auf das Glück als bessere Lebensumstände oder günstige Ereignisse forderte der Transhumanist und Philosoph David Pearce im Online-Manifest The Hedonistic Imperativ (1995), die biologische subjektive Ausstattung des Menschen mithilfe von Gen- und Nanotechnologie zu optimieren.

In philosophischen und Neuroenhancement-Debatten ist umstritten, ob es so etwas wie ein „illusionäres Glück“ geben kann. Das illusionäre GlückGlückillusionäres wird definiert als ein positives Gestimmtsein oder Wohlbefinden, das die Betroffenen über die „Wirklichkeit ihrer Lage täuscht“ (SeelSeel, Martin 1994, 147). Als Beispiel kann das Liebesglück eines Mannes dienen, der nicht weiss, dass er von seiner Partnerin dreist betrogen wird. Wüsste er um diesen Betrug, wäre sein Glück mit Sicherheit dahin. Oder es fühlt sich jemand subjektiv wohl, obwohl er medizinisch gesehen schwer krank ist. Nur beim episodischen Empfindungsglück oder WohlbefindenGlückWohlbefinden/Wohlergehen in einem radikal subjektivistischen Glücksverständnis spielt es keine Rolle, ob das innere Empfinden und die äußere Wirklichkeit auseinanderklaffen. Beim objektiven Erfüllungsglück, Wohlergehen oder übergreifenden GlückGlückLebensdauer-, übergreifendes hingegen ist jemand nicht schon deswegen glücklich, weil er sich glücklich fühlt. Vielmehr muss sein Leben ihm in einer distanzierten und reflexiven Einstellung auch tatsächlich einen Grund dazu geben, glücklich zu sein (vgl. SeelSeel, Martin 1995, 56f./Knell, 236). Wie in der empirischen Wohlfahrtsforschung erkannt wurde, lassen sich Wohlfahrt und Lebensqualität weder ausschließlich über beobachtbare objektive Faktoren wie den Lebensstandard noch an einem rein über Selbsteinschätzung erhobenen subjektiven Wohlbefinden oder Glück bemessen (vgl. Mayring, 31ff.; 92f.). Soziologen entwickelten daher zweidimensionale transaktionale Modelle für Lebensqualität (vgl. exemplarisch Glatzer/Zapf, 7). Auch wird in der empirischen Psychologie unterschieden zwischen einer Adaption, wenn sich jemand trotz objektiv schlechter Lebensbedingungen subjektiv wohl fühlt, und einer Dissonanz im umgekehrten Fall. Im Gegensatz zu diesen beiden Formen von Missverhältnissen sind beim individualethisch optimalen Wohlergehen die objektiven Lebensbedingungen ebenso gut wie das subjektive Wohlbefinden, wohingegen bei der Deprivation die schlechten objektiven Lebensbedingungen mit subjektiven Unglücksgefühlen zusammenpassen (vgl. Neumaier, 34). Da ein Lebensdauerglück die „Übereinstimmung“ oder „Passung“ von subjektiven und objektiven Komponenten, innerem Gestimmtsein und äußerem Lebensverlauf voraussetzt, lässt es sich inhaltlich näher charakterisieren als „gelingendes Welt-Selbst-VerhältnisGlückWelt-Selbst-Verhältnis“ (vgl. Fenner 2003, 157). Neben Individuums- und Umweltfaktoren treten aber als drittes Element noch die meist soziokulturell geprägten Wertmaßstäbe hinzu, nach denen die Qualität dieses Verhältnisses bewertet wird. Glück und gutes Leben sind so gesehen immer auch eine Frage des Bezugsystems. In der Philosophie lassen sich drei Theorierichtungen auseinanderdividieren, die jeweils ganz unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe zur Beurteilung eines Lebens als gut und glücklich ansetzen und sich miteinander kombinieren lassen (vgl. Parfit, 493–502, Fenner 2007, 31–140):Glück

 

1 Hedonistische Theorie

2 Wunsch- oder Zieltheorie

3 Gütertheorie oder Objektive-Liste-Theorie

4 Hybridtheorie als Kombination der drei Theorien