Buch lesen: «Karfreitagabend»

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Cristina Fabry

Karfreitagabend

Erzählung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort – in eigener Sache

Prolog

Neunte Stunde

Zehnte Stunde

Elfte Stunde

Zwölfte Stunde

Dreizehnte Stunde

Vierzehnte Stunde

Fünfzehnte Stunde

Sechzehnte Stunde

Siebzehnte Stunde

Achtzehnte Stunde

Epilog

Impressum neobooks

Vorwort – in eigener Sache

An Karfreitag 2021 schrieb eine von mir geschätzte Bloggerin, dass sie gern einen Film sehen oder ein Buch lesen würde, bei dem es darum geht, was die Jünger Jesu am Tag der Kreuzigung taten und zwar, nachdem Jesus gestorben war. Was ging ihnen durch Kopf und Herz?

Es kann spannend sein, sich das vorzustellen, die Bibel sagt nicht viel darüber und ist ja auch keine fundierte, historische Quelle.

Aber die Jünger – und Jüngerinnen Jesu waren Menschen sehr unterschiedlichen Charakters, die eine schwierige Krise meistern mussten und alles, was sie erlebten, war bereits vor ihnen und auch jahrhundertelang nach ihnen eine Aneinanderreihung allgemeiner, menschlicher Erfahrungen. Wir haben keine Ahnung, wie die Menschen damals im Alltag miteinander geredet haben, was ausgesprochen wurde und was man lieber für sich behielt, welche Gefühle den Einzelnen bewusst waren und welche ihr Verhalten bestimmten, ohne dass ihnen klar war, warum das so war. Sie tickten sicher ganz anders als wir heute, hatten eine vollkommen andere psychische Struktur, eine andere Art nach außen mit Konflikten umzugehen, aber auch sie innerlich zu verarbeiten. Wir haben schon Verständnisprobleme, wenn wir es in der heutigen Zeit mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu tun haben, ja sogar wenn sie aus einem anderen sozialen Umfeld stammen, weil sie nicht die gleichen Erfahrungen gemacht haben und anders geprägt wurden. Es wird also kaum realistisch sein, was ich mir hier ausgedacht habe.

Aber der Sinn von biblischen Texten besteht nicht darin, sich die Welt von vor 2000 Jahren zu erschließen, sondern das, was sie beschreiben, in unsere Lebenswelt zu übersetzen, um aus den uralten Erfahrungen, die trotz aller Unterschiede in ihrer Essenz seit Generationen die gleichen sind, für das eigene Leben und die aktuelle Gemeinschaft zu lernen. Dabei hilft es, gemäß des Bibliologs der in Teilen der altjüdischen Tradition des Midrasch ähnelt, neben dem sogenannten schwarzen Feuer, dem gedruckten, lesbaren Wort, auch das sogenannte weiße Feuer zu entfachen, die Geschichten hinter den Geschichten, die Figuren und Erzählungen zwischen den Zeilen, die unsere Phantasie uns offenbart. Also erzähle ich Ihnen eine fiktive Geschichte von den ersten zehn Stunden nach Jesu Tod – und beginne im folgenden Prolog einige Stunden zuvor.

Prolog

Er hätte es wissen müssen. Da stand er, vor der verschlossenen Tür, die man ihm vor der Nase zugeschlagen hatte und drinnen war Jesus von Nazareth, wurde zum Tode verurteilt und er hatte ihn ans Messer geliefert.

Aber das hatte Jesus doch selbst so gewollt. Hatte ihn direkt aufgefordert, die Initiative zu ergreifen. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass der Meister in ihm jemanden sah, der die Dinge zurechtrückte. Jesus konnte nicht mit Geld umgehen, Besitz interessierte ihn nicht, mit so schnöden Dingen wir Wirtschaftlichkeit oder Planung befasste er sich nicht gern, das hatte er ihm überlassen. „Judas“, hatte er gesagt, „Wenn du immer solche Angst hast, dass wir mit unserem Geld nicht auskommen, dann wird es wohl das Beste sein, du nimmst den Beutel an dich und teilst es so ein, dass es für uns alle reicht.“

Jesus hatte ihm da durchaus etwas zugetraut und er hatte die Aufgabe mit Bravour erfüllt. Sie waren niemals pleite, dafür hatte er drei Jahre lang gesorgt und es trotzdem hinbekommen, ab und an eine kleine Extraportion für sich abzuzwacken, die er sich aber durch seinen selbstlosen Einsatz redlich verdient hatte. Manche gönnten ihm das nicht und sahen ihn scheel von der Seite an, aber selbst wollten sie sich auch nicht um die Finanzen kümmern, dazu waren sie sich immer zu fein gewesen, vor allem der kultivierte und belesene Johannes, der ständig um Jesus herumscharwenzelte oder der übereifrige Petrus, der sich immer einbildete, keiner stehe dem Heiland so nahe wie er. Selbstgerechte Kerle waren sie allesamt.

Keiner von ihnen hatte durchgemacht, was er aushalten musste. Die leidende Mutter, die nach neun Geburten kraftlos und blutleer nicht einmal das kleine Haus in Ordnung halten konnte, der aufbrausende Vater, der nichts verdiente, weil ihn niemand als Handwerker gebrauchen konnte, sodass sie selten genug zu essen hatten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Überleben zu lernen, sich Liebkind zu machen, bei denen, die vielleicht ein wenig von ihrer Habe abgaben, etwas mitgehen zu lassen, wo niemand aufpasste und dann die Beute gut aufzuheben und einzuteilen, damit es für alle reichte. Er war durch eine harte Schule gegangen und die hatte ihn klug und stark gemacht.

Jesus dagegen war ein Träumer. Er brauchte jemanden, der ihm den Weg frei machte, für ihn sorgte. Im Hohen Rat braute sich eine dunkle Wolke gegen ihn zusammen und er hatte einfach immer so weitergemacht und hatte es nicht sehen wollen. Darum musste jemand etwas unternehmen, um Jesus vor sich selbst zu schützen. Alle anderen waren zu feige dafür, liefen wie Schafe hinter ihrem Hirten her, hatten scheinbar keinen eigenen Kopf.

Der Handel mit Zera hatte ihn überzeugt. Dass man ihm dafür eine Bezahlung zusicherte, hatte er nicht hinterfragt, sondern als positive Begleiterscheinung mitgenommen. Das Richtige tun und noch davon profitieren, warum nicht? Er hatte doch nur Schaden abwenden wollen von der Bewegung und von Jesus. Im Gespräch mit dem Hohen Rat, hätte Jesus in Ruhe erklären können, worum es ihm ging und der Hohe Rat hätte Jesus erklären können, was nicht ging.

Ach und um ehrlich gegen sich selbst zu sein, musste er auch zugegeben, dass ihm gelegentlich Zweifel gekommen waren an diesem sanften Rabbi, der ständig von einer neuen Welt sprach und trotzdem nicht bereit war, an grundsätzlichen Veränderungen mitzuwirken, die Besatzungsmacht aus dem Land zu vertreiben und für eine gerechte Verteilung des Eigentums zu sorgen. Mit schönen Worten konnte man Reiche und Mächtige nicht zum Teilen von Macht und Gütern bewegen, das funktionierte nur mit dem Schwert. Er hatte Jesus ja glauben wollen, dass es einen anderen Weg gab, einen ohne Gewalt und Verletzungen, das wäre ja auch schöner, aber das war eben nur ein schöner Traum gewesen, aus dem Jesus sich weigerte, aufzuwachen und die anderen Elf mit ihm.

Doch jetzt fühlte er sich schuldig. Es war ein schlimmer Fehler gewesen, Jesus diesen Raubtieren auszuliefern. Mit den Löwen verhandelte man nicht, entweder floh man vor ihnen oder man schlug sie mit dem Knüppel in die Flucht oder man tötete sie. Aber er hatte sich eingebildet, sie bändigen zu können. Was war er nur für ein Narr? Er hatte das Geld zurückgeben wollen, um Jesus wieder auszulösen, aber sie hatten ihn nur ausgelacht. Zornig schleuderte er den Beutel in den Hof des Tempels. Sollten sie ihr schmutziges Geld für andere schmutzige Geschäfte verwenden. Er hatte nichts mehr damit zu schaffen.

Dann lief er und lief und lief immer weiter hinaus aus der Stadt, bis er keine Kraft mehr hatte. Auf einem Acker setzte er sich keuchend auf die Erde und lehnte sich an den Stamm eines uralten Baumes. Solche Wurzeln hätte er auch gern gehabt. Wissen, wer man ist und wo man steht. Gesehen, geschätzt und geliebt werden. Offensichtlich wertvoll sein, sichtbare Früchte hervorbringen. Dieses Ziel war nunmehr in unerreichbare Ferne gerückt.

Die anderen würden ihn verfluchen und bespucken, aus ihrer Gemeinschaft hinausstoßen, seinen Ruf vergiften. Er war ein toter Mann und er hatte die Wahl: ein grausamer, schmerzvoller Abgang, innerlich zerfressen von Reue und Schuldgefühlen, äußerlich vernichtet durch Ächtung und Verstoßung oder ein kurzer schmerzhafter Schlussstrich und danach ewige Ruhe.

Er nahm den Gürtel von seinem Gewand, ein schlichter, fester Strick aus Hanf, der sicher mehr hielt, als etwas Stoff um die Hüfte herum. Er wand eine Schlinge, kletterte auf den Baum und befestigte das andere Ende des Stricks mit einem Knoten, den er einmal von dem Fischer Andreas gelernt hatte, an einem starken Ast. Dann schob er unter großen Mühen – denn das Seil war kurz – seinen Kopf durch die Schlinge und zog sie zu. Judas Iskariot sah noch ein letztes Mal in den funkelnden Sternenhimmel. Dann sprang er in die Tiefe und ertrug, wie sein gesunder Körper, das Gefäß seiner kranken Seele, um sein Leben kämpfte, bis er schließlich verlor.

Neunte Stunde

Bis eben hatte es noch einen Funken Hoffnung gegeben, ein Wunder, eine Rettung in letzter Minute, aber als der ausgemergelte Erstgeborene ihrer Schwester diesen finalen Schrei ausgestoßen hatte und es mitten am Tag dunkel wurde, da wusste sie, dass alles verloren war. Sie riss sich los vom Anblick des soeben Verstorbenen und sah ihre Schwester an, bei der sie den Eindruck hatte, dass der Schmerz kurz davor war, ihre dünnhäutige Hülle zu sprengen, sie auseinanderzureißen und auf diese Weise wieder mit ihrem Sohn zu vereinen. Aber Maria, die Witwe des Josef von Nazareth brach nicht zusammen, sie besaß eine erstaunliche Stärke, so, als habe sie sich ihr Leben lang auf diesen Moment vorbereitet.

Sie hätte jetzt gern die Hand ihrer Schwester ergriffen und sie getröstet. Sie schämte sich so sehr, dass sie Maria in all den Jahren nicht weiter beachtet hatte. Als Kind war sie ihr aus dem Weg gegangen, weil sie sie als Spielverderberin empfand. Lästig war sie gewesen, weil sie sich bei allem so ungeschickt angestellt hatte und ständig ihren Träumen nachhing. Es war schlimm gewesen, für eine jüngere Schwester verantwortlich zu sein, wenn man selbst noch ein Kind war. Sie war ihr immer im Weg gewesen.

Als Maria ungewollt schwanger wurde, hätte sie am liebsten abgestritten, mit ihr verwandt zu sein. Und als Jesus dann durch Galiläa zog, hatte sie auch selten Zeit für sie gehabt – vordergründig, weil sie so viel mit dem Haus und den Kindern zu tun hatte, aber ehrlicherweise, weil das ewig komplizierte Leben ihrer Schwester ihr mächtig auf die Nerven ging. Sie hätte ihr nah sein sollen, aber sie war unendlich weit weg.

Ihr Blick blieb kurz bei der Cousine Maria Klopas hängen, die schien der Schwester verbunden zu sein. Maria stützte sich auf Johannes, den Sohn des Zebedäus, den Jesus gerade eben zu ihrem Sohn ernannt hatte, während seine eigene, leibliche Mutter dabei stand. Wie es ihr wohl damit ging?

Die Frau des Zebedäus war zutiefst erschüttert und voller Sorge. Was würde aus ihren Söhnen werden, die ja in der Gefolgschaft des Nazareners gestanden hatten, der jetzt hingerichtet worden war? Vor allem Johannes, ihr heimlicher Lieblingssohn, als wäre es nicht schlimm genug, dass er sich in den letzten Jahren für ein Leben unterwegs entschieden hatte, statt für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Nun hatte Jesus ihn ihr ganz weggenommen. Er war nicht länger ihr Sohn, sondern der der Maria. Das hatte der Messias so verfügt und sie musste sich damit abfinden. Natürlich war Jesus der Sohn Gottes gewesen, daran hatte sie nie gezweifelt, aber jetzt war er tot und zum ersten Mal regte sich der Verdacht in ihr, dass er am Ende genauso ein Scharlatan gewesen sein könnte wie all die anderen Wanderrabbis. Ein guter Mensch zwar, ein fähiger und beeindruckender, einer der viel und Viele bewegt hatte – aber eben ein Mensch, der starb wie alle anderen. War dies schon das Ende oder erst der Anfang desselben?

„Komm, Maria“, sagte Johannes. „Ich bringe dich nach Hause.“

„Nein“, protestierte die verwaiste Mutter. „Ich will dabei sein, wenn er abgenommen wird. Ich will ihn ein letztes Mal berühren und Abschied nehmen.“

„Natürlich.“, sagte Johannes und sah seine Mutter an. Der Blick in seine Augen beruhigte die Frau des Zebedäus. Johannes war noch immer ihr Sohn und würde es bleiben. Er kümmerte sich einfach um die Mutter Jesu und darauf war sie eigentlich stolz.

„Bin ich noch am Leben?“, dachte Maria, die Witwe des Josef, „oder bin ich schon gestorben wie mein Sohn? Ich spüre mich nicht. Ich kann nichts denken. Wie kann das sein? Wie kann mein Kind, das als Messias auf diese Welt gekommen ist, so jung, grausam und entsetzlich würdelos sterben? Wo ist der mächtige Vater, von dem er immer geredet hat?“

Salome und Maria Klopas hielten sich aneinander fest und weinten. „Was soll denn jetzt werden?“, schluchzte die sonst so lebensfrohe Salome und Maria Klopas hatte kein tröstendes Wort für sie. Da war nur Schmerz, Verzweiflung und Angst. Diese verheerende Dunkelheit mitten am Tag, obwohl keine Wolken am Himmel waren, überall Schmerzensschreie und der Geruch von Blut und Exkrementen – in der ewigen Verdammnis konnte es kaum schlimmer zugehen. Aber wie hätte sie Jesus bei seinem letzten Gang im Stich lassen können, nach allem was er für sie und so viele andere getan hatte?

Maria Magdalena betrachtete Johannes. Was für ein Prachtkerl. Der einzige Jünger, der ausreichend Mut besaß, seinen Rabbi in der größten Not nicht zu verlassen. All die großspurigen Kerle, allen voran Simon Petrus, hatten sich feige verdrückt. Vermutlich redeten sie sich damit heraus, dass Frauen nicht verfolgt wurden, sie gingen kein Risiko ein, wenn sie sich um den sterbenden Heiland versammelten, weil der Feind sie nicht ernst nahm. Aber Johannes passierte ja auch nichts. Er war der einzige Mann, auf den Jesus sich verlassen konnte und das hatte der ja auch schon immer gespürt. Sie erhob die Augen und blickte auf den erstarrten Jesus, den sie nur schemenhaft wahrnahm in der unnatürlichen Dunkelheit und durch den Schleier ihrer Tränen. Nie wieder würde sie seine Stimme hören, nie wieder in seine klugen Augen blicken, die sie teilnahmsvoll betrachteten, wenn sie über das sprach, was sie bewegte, nie wieder die heilsame Berührung seiner Hände spüren, die Nähe, die Wärme.

Johannes war froh, dass er einen Auftrag hatte. Das half gegen die Angst. Jesus hatte ihn wirklich gut gekannt. Sogar unter der Folter hatte er noch für ihn gesorgt. Das war einfach unglaublich. Man musste irgendwie weiterleben. Für Jesus. Das erwartete er einfach.

Maria Alphäus spürte deutlich, dass sie endlich etwas unternehmen wollte. Es hatte sie in den letzten sechs Stunden schier verrückt gemacht, dass sie Jesus nicht hatte retten können und dass auch sonst niemand nur einen Versuch gewagt hatte. Jetzt war es zu spät und alles verloren. Aber sie wollte endlich etwas tun, das war das einzige, was half, den Schmerz, die Trauer und die Verzweiflung auszuhalten.

Zehnte Stunde

Ein Soldat stach eine Lanze in die Taille des Gekreuzigten und weil kein Blut austrat und stattdessen nur ein wässriges Sekret aus dem Körper sickerte, sahen sie, dass das Herz des Rabbis aufgehört hatte, zu schlagen. Gerade wollten die Knechte den Toten von der schweren Holzkonstruktion lösen, um sie für das nächste Opfer menschlicher Willkür bereit zu halten, da tauchten zwei Mitglieder des Hohen Rates auf. Josef von Arimathäa, ein heimlicher Verehrer Jesu, trat an die Soldaten heran und sagte: „Ich würde dem Verstorbenen gern eine würdige Grabhöhle in meiner Familiengruft zur Verfügung stellen. Mein Freund hier wird mir helfen, den Leichnam abzunehmen und fortzubringen.“

Er zeigte einen Brief mit dem Siegel des Pilatus vor und erklärte: „Ich habe die ausdrückliche Erlaubnis von höchster Stelle, wie ihr seht.“

In den scheinbar teilnahmslosen Augen des Kriegsknechts war ein Funken Mitgefühl zu erkennen. „Macht mit ihm, was ihr wollt.“, antwortete der Soldat unwirsch. „Als Toter kann

er keinen Schaden mehr anrichten und dann müssen wir wenigstens nicht irgendwann die Reste wegräumen.“

Er wandte den Blick ab. Vermutlich war ihm seine antrainierte Härte peinlich. Doch Josef von Arimathäa hatte Wichtigeres zu bedenken, als den Charakter und die Befindlichkeit dieses jungen Mannes.

Johannes beobachtete die angesehenen und wohlhabenden Mitglieder des Hohen Rates mit Skepsis. In dem anderen erkannte er Nikodemus. Der war zwar nie einer von den harten Hunden gewesen; hatte Jesus zugehört, nachgedacht, ihn mit Wertschätzung behandelt, aber er hatte nicht verhindern können, dass die Mehrheit seiner mächtigen Gruppe den Meister zum Tode verurteilt hatte. Sie hatten ihn verdammt, an die blutrünstigen Römer ausgeliefert und das Volk gegen ihn aufgehetzt. Das war kein Justizirrtum, sie hatten Jesus ermordet, weil er an ihren Stühlen gesägt hatte. Johannes wandte sich an Maria Magdalena: „Was haben die mit ihm vor?“, raunte er. „Reicht es nicht, dass sie sein Leben vernichtet haben? Wollen sie jetzt auch noch die Erinnerung an ihn auslöschen? Wir sollten uns an ihre Fersen heften, um sicherzustellen, dass sie nichts Schändliches mit ihm anstellen.“

„Am wichtigsten erscheint mir, dass wir wissen, wo sie ihn hinlegen“, erwiderte Maria Magdalena, „damit wir am Sonntag die Totensalbung vornehmen können. Ich kümmere mich darum. Ich nehme noch ein paar Freundinnen mit und du bringst besser Maria nach Hause. Die Ärmste kann sich ja kaum noch auf den Beinen halten.“

„Bist du sicher?“

„Ganz sicher. Geh nur.“

„Ich warte noch, bis sie Jesus abgenommen haben. Seine Mutter möchte ihn noch ein letztes Mal berühren.“, sagte Johannes.

„Ja. Natürlich.“, erwiderte Maria Magdalena.

Während Josef und Nikodemus den Leichnam vom Kreuz abnahmen und ihn vorsichtig auf mit Duftöl und Myrrhensalbe getränkten Tüchern ablegten, standen die Frauen und Johannes dabei und sahen zu. Maria, die Mutter Jesu trat vor und kniete sich neben ihren toten Sohn. Sie hob seinen leblosen Oberkörper hoch und presste ihn an sich, schmiegte ihre tränennassen Wangen an sein bleiches Gesicht, wiegte ihn in ihren Armen und weinte und schrie vor Schmerz. Alle anderen ließen es geschehen und gaben ihr die Zeit, die sie brauchte. Dann legte sie ihn zurück auf die Tücher, streichelte ein letztes Mal das geliebte Gesicht und trat zurück. Sie sah zu, wie Josef aus Arimathäa und Nikodemus den Toten in die Leinentücher wickelten und hoch hoben.

Maria Magdalena sprach die anderen Frauen an: „Wir müssen uns aufteilen. Jemand muss Kräuter, Öl und Gewürze für die Salben einkaufen, bevor die Geschäfte schließen und am besten noch vor Anbruch des Schabbat die Salben herstellen. Ich werde hinter den beiden Männern des Sanhedrin hergehen, damit wir wissen, wo sie den Herrn hinlegen, aber ich würde ungern allein gehen. Wollt ihr zwei mich begleiten?“, wandte sie sich an Maria Klopas und Frau Zebedäus.

„Ich gehe lieber nach Hause und bereite alles für die Salbenherstellung vor.“, antwortete die Letztere. Maria Klopas dagegen erklärte sich bereit, Maria Magdalena zu begleiten und eine weitere Maria, die Mutter des Joses, eine Cousine der Mutter Jesu, kam hinzu. Sie sagte: „Das sollte ein gelungenes Unternehmen werden, wenn drei Marias zusammenhalten, da werden wir die beiden Leichenträger sicher nicht aus den Augen verlieren.“

„Und wer kauft die Salben?“, fragte Maria Magdalena.

„Salome, Johanna und ich.“, erwiderte Maria Alphäus

„Dann sollten wir uns jetzt gleich in Bewegung setzen.“, sagte Maria Magdalena.

Es widerstrebte ihr, zusehen zu müssen, wie ausgerechnet zwei Mitglieder des Hohen Rates, die Jesus zum Tode verurteilt hatten, nun seinen toten Körper wegtrugen, dazu hatten sie kein Recht, aber sie hatten die Macht und nahmen sich, was sie wollten, sogar den toten Jesus. Er hätte von seinen Jüngern getragen werden sollen, begleitet von denen, die ihn so sehr geliebt hatten. Nicht einmal eine würdige Totenruhe gönnten sie ihm.

„Ich glaube, Maria, also meine Cousine, also die Mutter, hat schon immer geahnt, dass es so endet.“, plapperte Maria, die Mutter des Joses.

Die anderen beiden Frauen schwiegen. Was sollten sie auf so ein Gewäsch auch antworten?

Die redselige Cousine ließ sich aber nicht beirren. Im Gegenteil. Weil sie die Stille nicht ertragen konnte, fasste sie das Schweigen ihrer Begleiterinnen als Aufforderung auf, erneut das Wort zu ergreifen.

„Er war ja schon als Kind recht widerspenstig.“, erklärte sie. „Schon als Zwölfjähriger ist er einfach davongelaufen, um sich mit den alten Männern in der Synagoge herumzustreiten, ohne seinen Eltern Bescheid zu geben. Die ganze Familie war krank vor Sorge und befürchtete das Schlimmste...“

„Die Geschichte kennt wirklich jeder, der Jesus kennt.“, fiel Maria Klopas ihr ins Wort. „Und im Übrigen ist Maria von Nazareth auch meine Cousine, falls du es vergessen haben solltest.“

„Ja, ich weiß, aber du hast ja nicht direkt in Nazareth gewohnt, so wie ich damals. Kennt ihr denn auch die Geschichte mit den kleinen Tonvögelchen?“

„Ja“, erwiderte Maria Magdalena. „Darum wollen wir sie auch nicht hören. Wir wollen jetzt keine fröhlichen Geschichten hören. Wir sind sehr traurig und brauchen etwas Ruhe.“

„Ich bin auch traurig.“, erklärte Maria, die Mutter des Joses. Sie behielt für sich, dass sie nicht wie andere trauerte. Die einen schrien vor Schmerz, zerrissen ihre Kleider oder rupften sich Büschelweise Haare aus. Die anderen wurden ganz still, sanken mit kummervoller Miene in sich zusammen und taten gar nichts. Daran hatte niemand etwas auszusetzen. Aber wenn sie einfach über Jesus reden wollte, weil sie es nicht ertrug, dass er für immer verloren war, dann hatte dafür niemand Verständnis. Er war der einzige Mensch, der immer freundlich zu ihr gewesen war, ihr geduldig zugehört hatte und auch eingegangen war auf das, was sie gesagt hatte, der mit ihr gelacht und sie in schweren Stunden getröstet hatte.

Maria, die jetzt die Mutter des Joses war – und darauf hatte man sie reduziert, sonst wäre sie niemand gewesen – erinnerte sich gut daran, wie alles angefangen hatte. Die Frauen in ihrem Dorf und in ihrer Verwandtschaft, die schienen alle zu wissen, wie man Dinge tat und wie man sie nicht tat. Sie waren sich alle einig, eine eingeschworene Gemeinschaft. Jede achtete jede und war gern mit jeder zusammen. Ihre Cousine Maria, die Tochter der Anna, war schon ein wenig aus der Art geschlagen, die hatte auch nie so richtig dazu gehört. Aber sie wurde mit Respekt behandelt, höflich und vorsichtig.

Sie selbst war schon immer getadelt worden oder hatte einfach gespürt, dass sie den anderen Frauen im Weg war. Auch als sie Elisabeth besucht hatte, zum Anlass der Geburt des kleinen Johannes. „Liebes Cousinchen“, hatte sie damals gesagt, „Du musst dir keine Sorgen machen wenn der Kleine so laut schreit. Das gibt sich. Der übt nur, seine Stimme zu benutzen. Bei meinen beiden war das nicht anders und sie sind gesund wie zwei Fische im Wasser. Lass ihn einfach eine Weile brüllen, dann hört er von allein wieder auf.“

„Die Schreie meines Sohnes bleiben nicht ungehört“, hatte Elisabeth mit saurer Miene geantwortet und Maria keines Blickes gewürdigt. Dann war die andere Maria zu Besuch gekommen, hochschwanger, von wem auch immer, jedenfalls nicht von Josef, ihrem Verlobten und Elisabeth hatte sie fröhlich begrüßt und das kleine Bündel der anderen Cousine gleich in die Arme gelegt.

„Du musst mal seine Windeln wechseln.“, hatte die schwangere Maria gesagt und Elisabeth hatte nur: „Oh wirklich?“ gefragt, an dem Kind geschnuppert und gelacht. „Da hast du wohl Recht.“

Auf die Unerfahrene mit dem zweifelhaften Ruf hatte sie gehört. Sie, die Unbescholtene mochte tun, was sie wollte, sie gehörte nicht dazu, durfte nicht mitspielen.

Das war schon in der Kindheit so gewesen und es schien sich niemals zu ändern. Immer verstanden sie alle falsch. Selbst ihr Ehemann war nie wirklich auf ihrer Seite gewesen. Sie war die Frau, die kochte, das Haus in Ordnung hielt, die Kinder versorgte, das Feld bestellte und ihren Körper zur Verfügung stellte. Gespräche führte er nur mit Männern – so wie alle anderen Ehemänner vermutlich auch.

Doch als der kleine Jesus damals heranwuchs, als er so weit war, dass er allen Erwachsenen die Stirn bot, die sich für klug und weise hielten, da hatte sie bereits gespürt, dass dieser Junge anders war als alle Menschen, die sie bis dahin gekannt hatte. Nicht, weil er so schlau war, das interessierte sie nicht so sehr.

„Maria, was tust du da?“, hatte er gefragt.

„Ich backe Brot.“, hatte sie geantwortet.

„Aber warum ist der Teig so schmutzig und das Brot so rund?“

„Der Teig ist nicht schmutzig, das sind frische Kräuter. Die habe ich in den Teig geknetet, damit das ganze Brot danach schmeckt. Und rund ist Brot doch immer.“

„Aber nicht so rund. Sonst ist es flach. Bei dir ist es so hoch.“

„Ja. Ich möchte ausprobieren, wie es schmeckt, wenn es weniger Kruste hat. Ich mag das weiche Innere vom Brot so gern.“

„Du hast Mut.“

„Wieso Mut?“

„Du weißt nicht, was dabei herauskommt. Wenn es verdorben ist, hast du das Mehl und die Kräuter verschwendet und beides fehlt dir vielleicht bei einer der nächsten Mahlzeiten. Aber wenn es gelingt, dann ist es vielleicht eine nie dagewesene Köstlichkeit, eine neue Entdeckung und dann werden andere dir folgen und alle werden dankbar sein für das Geschenk dieses besonderen Brotes. Du riskierst etwas und andere dürfen sich darüber freuen.“

„Aber zuerst freue ich mich doch.“

„Ja. Wenn es gelingt. Aber wenn es verdirbt, bist du die Einzige, die die schwere Last zu tragen hast.“

„Du bist ein kluger Junge.“

„Ich bin ein Junge.“

Später, als er erwachsen war und erst recht, als er den Menschen predigte, Kranke heilte und dem Sanhedrin die Gebetsriemen langgezogen hatte, da hatte er auch trotz all der Mühen die er hatte, hin und wieder die Zeit gefunden, sich anzuhören, was sie zu sagen hatte, was gerade schmerzte, worüber sie sich Gedanken machte, welche Fragen sie quälten und welche Ideen sie hatte. Und er hatte immer etwas zu sagen gehabt. Etwas das guttat, Licht ins Dunkel brachte, die Last leichter machte und das Herz.

Und nun war er tot. Und sie wollte reden, reden, reden. Alles erzählen, was sie mit ihm erlebt hatte, was er für sie gewesen war, was sie für ihn gewesen war. Sie musste ihn doch festhalten. Etwas von ihm musste doch bleiben. Und sie brauchte die sonnigen Geschichten an diesem nachtdunklen Nachmittag, diesem Gipfel der Hoffnungslosigkeit, weil sie den Schmerz sonst nicht aushielt.

„Jesus mochte das Brot am liebsten mit Thymian und Olivenöl. Wir sollten ihn mit Thymianöl einreiben.“

„Um die Spezereien kümmern sich die anderen.“, sagte Maria Magdalena. Sie kochte vor Wut. Jesus war doch kein Laib Brot. Diese Verwandte hatte überhaupt kein Feingefühl. Sie drehte sich nur um ihr eigenes kleines Universum.

Salome, Maria Alphäus und Johanna waren inzwischen in der Stadt angekommen. Es blieb nicht mehr viel Zeit, bis die Geschäfte schlossen.

„Ich gehe zu Moishe und kaufe Salböle ein. Könnt Ihr Euch um Olivenöl, Spezereien und Kräuter kümmern?“, fragte Johanna

„Das beste Olivenöl gibt es bei Miriam, am Ende der Straße. Die hat auch feine Stoffe für die Leichentücher.“, sagte Maria Alphäus. „Kannst du das erledigen Salome? Meine Beine wollen mich heute kaum noch tragen und du bist doch ein bisschen jünger als ich. Ich würde dann gleich hier vorne bei Samuel Ben Gideon Kräuter und Spezereien kaufen. Was haltet ihr von Salbei, Lorbeer, Myrrhe, Minze, Aloe, Balsam und Zimt?“

„Einverstanden.“, sagte Salome. „Ich kaufe Rosenöl, Nardenöl und Weihrauchöl.“

„Dann treffen wir uns im Haus des Zebedäus.“, sagte Johanna und ihre Wege trennten sich.

Josef von Arimathäa und Nikodemus hatten mittlerweile den Friedhof erreicht und steuerten auf das Familiengrab des Josef zu. Aus sicherer Entfernung beobachteten die Frauen, wie die Männer den Leichnam in die Grabhöhle legten, drinnen ein Totengebet sprachen und dann einen schweren Stein vor den Eingang rollten.

„Na, da brauchen wir aber am Sonntag viele starke Hände, wenn wir den Stein wieder wegrollen wollen.“, bemerkte Maria, die Mutter des Joses.

„Wir nehmen ein paar von den Jüngern mit.“, sagte Maria Magdalena. „Bis Sonntag werden sie sich hoffentlich gefangen haben und sich nicht mehr zitternd wie kleine Kinder in ihrem Versteck verkriechen.“

„Wenigstens wissen wir jetzt, wo sie ihn hingelegt haben.“, sagte Maria Klopas. „Und da werden sie ihn wohl liegen lassen.“

„Was für eine Grabhöhle ist das eigentlich?“, fragte die Mutter des Joses.

„Die gehört Josef von Arimathäa, dem einen der beiden Totenträger.“, wusste Maria Klopas. „Er ist sehr reich. Ich weiß nicht, warum er Jesus in seiner Gruft bestattet hat, aber wenn er nichts Übles plant, ist das wirklich eine seht großzügige Geste.“

„Pah.“, protestierte Maria Magdalena. „Ihn plagt das schlechte Gewissen. Es ist nichts als ein erbärmlicher Versuch, sich von der Sünde reinzuwaschen.“

„Meinst du das funktioniert?“, fragte die Mutter des Joses.

„Das ist es ja, was mich ärgert.“, antwortete Maria Magdalena. „Jesus hat ihm schon vergeben.“

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
120 S. 1 Illustration
ISBN:
9783754170311
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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