Der Bund der Katzenfrauen

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Der Bund der Katzenfrauen
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Der Bund der Katzenfrauen

Fantasy-Roman

von D. Bess Unger

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

© 2013 by D. Bess Unger

Satz und eBook bei Ekkehard Hessenfeld, Darmstadt

ISBN 978-3-8442-7285-7

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

Klappentext

Die Mordanschläge einer Hexe hat die sechzehnjährige Lena nur knapp überlebt. Seitdem sind zwei Jahre vergangen. Dass es Magie auf der Erde gibt, hat sie zu verdrängen versucht, kein Sternenstaubträger begegnet ihr mehr. Albträume über ihre brutale Entführung verblassen.

Nach Abschluss der Schule bricht Lena mit ihren Eltern zu einer Reise nach Südafrika auf. Der Urlaub ist ein Versuch, die zerrütteten Familienverhältnisse zu kitten. Vier Wochen sind eingeplant. Beim Antritt ahnt niemand, dass Lena erst nach Monaten zurückkehren wird und das nur, um einer magischen Intervention beizuwohnen.

Schon auf dem Hinflug hat Lena eine seltsame Begegnung, die ihr die Schrecken der Vergangenheit ins Gedächtnis zurückrufen. Sie versucht, das Aufeinandertreffen als eine sich nicht wiederholende Sache abzutun. Bei einem Safariausflug im Kruger National Park kommt sie bei einem Angriff eines magischen Wesens nur dank des Zufalls mit dem Leben davon. Furcht reglementiert ihr Dasein, zumal ihre Entführer von einst sie nicht vergessen haben und ihr dicht auf den Fersen sind.

Als sei das nicht genug, erreicht Lena die Nachricht, dass ihre beste Freundin unheilbar erkrankt ist. In ihrer Verzweiflung schließt sie sich einer weisen Zulu-Frau an, die mit einem HIV-infizierten Findelkind durch die Dörfer zieht um Kranke zu heilen. Gemeinsam begeben sich die Drei auf eine abenteuerliche Reise durch die Provinz KwaZulu-Natal. Ihr Ziel ist das Tal der Schamanen, der heilige Ort, in dem Heiler und Magier ausgebildet werden. Dort will Lena den verzweifelten Versuch wagen, der sie von ihren Ängsten befreien und ihre todgeweihte Freundin ins Leben zurückführen soll.




1. Pamelas Stern

An der verglasten Wand von Gate 23 stand eine jugendlich wirkende Frau. Sie hatte eine sportliche Figur, seidig glänzende schwarze Haare, ausgeprägte Mandelaugen mit hohen Wangenknochen. Gedankenverloren wanderte ihre Hand zum Ausschnitt ihres T-Shirts, umfasste die Glieder einer goldenen Kette und ließ sie durch die Finger gleiten.

Missmutig blickte sie auf den Riesenjet, in dessen geöffnetem Bauch von einem Förderband aus eine endlose Schlange von Gepäckstücken hineinglitt. Die imponierende Seitenflosse des Leitwerks war mit einem bunten Streifenmuster bemalt. Die Frau ließ den Tragegurt ihres Rucksacks von der Schulter gleiten, warf ihre Haare zurück und zog das Flugticket aus der Fronttasche.

MS LENA PAPALUKA-GARDENER, 08./09. NOVEMBER

18:20 - 19:25 UHR, ATHEN - FRANKFURT, AEGEAN AIRLINES

20:45 - 08:25 UHR, FRANKFURT - JOHANNESBURG, SAA

Stimmt, das war ihre Maschine, auf dem Rumpf stand in gewaltigen Lettern South African. Ihre in Heidelberg wohnenden Eltern hatten Lena flehentlich gebeten, sie nach Südafrika zu begleiten. ›Warum nur habe ich der blödsinnigen Reise zugestimmt?‹, fragte sie sich zum wiederholten Male. ›Was geht das mich an, wenn meine Eltern nach ihrer Trennung vor zwei Jahren beschlossen haben, einen Neuanfang zu wagen? Muss ich ihr Aufpasser spielen, damit sie sich gegenseitig nicht an die Gurgel gehen? Warum nur sollen wir aller Welt eine funktionierende Familie vorspielen?‹ Sie unterdrückte den absurden Wunsch, in Richtung des parkenden Airbus an das Fenster zu spucken. »Blödes Südafrika, blödes Deutschland«, murmelte sie vor sich hin.

Wo blieben nur ihre Eltern? Von Heidelberg nach Frankfurt waren es nur achtzig Kilometer. Sie schob die weißen Ohrstöpsel ihres MP3-Players ein und wählte die Zufallsauswahl. ›Mal sehen, welchen Song das Schicksal mir zugedacht hat.‹

Wenn dir gelingt,

was dir noch nie gelang,

dein Liebster zärtlich dich berührt,

dir Flügel wachsen,

die dich durch weiße Wolken tragen

und Nachtigallen deine Lieb’ besingen,

sei auf der Hut!

Die Hexe schreitet durch den Ring,

erhebt ihr Haupt

und trinkt dein Glück vollkommen aus.

Du stürzt aus allen Himmeln ab,

in Fänge, die schon auf dich lauern.

Verstört drückte sie die Stopptaste. ›Verdammt, wie kommt das Lied auf meinen Player? Das beschreibt perfekt das Elend meines desaströsesten Jahres! Was für eine nette Einstimmung für meine Reise!‹

’Die Hexe schreitet durch den Ring, erhebt ihr Haupt und trinkt dein Glück zur Gänze aus.’ Wenn Lena zwei Jahre zurückdachte, fühlte sie ständig einen Kloß im Hals. Sie war in das Visier einer Hexe geraten, hatte am eigenen Leib erfahren müssen, dass Schwarze Magie kein Mythos war, nein, es gab sie, mit schrecklicher Brutalität hatte sie zugeschlagen. ’Du stürzt aus allen Himmeln ab, in Fänge, die schon auf dich lauern.’ Für den Rest des Lebens trug sie ein Kainsmal auf der Stirn, sah Dinge, die keinem Sterblichen zu sehen erlaubt waren. Als sei das alles nicht genug, hatte sie in der Folge den schauerlichsten aller Albträume erleben müssen. Zwei Verbrecher hatten sie entführt, wollten Geld von ihrer vermögenden Tante Atridi erpressen, nur knapp war sie Vergewaltigung und Tod entgangen.

Anteilnahme und Aufmerksamkeit hätte Lena gebraucht. Die waren von den Eltern nicht zu erwarten gewesen, sie brachten die Tage damit zu, ihre Ehe und ihr Geschäft in Bausch und Bogen zu ruinieren. Ein Glück, dass es Atridi gelungen war, sie von der Misere in Deutschland loszueisen und bei sich in Griechenland aufzunehmen.

Lena griff zum Smartphone, wollte eine tröstende Stimme hören, am besten die besonnene von Atridi. »Mach schon, nimm endlich das Gespräch an.« Yannis meldete sich. An ihrem Telefon. »Du bist bei Atridi? Was macht ihr?« Die Frage ’Was treibt ihr?’ hatte sie mit Mühe unterdrücken können. Obwohl ein Altersunterschied von dreißig Jahren zwischen ihrer Tante und Yannis lag, hatten die beiden ein intensives Sexleben gepflegt. ’Bist du dir totsicher, dass dein Goldstück es nicht auch noch mit deiner Tante treibt?’, hatte ihre Freundin x-mal gefragt. ’Nein’, war ihre Standardantwort, ›Ich muss nicht alles über ihn, er nicht alles über mich wissen.’ Der entgeisterte Gesichtsausdruck den Kalja bei dieser Antwort aufsetzte, amüsierte sie jedesmal.

Unvermittelt legte sich eine Hand auf Lenas Schulter, erschrocken fuhr sie herum. Ihr Vater Filippos stand vor ihr. »Honey, ich melde mich von Johannesburg, meine Eltern sind angekommen«, sagte sie und beendete das Gespräch.

Mit einem Blick registrierte sie den Anflug von Grau in den Haaren, den unsicheren, ängstlichen Gesichtsausdruck, die Pfunde, die ihr Vater zugelegt hatte. »Grüß dich, Dad«, sagte sie gerührt, umarmte ihn und schämte sich, dass ihr einzig auffiel, wie unbedeutend er ihr vorkam. »Solange haben wir uns nicht gesehen! Wie geht es dir?«

»So lala«, stammelte er, »Danke, dass du uns begleiten willst.« Er löste sich aus der Umarmung. »Komm, lass dich anschauen.«

Lena zog die Ohrstöpsel heraus und schob die Sonnenbrille von ihren Haaren herunter. Die Brille mit den blauen Gläsern, ihr ständiger Begleiter. Sie verhinderte, dass sie in die Gedankenwelt ihrer Mitmenschen eindringen konnte.

»Wo ist nur mein Sonnenschein geblieben? Bist erwachsen geworden, wirst deiner Mutter immerfort ähnlicher.« In der Stimme schwang Stolz und Trauer mit. Innerlich hin- und hergerissen, registrierte er Lenas indigene Gesichtszüge, der Erbteil ihrer indianischen Abstammung mütterlicherseits. »Ava hat die Toilette aufgesucht. Wenn sie auftaucht, sei nett zu ihr. Nicht eure übliche Kabbeleien! Versprich mir das.«

Lena nickte, das Wort Kabbeleien beschrieb ungemein verharmlosend den Umgang zwischen Mutter und Tochter. Den konnte man im günstigsten Fall mit einem gesellschaftlichem Agreement beschreiben, liebevolle Zuwendung war vonseiten ihrer Mutter nicht mehr vorgesehen, die war an Tante Atridi delegiert worden. »Um Gotteswillen, nein«, beruhigte sie ihren Vater. »Ich bin froh, dass ihr euch zusammengerauft habt.«

Filippos verzog das Gesicht. Bevor er antworten konnte, betrat ihre Mutter das Gate. »Ava, schau dir unsere Tochter an! Eine wahre Schönheit ist sie geworden, das Ebenbild der Mama!», rief er ihr entgegen.

»Hi, Mum, schön, dich zu sehen!«

Eine Spur von Eifersucht über das blendende Aussehen ihrer Tochter unterdrückend, trat Ava lächelnd auf Lena zu und umarmte sie. Ihr Gesicht war sorgfältig geschminkt, in vergangenen Tagen hatte sie das nicht für nötig befunden.

›Sollte die Schminke Verräterisches verdecken?‹ Was Lena bei ihrem Vater peinlichst vermieden hatte, tat sie jetzt bei der Mutter. Sie schob die Brille auf die Haare und blickte ihr direkt in die Augen. Wie nutzbringend, dass sie dank des jahrelangen Hapkido-Trainings ihre Emotionen perfekt im Griff hatte! Grau war die Aura der Mutter, zeugte von Überdruss, Hoffnungslosigkeit, Verlassenheit und Trauer. Aber das war es nicht, was Lena erschütterte, es waren die ekelerregenden Gedankenbilder, die auf sie einbrachen. In brutaler Deutlichkeit wurde ihr bewusst, dass Ava ihren Mann noch immer betrog. Nicht mit einem heimlichen Geliebten in der blauen Stunde des Abends, das hätte Lena verstanden, nein, Ava gab sich wechselnden Zufallsbekanntschaften hin. Der brutale Sex zeugte von einer seltsam freudlosen Befriedigung der Lust, die auf Vergessen hoffte. Widerwillig drückte sie ihre Mutter an sich, brachte nur ein gepresstes »Ach, Mum« heraus und wischte sich über die feuchtgewordenen Augen.

 

Die scheinbare Rührung ihrer Tochter stimmte Ava optimistisch. »Wunderbar, dass du uns begleitest«, freute sie sich, »Filippos ist selig, dass er sein Mädchen bei sich hat.« Auffordernd blickte sie ihren Mann an, der reagierte nicht, starrte nur stumpfsinnig auf den Boden. »Du wirst sehen, alles wird sein wie in unseren glücklichen Tagen!«

›Nichts wird so sein wie ehemals‹, dachte Lena. ›Dad kann dir keine Stütze sein, er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Und du Mum, du kannst dem zähen Sumpf, in dem du gefangen bist, nicht mehr entkommen.‹ Es war eine vertrackte Situation, im Grunde ihres Herzens fühlte sie, dass ihre Stunde als Tochter geschlagen hatte, jedoch die Umstände ließen es nicht zu. ›Mein Platz ist in Griechenland, nicht hier im kalten Deutschland. Aber die nächsten vier Wochen will ich zumindest versuchen, das Beste zu geben.‹

Über einen Lautsprecher hörte man eine unverständliche Frauenstimme brabbeln, der Aufruf zum Boarding. Die Menschen im Raum sprangen von ihren Sitzen auf und drängten derart hektisch nach vorne, als gäbe es im Flugzeug nicht für alle Sitzplätze.

Es hatte zu regnen begonnen. Die dicht fallenden Tropfen wurden von den vielen orangefarbenen Scheinwerfern durchstrahlt und überzogen den Asphalt und die wartenden Flugzeuge vor dem Terminal mit einem matten Glanz.

»Kommt, gehen wir!«, befahl Ava und stand auf. Resigniert warf Lena den Gurt des Rucksacks über ihre linke Schulter.

»Nur keine Hektik«, sagte ihr Vater. »Wir sitzen im Flugzeug hinten, da sind wir zuletzt dran!«

Vor ihren Eltern betrat Lena den Gang der Fluggastbrücke, die das Terminal mit dem Flugzeug verband. Im Schneckentempo schoben sich die Passagiere durch den Tunnel, die einen stumm und betreten, andere blickten ständig auf ihre Bordkarten, wohl um sich die Nummer ihres Sitzplatzes einzuprägen. Am Eingang zum Flugzeug stand eine schwarze Stewardess.

Als Lena an der Frau vorbei schlich, fixierte sie ihren Blick gewohnheitsmäßig unmittelbar über deren Nasenwurzel. Ebenhin wollte sie zu einer knappen Begrüßungsfloskel ansetzen, da blitzte auf der Stirn der Stewardess ein weißer fünfzackiger Stern auf. Die Worte blieben Lena im Hals stecken, das Blut wich ihr aus dem Gesicht, aschfahl geworden blieb sie stehen und starrte erschrocken ins Gesicht der Schwarzen.

Auch die SAA-Angestellte verhielt sich seltsam. Mit ihrer Rechten hatte sie so ruckartig ihre Augen bedeckt, als hätte sie ein Blitz geblendet, sodann sank ihre Hand wieder herunter. Sie versuchte ein entschuldigendes Lächeln, das ihr nur unvollkommen gelang.

Von hinten im Gang hörte man das nervöse Gemurmel der nachdrängenden Passagiere. Lena fühlte sich von ihrem Vater ungeduldig ins Flugzeuginnere hinein geschoben.

»Kanntest du die Frau? Warum habt ihr euch derart seltsam angestarrt?«, fragte ihre Mutter erstaunt. »Du bist kreidebleich! Ist dir schlecht?«

Lena schüttelte den Kopf. »Nein, Mum«, erwiderte sie knapp.

Ihre Mutter fragte nicht nach, für welche Frage das Nein die passende Antwort war. Sie warf ihrem Mann einen auffordernden Blick zu, der nahm Lena bei der Hand und führte sie zu ihren Sitzen auf der linken Fensterseite. »Hier ist Reihe 48. Willst du am Fenster sitzen?«, gab er sich betont fürsorglich.

Ablehnend winkte Lena ihre Mutter auf den Fensterplatz. »Nein, Dad«, sagte sie mit gequält wirkender Stimme. »Wenn es dir nichts ausmacht, bevorzuge ich den Platz am Gang.« Sie spürte einen misstrauischen Blick auf sich ruhen. »Falls ich zur Toilette muss, mir ist flau im Magen«, setzte sie hinzu, um keine zusätzlichen Fragen beantworten zu müssen.

Nein, ihr Magen war in Ordnung, der reine Horror hatte sie aus heiterem Himmel angefallen. Zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte sie im Gesicht eines Menschen einen fünfzackigen Stern aufblitzen sehen! Im Grunde hatte sie zwar gewusst, dass das jederzeit geschehen könnte, jedoch unverwandt versucht, das Wissen darum zu verdrängen. Und jetzt das!

Das Flugzeug war gestartet, den Passagieren wurden Getränke angeboten. Auf ihrem Gang bediente ein farbiger Steward, die schwarze Stewardess hatte auf dem gegenüberliegenden Gang ihre Arbeit in diesen Minuten erledigt und schob den Servicewagen zurück in die Bordküche.

War die Jagd der Schwarzen Magier auf sie eröffnet? Furcht kroch im Schritttempo in Lenas Körper und begann an ihrem Selbstbewusstsein zu nagen. ›Nein, ich muss mir Klarheit verschaffen‹, beschloss sie. ›Sofort, andernfalls drehe ich durch.‹ Über den vor sich hindösenden Vater lehnte sie sich zu ihrer Mutter hinüber. »Ich frag die Stewardess, ob sie eine Tablette für meine Magenprobleme hat, Mum«, sagte sie kaum vernehmlich. Ava nickte zerstreut und tätschelte ihrer Tochter zustimmend die Hand.

Wo zum Kuckuck sollte sie die Stewardess finden? Im Ruheraum? Wo war der? Hinten im Flugzeug? Lena stand auf und machte sich auf den Weg. Sie registrierte die bewundernden Blicke der jugendlichen Buren, die nach einem Urlaub in Europa jetzt zurück in ihre südafrikanische Heimat flogen. Das achtzehnjährige Mädchen war aller Beachtung wert, eine exotische durchtrainierte Erscheinung. Dass sie im abgedunkelten Flugzeug eine Sonnenbrille trug, ließ an ein prominentes Fotomodel denken. Flüchtig scannte Lena ihre Auren, sofort wandten sich ausgesprochen sensible Männer ab und glotzten auf ihre eingeschalteten Monitore.

Im Bereich des Heckleitwerkes fand Lena einen Raum, dessen Zutritt durch eine Tür versperrt war, anscheinend der Ruheraum des Begleitpersonals. Sie klopfte. »Hallo, darf ich kurz stören?«, fragte sie auf Englisch, das sie ihrer amerikanischen Mutter wegen, perfekt beherrschte.

Die Tür öffnete sich, die schwarze Stewardess trat heraus. »Ach, Sie sind das!« Ein erkennendes Lächeln zeigte blendend weiße Zähne. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie vorhin nicht begrüßt habe. Irgendetwas muss mich geblendet haben, vielleicht eine Spiegelung in Ihren Brillengläsern.«

»Mag sein«, sagte Lena und spulte ihre Standardausrede ab: »Die dunklen Gläser brauche ich wegen eines Augenleidens.« Sie schob die Brille auf ihre Haare empor und sah der Stewardess geradewegs in die Augen.

Eine Aura in lichtem Orange umflammte das Gesicht der Schwarzen. Sie zeugten von Lebensfreude, Zärtlichkeit, Aufgeschlossenheit und Mut. Lena sah das Bild einer runzlig aussehenden Frau, die ein Mädchen in ihren Armen wiegte und es der Stewardess am Fuß einer Gangway präsentierte. Lena durchfuhr bei dem friedlichen Bild ein intensives Glücksgefühl, sie musste an sich halten, die Frau vor Erleichterung nicht zu umarmen.

Sie warf einen Blick auf das Namensschild. »Frau Maseko, ich bin Lena«, sagte sie lächelnd und gab ihr die Hand. »Ich kam, um Sie um eine Tablette zu bitten. Meine Magenbeschwerden sind unverhofft wie weggeblasen. Entschuldigen Sie die Störung.«

»Sag Pamela zu mir«, bot die Stewardess an. »Das ist unkomplizierter.« Ein Nicken wertete sie als Zustimmung. »Darf ich dich was fragen?« Sie zog Lena von der Tür weg und schaute sie so forschend an, als suche sie längst Verlorenes in den Gesichtszügen des Mädchens.

»Klar, Pamela. Nur zu.«

»Lena, wir haben uns noch nie gesehen, da bin ich mir sicher. Trotz alledem ...« Sie rang nach Worten, man sah ihr an, dass es Überwindung kostete, fortzufahren. »Du kamst mir seltsam vertraut vor. Mir war, als hätten wir beide eine Winzigkeit gemeinsam. Seltsam, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf und lachte. »Blödsinn, ich weiß. Vergessen wir es. Willst du nicht doch eine Tablette? Zur Sicherheit?«

Ablehnend schüttelte Lena den Kopf, machte aber keine Anstalten zu gehen. Sie schien über etwas nachzugrübeln.

Pamela hielt das Gespräch für beendet und wandte sich erneut dem Ruheraum zu. »Versuch zu schlafen, Lena. Die Nacht ist lang.«

Sanft packte Lena die Frau am Handgelenk. Das Bedürfnis, mit einem ihr fremden Menschen über das seltsame Sternengeflimmer zu reden, war nicht mehr zurückzuhalten. »Du hast dich nicht geirrt, Pamela«, begann sie flüsternd, »Wir beide haben hundertprozentig was gemeinsam.« Sie zog die Frau von der Tür weg. »Du und ich, wir beide tragen eine Spur in uns, die bei Menschen nur hin und wieder zu finden ist. Wir beide sind Träger von magischer Energie. In Legenden vieler Völker wird die Energie Sternenstaub genannt.«

Pamela starrte sie misstrauisch an. »Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?«

»Gott behüte!«, sagte Lena in einem eindringlichen Flüsterton. »Sternenstaubträger erkennen sich bei ihrer ersten Begegnung sofort. Du hast es gesehen, das war keine Spiegelung!«

»Der strahlendweiße fünfzackige Stern mit den schwarzen Rändern in deinem Gesicht, das war ...?«, fragte sie entsetzt, schlug die Hand vor den Mund und ließ den Satz unvollendet.

»Nein, das war keine Einbildung. Du hast über meiner Augenbraue einen Stern aufblitzen sehen und ich einen über deiner Nasenwurzel.« Lena legte einen Zeigefinger zwischen die Augen der Stewardess. »Genau hier!«

»Was bedeutet das für uns?«, flüsterte Pamela, ihre Stimme klang vor Furcht heißer.

Lena schwieg, es schien, als suchte sie die korrekten Worte, wie ein Arzt, wenn er seinem Patienten Unangenehmes mitzuteilen hat.

Pamela missdeutete Lenas Schweigen und schien Hoffnung zu schöpfen. »Du musst dich irren«, begann sie zuversichtlich. »Ich bin keine Hexe, kann keinem Menschen grausige Dinge auferlegen oder Gegenstände verzaubern. Du etwa?« Sie blickte Lena forschend an, als erwarte sie, dass Lena einen Zauberstab ziehen und eine Teetasse in eine Maus verwandeln könne.

»Nein, ich bin ebensowenig eine Hexe wie du.«

Erleichterung machte sich in Pamelas Gesicht breit.

Lena hatte die korrekten Worte gefunden. »Es verhält sich ein bisschen anders«, begann sie lahm. »Und es ist viel verwickelter, als du glaubst.«

Sie wollte zu einer Erklärung ausholen, als sich die Tür öffnete und der farbige Steward heraustrat. Er warf einen missbilligenden Blick auf die beiden Frauen. »Pamela, ich mache jetzt meinen Rundgang und verteile Getränke. Du solltest dich besser ausruhen, dich nicht mit Passagieren verquatschen«, sagte er auf Afrikaans. »In einer Stunde bist du dran«, beschied er sie barsch.

»Ja, ja, ich weiß, Ajitabh. Geh nur!« Sie zog ihm eine Grimasse hinterher und zerrte Lena in den Ruheraum hinein. Es war überlaut hier, kaum Platz für zwei Liegen. Eine enggewundene Wendeltreppe führt nach oben. »Droben sind drei Betten«, erklärte Pamela, die Lenas erstaunten Blick bemerkt hatte. »Hier, setz dich neben mich und erzähle«, drängte sie ungeduldig.

Lena deutete fragend nach oben.

Pamela winkte ab. »Bei dem Lärm, den die Triebwerke machen, können die da oben uns nicht hören, hier musst du Ohrstöpsel tragen, Schlaf findest du sonst keinen. Also, was hat es mit dem – wie nanntest du es? – Sternenstaub auf sich?«

»Ich weiß dummerweise nicht viel davon«, dämpfte Lena die Erwartung ihres Gegenübers. »Nur so viel kann ich dir sagen: Unser Sternenstaub ist quasi noch unberührt und rein. Damit können wir nichts bewirken. Es sei denn ...« Sanft strich sie über Pamelas Hand, die fuhr zusammen und zog sie erschrocken zurück. »Entschuldige, ich bin kein Monster«, lächelte Lena, es kam ihr fantastisch vor, was sie im Begriff war zu sagen. »Ich habe gehört, dass unser Sternenstaub erst gezündet, also aktiviert werden muss, damit wir magische Fähigkeiten erwerben können. Das kann nur durch einen erfahrenen Magier geschehen. Über das Wie und das Was, darüber ist mir nichts bekannt, nicht das Geringste.«

»Aufblitzende Sterne, magische Energie, unberührter Sternenstaub ... Wie um alles in der Welt hast du das alles herausbekommen?«

»Eine griechische Romni, eine Zigeunerin, die ich zufällig traf, hat mich einwenig aufgeklärt», erklärte Lena unbestimmt. »Mancherlei weiß ich von meiner Tante, die interessiert sich brennend für alles, was mit Magie zusammenhängt.«

Schweigend saßen die beiden Frauen auf der Liege, starrten auf den Boden und ließen ihre Gedanken schweifen.

 

Pamelas Stimme übertönte das Rauschen der Triebwerke. »In meinem Dorf wurde eine angebliche Hexe erschlagen.« Mit fahriger Hand fuhr sie sich über die Stirn. »Ich möchte nicht, dass mein Sternenstaub aktiviert wird, wie du das nennst. Ich möchte keine Hexe werden ...«

»Nein, ich ebenfalls nicht.« Lena schüttelte sich. »Das wäre das Letzte, was ich anstrebe.« Scheußlich genug, wenn durchsickerte, mit was für einem Stigma sie schon geschlagen war! Wenn herauskäme, dass sie seit ihrem ’Unfall’ vor zwei Jahren in die Gedankenwelt ihrer Mitmenschen eindringen und ihre Aura scannen konnte! War diese unheimliche Fähigkeit nicht auch eine Art Hexerei? »Mein Sternenstaub wird hoffentlich, so wie er jetzt ist, mit mir begraben werden«, sagte Lena düster und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Bei diesen Worten musste Pamela, trotz der bizarren Dinge, die sie gehört hatte, losprusten. Sie wirkte gefasster. Sie stupste Lena in die Seite. »He, ist in Ordnung! Die Sache mit dem Sternenstaub vergessen wir und alles ist wie zuvor.«

Sie machte Anstalten aufzustehen, aber Lena zog sie auf ihren Sitz herunter. »Warte Pamela, das ist nur die eine Seite der Medaille, die harmlosere. Das Schlimmste kommt noch.« Lenas Mund fühlte sich trocken an. Mit brutaler Gewalt fielen die verdrängten Ängste wieder über sie herein: »Hexer verbrauchen ihren Sternenstaub für ihre Flüche und müssen ihn somit mit unberührtem Sternenstaub, erneuern. Auf ständiger Suche nach Menschen wie wir, ziehen Magier ruhelos umher. Wenn wir einem solchen über den Weg laufen, was wird geschehen? Muss er uns umbringen, wenn er an unseren Sternenstaub herankommen will? Hat er eine für uns günstigere Alternative parat? Ich weiß es nicht«, schloss sie verzweifelt.

Bei diesen Worten verlor Pamela endgültig die Fassung. Entsetzt, mit aufgerissenen Augen, starrte sie Lena an. »Du meinst, es ist wie mit den Vampiren in den haarsträubenden Filmen?«, fragte sie mit tonloser Stimme.

»So könnte es sein«, stimmte Lena widerstrebend zu. »Ich rate dir zweierlei: Sei erstens megavorsichtig, wenn du auf der Stirn eines Menschen einen solchen Stern sehen solltest!« Beschwörend sprach sie auf Pamela ein. »Auf der Welt gibt es Weiße und Schwarze Magier. Eine Hexe wollte mir vor drei Jahren meinen Sternenstaub entreißen, nur um Haaresbreite habe ich überlebt. Schreckliches habe ich zurückbehalten. Bitte sei vorsichtig in deinem künftigen Leben!«

Lena fühlte den bestürzten Blick Pamelas auf sich ruhen.

»Zweitens, erzähle niemandem, hörst du, niemandem davon! Nicht deinem Mann, deinen Kindern, deinen Verwandten und Freunden! Ein x-beliebiges unbedachtes Wort eines Mitwissers Dritten gegenüber könnte einen Hexer auf deine Spur hetzen. Denke daran, solange du lebst!«

Lena nahm die Hand der Frau, die wie versteinert neben ihr saß, und drückte sie sanft. »Die Gefahr ist nicht so enorm, wie du jetzt möglicherweise denkst«, versuchte sie sich selbst und Pamela zu beruhigen. »Vor Sternenstaubträgern, wie wir beide es sind, geht für uns keine Gefahr aus, die magische Energie schlummert friedlich in uns und wird mit unserem Tod vergehen. Vor Weißen Magiern werden wir ebenfalls keine Angst haben müssen. Ich denke, dass nur Schwarze Magier Gewalt anwenden. In meinem Leben bin ich bisher nur einem solchen Wesen begegnet, einer furchtbaren Frau. Überleg mal, du als Stewardess siehst täglich viele Menschen und ich bin jetzt die erste Sternenstaubträgerin, die dir über den Weg gelaufen ist! Beherzige meine Ratschläge und sei vorsichtig, wenn du auf der Stirn eines Menschen erneut einen solchen Stern sehen solltest. Suche auf der Stelle das Weite!«

»In Ordnung, ich verspreche es dir«, sagte Pamela und nestelte in ihrer Handtasche herum. »Komm, lass uns E-Mail-Adressen und Telefonnummern austauschen.«

Prompt packte Lena ihr Handgelenk. »Nein«, stieß sie hervor, »Bitte, nur das nicht!«

Verständnislos blickte die Stewardess Lena an.

»Verstehe«, flüsterte Lena beschwörend. »Wir könnten persönlich der Schwarzen Magie verfallen! Wir wären dann eine Gefahr füreinander, wenn wir unberührten Sternenstaub bräuchten. Besser wir wissen voneinander nicht, wo wir zu finden sind.«

Gehorsam schob Pamela die Visitenkarte in ihre Tasche zurück.

»Pamela, genug von den schrecklichen Dingen! Ich geh jetzt zu meinem Platz zurück und versuche zu schlafen.«

Sie standen auf. Das achtzehnjährige Mädchen und die dreiunddreißigjährige Frau standen sich wortlos gegenüber, dann umarmten sie sich.


Die Lichter im Flugzeug waren heruntergedimmt, die Jalousien vor den Fenstern heruntergezogen. Die meisten Passagiere hatten Decken über sich geworfen und schliefen, auch Lena lag zugedeckt in ihrem Sitz.

Während das Flugzeug in elftausend Meter Höhe über die Sahara raste, peinigte sie seit langer Zeit wieder der Albtraum, der über viele Monate hinweg ihr nächtlicher Begleiter gewesen war: Lena kauerte in einer dunklen Höhle, ein raschelnder Ton in ihrem Rücken ließ sie erstarren. Sie nahm eine Bewegung wahr, sah einen monumentalen Skorpion vorschießen und seinen Giftstachel in einer Vene ihrer linken Hand versenken. Sie spürte, wie sich das Gift siedend heiß in ihr Blut ergoss. Trotz der beginnenden Muskelkrämpfe und ihres gefühllos werdenden Arms schleppte sie sich mit letzter Kraft nach draußen, dort brach sie zusammen. Die Welt nahm sie nur verschwommen wahr. Ihr Herz begann zu rasen, ihr wurde furchtbar übel, Schweißausbrüche überfielen sie, das Gefühl von Taubheit und bitterer Kälte kroch in ihren Körper hinein. Das Blau des Himmels bekam einen Stich ins Rote, wandelte sich in Violett. Die braune Erde wurde schwarz. Himmel und Erde, Schwarz und Violett begannen sich zu drehen, bildeten einen rasenden Strudel, der sie in sich einzusaugen begann. Sterbend flog Lena durch einen dunkelvioletten Tunnel auf einen von Licht erfülltem Ausgang zu. »Nein, nein, ich will nicht sterben«, wollte sie rufen, doch ihr Mund blieb stumm, kein Glied konnte sie rühren.

Um 2 Uhr 30 glitt Pamela auf ihrem Kontrollgang an der Sitzreihe 48 vorbei. Sie blieb vor Lena stehen und schaute der Schlafenden ins Gesicht. ›Nein, das kann nicht sein‹, dachte sie. ›Das Mädchen hat zu viel Fantasie, für die Sache mit den Sternen muss es eine vernünftige Erklärung geben.‹ Sie wollte schon weitergehen, als sich Lenas Gesichtszüge wie unter einer entsetzlichen Qual verzerrten. Pamela strich ihr sanft über das Haar, sofort entspannte sich die Frau und schien in einen traumlosen Schlaf zu fallen.


Um 5 Uhr 45 graute der Morgen und eine dreiviertel Stunde später schimmerte eine blassrote Sonne aus einem blaugrauen Wolkendunst hervor. Die Passagiere wurden allmählich munter. Auch Lena erwachte. Verärgert registrierte sie, dass die angeregte Unterhaltung zweier Passagiere daran schuld war.

»Es stimmt, meine Liebe«, sagte ein Mann zu der Nachbarin gewandt, »Das haben Sie korrekt verstanden, wir alle sind aus Sternenstaub gemacht. Ja, der Sternenstaub! Ich sage Ihnen, bei seiner Zusammensetzung hat sich der Weltenlenker trefflich angestrengt.«

Entsetzt drehte Lena ihren Kopf nach rechts und fixierte den Sprecher. Sie sah einen Mann mittleren Alters mit Stirnglatze, Brille und einem Drei-Tage-Bart. Lebhaft gestikulierend redete er auf die Nachbarin ein. ›Bitte, bitte‹, flehte Lena, ›die Sache mit Pamela hat mir schon gereicht, keine zusätzlichen Katastrophen!‹

»Wie meinen Sie das, Herr Professor?«, erwiderte die Frau. »Was haben wir Menschen mit Sternenstaub, wie Sie sich poetisch auszudrücken belieben, zu tun?«

»Nun ja, die schweren Elemente sind vor Milliarden Jahren in sterbenden Sonnen erbrütet worden. Durch fein abgestufte Kernprozesse sind aus Heliumatomen die Bausteine des Lebens in genau der passenden Menge zusammengebacken worden, vorwiegend Kohlenstoff und Sauerstoff. Der Sternenstaub wurde ins Universum abgestoßen und daraus ist unsere Sonne mit den Planeten und unserer Wenigkeit entstanden. Wunderbar, nicht wahr?« Man konnte die Begeisterung, die aus dem Mann sprach, spürbar greifen. »In Johannesburg treffen wir Astrophysiker uns zu einem Meeting«, fuhr der Professor fort, »Ich werde einen Vortrag über die vier grundlegende Kräfte halten. Ich sage Ihnen, die Welt, wie wir sie kennen, war nur um Haaresbreite vom Nichts entfernt!«