NOVA Science-Fiction 29

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Außerhalb existieren Kolonien, manche sagen, ganze Länder, die sich gegen die Transplantation entschieden haben, wo es noch Generationen gibt. Phil hatte im Prozess alle Schuld übernommen. Viele forderten für ihn die Todesstrafe, als Rädelsführer. Leute, die wegen der plötzlichen Knappheit – damals gab es noch keinen Leerkörperüberschuss wie heute, keine älteren Leeren, die als Notkörper dienen konnten – Menschen verloren hatten. Kranke Verwandte, Partner – damals glaubte man ja noch, diese Dinge würden über die Transplantationen hinaus bestehen. Nun ja, manchmal stimmte es wohl auch …

Die Rechts-KI wies damals darauf hin, dass die Todesstrafe vor langer Zeit abgeschafft worden war und empfahl, Phil zu verbannen. Der Vorschlag wurde angenommen, wobei viele murrten. Mit ihm gingen die meisten aus unserer Gruppe. Meine Beteiligung blieb mein Geheimnis. Er verriet niemanden. Gruppenmitglieder, die die Polizei nicht verhaftet hatte, meldeten sich entweder aus freiem Willen und zogen mit ihm fort oder sie blieben unerkannt und unverfolgt, unbelastet zurück. Wie ich.

Phil und die anderen sollen irgendwo in der Außenwelt eine Stadt oder einen Staat gegründet haben. Wäre ich dort glücklicher? Würde ich dort … zufrieden, selig sterben, nach einem erfüllten Leben? Ich weiß es nicht … Dort werden noch Kinder geboren. Dort verwelken die Körper noch. Würde die Sorge für die Kinder, für das Ganze, mir das Alter erleichtern? Phil meinte, das wäre so, weil die Menschheit wichtiger ist, die Evolution. Das Individuum sei nur, auf wundervolle Weise, ein Funken, eine Explosion. Und diese Explosion feiere man, indem man die Generationenfolge über sich stelle. Die Sorge für die Kinder, die Kranken, die Alten. Die Bedürftigen. Auch wenn das nur die »praktische Seite der Wahrheit« sei, wie er meinte. Er sagte, die Menschheit als Ganzes, das Leben, habe ein eigenes Bewusstsein, über dem unseren, an das keine KI je herankäme. Aber ich eben auch nicht …

Damals liebte ich Phil. Ich wollte für ihn der Preis sein, den die Welt, die Natur ihm schenkt, für seine Mühen, sein Engagement. Aber … Das Erlebnis in der Zuchtfarm, mit diesen jungen Leeren, änderte alles. Phil hatte viele Kinder, von verschiedenen Frauen. Ich wollte fast nie Kinder haben, nach meiner ungewollten Schwangerschaft, damals – auch wenn es sicher in jedem Leben Momente gibt, in dem man sich die Standarddinge wünscht. Ich musste lachen.

Der Fortpflanzungsstandard existierte bei uns ja ohnehin nicht mehr. Die Kassenmodelle waren seit jeher steril. Konnte man sich überhaupt ein fruchtbares Sondermodell kaufen?

Ich hatte länger nicht mehr an Jahn gedacht. Ihn lernte ich kurz nach meinem Bruch mit den »Freunden des Zyklus« kennen, während Phils Verhandlung. Er war einfach da. Plötzlich, irgendwo, mit seinem schiefen Lächeln. Wir trafen uns eine Weile, redeten die Tage und Nächte durch. Ich erzählte ihm alles. Er hörte zu. Fand Phils Meinungen …

Er fand sie, glaube ich, dumm. »Das ist kurz gedacht«, sagte er oft. Und dann argumentierte er. Langsam. Schmerzhaft detailliert. Ich verteidigte Phil immer wieder, aber auch mit Zweifeln im Herzen. Jahn meinte, die »Beleidigung durch die Sterblichkeit« wäre eine Art … Droge für das menschliche Bewusstsein. Er, sagte er, umarmt die Möglichkeit … zu existieren. Dauerhaft. Für ihn war das einzige Argument gegen die Transplantation das Problem der fraglichen Identität. Ist eine Person in einem neuen Körper noch identisch mit sich selbst?

Die Frage, sagte er, sei gut; aber bleiben wir im Laufe der Jahre wir selbst? Verändert sich der Hormonhaushalt nicht? Was ist mit den nicht gleichbleibenden Erfahrungsmöglichkeiten? Manchmal sagte Jahn einfach Gemeinplätze vor sich her, wie »Die Welt ist nicht ideal«. Ich erinnere mich. Direkt danach meinte er: »Die Zyklusfreunde haben aber wohl das Bedürfnis, sie als ideal anzunehmen – da sie korrekt angepasst sein wollen.« Ich verstand, was er meinte. Phil und die anderen waren Kinder, die an ihre Menschheit glauben wollten. Ihre Heimat.

Jahn dachte weiter. Er redete mit mir über die Zukunft, hypothetisierte. Sollten die Körper dauerhafter sein? Wie wäre es, wenn man sich in einen künstlich-technischen Bewusstseinsträger verpflanzen könnte – wäre es besser, könnte das Gehirn ersetzt werden, als Träger? Jahn, er war etwa in meinem Alter, hätte sich sicher für die Transplantation entschieden, hatte es sicher schon getan. Doch die Option wurde ihm genommen. Ich sah in ihm fast einen neuen Partner. Er half mir, mich von Phils Ideologie abzuwenden, aber dann …

Der Unfall war brutal, unerwartet. Nichts blieb von seinem Körper übrig, es war keine Nottransplantation möglich. Von allen Menschen, die ich kannte, war Jahn vielleicht der, der am … hellsten leuchtete, am meisten leben wollte. Ihn hatte ein sinnloser Zufall vernichtet, einer dieser kaum mehr vorkommenden Unfälle. Vielleicht war es auch die Kürze unserer Begegnung, wegen der ich ihn als so eigen empfand.

Danach suchte ich … den Alltag. Ich hatte mich für das Bleiben entschieden, dagegen, Phil zu folgen. Ich verpartnerte mich mit einem guten Mann, der keine Veränderung suchte. Wir hatten eine erfüllte gemeinsame Zeit. Er starb, es ist nicht lange her, ohne Gegenwehr, weil er … nicht mehr wollte. Er. Er war wirklich der letzte Jungmann gewesen. Und nun? Ich hatte mich an ihn gewöhnt. Er fehlte mir. Sollte ich ihm folgen? War er mein »richtiger« Todfreund?

Ich ließ die Schaukel leicht drehen, etwas nach rechts, etwas nach links. War das wirklich, wie ich mein Leben empfand, darüber nachdachte? Als Abfolge von bedeutungsschwangeren Partnerschaften? Als Teilmenge eines Ganzen, das ich mit einer anderen Entität, Person oder Generation, teilte? In deren Dienst ich mich erfüllte? Nein. Bedeuteten diese Partner eher meine … Verbindung zur Umwelt? Wie, ursprünglich, die Eltern? Und wie erlebten Eltern das? Ich hielt die Drehbewegungen an. Das ganze Gedenke nervte. Ich wollte nicht über andere mit dem Leben verbunden sein, sondern … ich sein? Im Moment sein? Eine andere sein?

Ich sah eine Passantin kommen. Der Körper war ein Sondermodell, das auf einer historischen Schauspielerin beruhte. Sie trug ein rotes Kleid, wiegte sich beim Gehen in den Hüften, lächelte unbekümmert. Zog vorbei. Was sollte ich tun? Ich dachte an das männliche Kassenmodell in Heins Schaustall. An das leere Gesicht. Das könnte mein Körper sein. Ich wäre … aktiv. Dürfte es, könnte es, wieder, sein. Ich würde ihr nachlaufen können, eine Dummheit sagen. Wir könnten uns unterhalten, vielleicht nur das, einen Kaffee trinken. Uns verabschieden. Vielleicht aber auch …

Wie würden sich Berührungen anfühlen? Mit dem neuen Körper, für den, wie Hein gesagt hatte, Berührungen intensiver waren, einen oft einfach … glücklich machten? »In den Moment rissen«? War ich darauf neugierig? »Wir sind nicht mehr unsere Körper. Und interessieren uns jetzt … mehr für unsere Körper. Ergab das Sinn? Es ist eine andere … Kommunikation. Denk darüber nach«, hatte Hein gesagt, zum Abschied, als ich mir Bedenkzeit nahm. Dabei wischte er die Büroblumen feucht ab. Ich konnte mir vorstellen, wie er das schon damals, in seiner Rentnerbude, getan hatte – eine alte Angewohnheit?

Er würde in etwa einer Stunde nach Hause gehen, aber natürlich könnte ich mich auch direkt an seine Assistentin wenden. Ich lächelte, als ich an das Retrointerface dachte. Ist die Darstellung auch aktiv, wenn Hein nicht im Büro ist, oder würde ich direkt an die Zentralverwaltung durchgestellt, an die körperlose KI? Mir standen alle Möglichkeiten offen. Ich rieb mir über den Bauch, der unter meinen Händen nachgab, über meine verbrauchten Organe wellte. Über mich? Dann schwang ich die Beine, holte Schwung, flog höher, immer höher, das Gesicht zur Sonne.


Tom Turtschi: Die Pinocchio-Abteilung

»Natürlich ist es hochgradig pathologisch, sich als Mensch zu fühlen …« Pokorny hob den Blick von der Akte, schob sie über den Schreibtisch dem Beamten zurück und schielte auf die Uhr. »Nur bezweifle ich, ob ich Ihnen weiterhelfen kann, Herr Broombosch. Wir sind nicht die richtige Anlaufstelle, wir verfügen weder über die Kapazität noch über das fachliche Know-how, um diesen verstörten und verängstigten Seelen wirklich zu helfen.«

Niklas Broombosch runzelte die Stirn – ihm erging es nicht anders: Das Amt für Cyberkriminalität verfügte kaum über die Ressourcen und das Wissen, um Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Er richtete sich auf, steckte die Akte in seine Mappe, rutschte auf dem Stuhl nach vorne.

»Wir wählen uns unsere Aufgaben nicht immer selber, Herr Direktor. Gemäß den Unterlagen wurden in den vergangenen sechs Tagen siebenundzwanzig Patienten bei Ihnen eingeliefert. Ist das korrekt?«

Pokorny angelte nach dem Tablet, überprüfte die Eingänge der letzten Woche, nickte schließlich.

»Viel zu viele … Wir mussten improvisieren, um alle unterzubringen.«

»Ich bitte Sie, Herr Pokorny – improvisieren? Im letzten Jahr wurden Bettenzahl und Personal in Ihrer Klinik verfünffacht!« Von solchen Ressourcen können wir bei der Behörde nur träumen, wollte er nachschieben, aber er biss sich auf die Lippen. Er durfte es nicht gleich beim Einstieg mit dem Direktor vermasseln, denn er würde auf dessen Kooperation angewiesen sein.

»Sicher. Und in wenigen Monaten wird ein weiterer Neubau bezugsbereit sein, der Entlastung bringt …« Pokorny deutete mit dem Kopf zum Fenster, nur Broombosch ließ den Blick nicht von ihm. Er hatte die Großbaustelle bereits beim Betreten der Klinik gesehen und gestaunt, in welchem Tempo die Gussbetonprinter, ein Ballett aus unzähligen emsigen Spinnenarmen und speienden Rüsseln, das letzte Stockwerk hochzogen.

 

»Aber die Kranken befinden sich in Ihrer Obhut?«

»Natürlich weisen wir keine Patienten ab. Das verbietet unser Ethos, nicht nur die Gesetzeslage. Wir haben im Untergeschoss ein Zimmer hergerichtet.«

»Ist es möglich, mit ihnen zu sprechen?«

»Sie sind nicht sehr gesprächig, aber Sie können es versuchen, selbstverständlich.« Pokorny starrte auf das unablässig pingende Tablet, löschte mehrere Nachrichten. Fing an zu tippen.

»Sie stehen nicht unter Quarantäne?«

Pokorny hob die Augenbrauen. »Warum denken Sie? Besteht aus der Sicht der Behörde Seuchengefahr? Bewusstseinsspaltung ist nicht ansteckend.«

»Eine Frage der Sichtweise: Fakenews können sich wie Viren verbreiten. Verschwörungstheorien neigen dazu, sich zu Epidemien zu entwickeln. Da ist es durchaus angebracht, die Herde frühzeitig zu isolieren.«

Broombosch winkte ab. Der Direktor signalisierte immer unverhohlener, wie sehr der Terminplan durch sein Anliegen durcheinandergebracht wurde.

»Aber vergessen Sie es. Sie würden mir sehr helfen, wenn ich den Patienten kurz einige Fragen stellen darf …«

Pokorny zog geräuschvoll Luft durch die Zähne, ließ sie pfeifend durch die Nase entweichen, dann gab er sich einen Ruck und steckte das Tablet in die Dockingstation.

»Gewiss doch. Bitte folgen Sie mir!«

Er schnellte aus dem Sessel und schritt geschmeidig zur Tür.


Einige Minuten warteten sie vor dem Aufzug, bis auf der Anzeige die hochzählenden Nummern stoppten und die Meldung Out of Order aufleuchtete.

Der Direktor entfloh Richtung Treppe ans andere Ende des Korridors. Broombosch hängte sich an seine Fersen. Er hielt sich zum ersten Mal im Innenbereich einer psychiatrischen Klinik auf – und die Anstalt überraschte ihn. Keine überdrehten und ausgeflippten Menschen, keine grotesken Szenen, nicht einmal in die Tiefe ihres Innern abgetauchte Autisten oder Depressive liefen ihm über den Weg. Es herrschte reger Betrieb, die Menschen gingen Geschäftigkeiten nach und plauderten ungezwungen, saßen vor wandfüllenden Bildschirmen oder vergnügten sich in Spielecken. Wenn die Namensschilder mit den Berufsbezeichnungen gefehlt hätten, wäre ihm kaum gelungen, die Patienten vom Pflegepersonal zu unterscheiden. In diesem Gang traf er auf mehr Normalität und geregeltes Leben als in dem Labyrinth der verwaisten Korridore im Amt.

Er musste seinen ersten Eindruck vom Direktor korrigieren: Er hatte sich unter einem Psychiater immer eine väterliche Figur vorgestellt, aber das war Jan Matej Pokorny entschieden nicht. Er schätzte ihn als einen nur marginal durch Empathie belasteten Verwalter und Organisator ein, aber offenbar genau richtig auf seinem Posten. Er hatte seinen Laden im Griff. Pokorny schüttelte hier eine Hand und grüßte dort, erteilte auf der Treppe einem Assistenzarzt eine knappe Anweisung, schenkte einer Jugendlichen sein Ohr, die sich über Zucken in den Muskeln beklagte. Ein Vater hätte ihr wohl die Hand auf die Schulter gelegt und einige aufmunternde Worte gesprochen – Pokorny übergab sie einer herbeieilenden Schwester, mit dem Verweis auf ein bestimmtes Medikament.

Zu ihm sagte er nichts, stellte keine Fragen. Broombosch kam das ganz gelegen. Bevor er sich ein Bild von den Patienten gemacht haben würde, wollte er seine Karten nicht offenlegen.

Sie erreichten den Eingangsbereich mit der großzügigen Glasfront und der Informationstheke, bogen neben der Lounge in die Kantine. Hier war wenig los, vereinzelte Patienten hockten mit Angehörigen bei Kaffee und Kuchen.

Hinter der Getränkestation traten sie durch eine Tür, über der Aktivierungsräume stand.

Er staunte ob des schieren Umfangs der Beschäftigung. Die Patienten saßen in einzelnen Gruppen zusammen. In der Halle reihten sich sicher drei Dutzend Stationen mit vier bis fünf werktätigen Männern und Frauen. Einige in blauen Overalls, andere in bequemer Alltagskleidung, einzelne etwas schlampig in Trainingshosen und Pantoffeln. Sie packten Bauteile aus großen Pappschachteln, studierten Montageanleitungen und setzten die Elemente zu Sideboards, Beistelltischen, Buffets, Ablagen zusammen, bei anderen Inseln entstanden Schränke und Gestelle und Garderoben. Im hinteren Teil des Raumes wurden Tische und Betten montiert, die ein Roboter gerade auf einen Wagen verlud und davonkarrte.

»Für den neuen Trakt?«, fragte Broombosch. Die Geschäftigkeit verwunderte ihn etwas. Der Rohbau war schließlich noch in vollem Gang.

Pokorny winkte ab. »Die Beschäftigung ist rein therapeutischer Natur. Bei den Patienten der Tagesklinik wie bei den Chronischen hilft der Glaube ungemein, etwas Sinnvolles zu tun und gebraucht zu werden. Wir konnten die negativen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit merklich reduzieren und das Selbstwertgefühl der Betroffenen steigern. Psychosomatische Störungen verschwinden nach einigen Wochen fast ganz.«

Broombosch nickte. Er hatte davon gehört, dass viele mit ihrer Arbeitslosigkeit kämpften. Die Vorstellung, freie Zeit bedeute eine Belastung, bereitete ihm immer Mühe. Was hätte er doch für etwas zusätzliche Freizeit gegeben …

»Haben die Leute denn keine Hobbys? Ich hätte mehr kreative Aktivitäten erwartet, Dinge, die ihnen Spaß machen: Malen, Stricken, Schreinern …«

Pokorny lachte auf.

»Die Selbsterfahrungsschiene ist den meisten zu anstrengend, klare Anweisungen und repetitive Tätigkeiten sind viel heilsamer. Nur der Fitnessraum im Obergeschoss ist ähnlich beliebt, wobei der therapeutische Nutzen deutlich geringer ist. Durchtrainierte Muskeln reichen nicht ganz für ein erfülltes Leben.«

Sie schritten den Mittelgang entlang. Broombosch war recht unwohl zumute. Verstohlen wagte er ab und zu einen Blick auf die schweigsamen Gruppen, die andächtig ihre Tätigkeiten verrichteten, Hohepriestern nicht unähnlich, die mit heiligem Ernst die Rituale ihrer Ahnen vollzogen. Er fragte sich, nach welchen Kriterien die Montagegruppen zusammengesetzt wurden. Männer und Frauen, Jugendliche und ältere Semester, intellektuelle Brillenträger und gestählte Muskelpakete – die Einheiten schienen wild durcheinandergewürfelt. Aber alle funktionierten perfekt. Ohne sichtbare Absprache oder Organisation wurden Muttern festgezurrt und Teile von Hand zu Hand weitergereicht, bis die fertigen Möbel auf eine Europalette gestellt und abtransportiert wurden.

Am Ende der Halle deutete Pokorny auf ein erhöhtes Kabäuschen, in dem ein Vorarbeiter – oder wohl treffender: die Pflegeaufsicht – saß. Er sagte: »Hier im Office wird das Grundeinkommen jeden Freitag als Lohn ausbezahlt. Das ist wichtig. Es vermittelt den Menschen den Eindruck, sich das Geld redlich verdient zu haben.«

Sie erreichten die Warenaufzüge. Beim rechten Lift löschte ein autonomer Stapler Pappkisten, der Fahrstuhl daneben weckte den Eindruck eines Lieferwagens bei einem Umzug, bei dem gerade die letzte freie Stelle mit Hausrat vollgestopft wurde. Pokorny scheuchte den herannahenden Roboter mit geschultertem Regal weg, trat in den Lift und zog Broombosch zu sich.

Broombosch versuchte, zwischen der Brust des Direktors und dem Tischbein im Rücken eine Position zu finden, die ihm nicht das Rückgrat brechen würde, da schlug ihm Pokornys Atem ins Gesicht: »Erklären Sie mir eines: Warum schicken sie einen Beamten von der Cyberkriminalität, nicht jemanden von der Seuchenpolizei, wenn eine Epidemie befürchtet wird?«

Broombosch spürte Pokornys stieren Blick, wie einen Röntgenapparat, keine zwanzig Zentimeter von seiner Nase entfernt.

»Wir sind …«, er suchte nach einer halbwegs glaubwürdigen Ausflucht, aber partout wollte ihm nichts einfallen, »… die Behörde in den Bundesbetrieben mit den meisten Human Ressources: Bei der Cyberkriminalität arbeiten dreizehn Menschen. Die Arbeit auf den anderen Ämtern wird durch KIs und Melogs erledigt. Höchstens der Posten der Direktion und ein, zwei Systemadministratoren sind menschliche Arbeitskräfte. Ob wir es hier mit einem Akt der Cyberkriminalität zu tun haben, war zweitrangig. Als entscheidend wurde vielmehr erachtet, dass die Ermittlung durch einen Menschen geführt wird. Keine Synthi-Polypen, keine Cop-Bots.«

»Aber Sie gehen von einem kriminellen Akt aus? Sabotage?«

Broombosch bewegte den Kopf derart unentschieden, dass Pokorny nicht wissen würde, ob er die Geste als Schütteln oder Nicken deuten sollte.

Der Aufzug stoppte im zweiten Untergeschoss. Broombosch atmete erleichtert auf. Die Türflügel glitten zur Seite, und er konnte aus der bedrängenden Enge entwischen.

Er stand in einer Lagerhalle mit kaum geringerem Ausmaß als der Werkraum im Erdgeschoss. Er musste zweimal hinsehen. Ein mobiler Industrieroboter mit drei Armen demontierte in horrendem Tempo Betten, Schränke, Tische, drehte Schrauben raus und entfernte Verbindungszapfen und Scharniere, schweißte diese in Plastikbeutel ein, steckte Einzelteile in Styroporhalter, verstaute alles in Pappkartons, klebte die Kisten zu und applizierte auf der Oberseite ein druckfrisches blaugelbes Logo, und noch bevor der Hilfsroboter mit dem Hubstapler die eben verschlossene Kiste auf eines der Hochregale verfrachtet hatte, war bereits ein weiteres Buffet zur Hälfte zerlegt.

Offenbar hatte Pokorny seinen konsternierten Blick bemerkt. Er fühlte dessen Hand auf der Schulter, die ihn sanft, aber bestimmt weiterschob und hörte ihn erläutern: »Wir arbeiten in geschlossenen Kreisläufen – alles andere würde den Steuerzahler zu stark belasten. Ausgeschieden und ersetzt werden nur zerkratzte, abgenutzte Teile. Nach einigen Restrukturierungsmaßnahmen und Optimierungen erreichen wir heute im Schnitt mit dem Material siebzig bis achtzig Umläufe.«

Broombosch duckte sich unter der Hand weg. Er fühlte, ein anerkennendes Nicken wurde von ihm erwartet, aber er brachte es nicht übers Herz, diesem Verwalter mitmenschlicher Fürsorge die entsprechende Ehre zu erweisen. Hätte er die Zeit gefunden, über die Methoden der modernen Psychiatrie nachzusinnen, wäre es mit Anstand und Höflichkeit wohl vorbei gewesen – aber Pokorny verschwand in einem Kellergang, und er musste sich vorsehen, den Anschluss nicht zu verpassen.

Er eilte ihm durch den spärlich erleuchteten Korridor hinterher, folgte ihm durch den Heizungskeller und sah, wie er nach einer Abbiegung vor einer Tür stehen blieb, gestikulierte und mit einem Arbeiter in einem Blaumann sprach.

»Das ist Latif Musmar«, sagte Pokorny, als Broombosch die beiden erreichte, »unser Facilitymanager …«

»Oder Mädchen für alles«, lachte ihm der untersetzte, glatzköpfige Kerl mit Augenbrauen wie borstiges Steppengras entgegen. »Seit ich dem Direktor mein Etablissement abgetreten habe, bin ich auch für den Roomservice unserer neuen Patienten zuständig. Wir nennen sie die Pinocchio-Abteilung.« Er zwinkerte Pokorny schelmisch zu, klatschte in die Hände und sagte: »Keine besonderen Vorkommnisse. Die Patienten sind wohlauf. Es geht ihnen – natürlich im Rahmen ihres Zustandes – ganz ordentlich. Ich bitte die Herren …«

Broombosch trat hinter Musmar und dem Direktor in das Krankenzimmer. Mittendrin saß eine dunkelhaarige Frau vornübergebeugt an einem windschiefen Tischchen und drehte ihnen den Rücken zu. Hinten hantierte ein breitschultriger Hüne mit krausem Haarschopf mit einem Schraubendreher an einem Gerät auf einer Werkbank – Broombosch vermutete einen 3-D-Drucker. Er steckte das Werkzeug zurück in die Halterung an der Wand, prüfte diverse Zangen und griff eine spitze Kneifzange mit Seitenschneider.

Das fensterlose Kabuff musste Musmars Werkstätte sein und ihm zugleich als Pausen- und Ruheraum gedient haben: links unter einem Spiegel ein Waschbecken, daneben ein Gestell mit Zahnbürsten, Kamm und Haarföhn, dann ein Kühlschrank, gefolgt von weiteren Gestellen mit Pappschachteln, Stichsägen, Bohrmaschinen und Ersatzteilen für sanitäre Einrichtungen. An der rechten Wand drei Liegen. Die zusammengeknüllten Filzdecken stellten dem Roomservice kein allzu gutes Zeugnis aus, aber das erschien Broombosch in diesem lieblosen Verschlag schon beinahe als vernachlässigbares Detail.

Sein Blick suchte die einzig elegante und entzückende Stelle auf, die sich hier unten dem Auge bot: den sanft geschwungenen Rücken der Frau. Die Höcker der Wirbelsäule buchteten den gespannten Stoff ihres Kleides wie eine verebbende Welle aus. Hochgestecktes Haar, graziler Hals, goldschimmernde Halskette, ärmelfreies Kleid mit Blumenmuster.

 

»Frau Roux?« Pokorny trat an sie heran. »Entschuldigen Sie … Darf ich vorstellen: Amélie Roux, Herr Broombosch. Er hätte einige Fragen …«

Sie drehte sich um.

Er kannte dieses Gesicht: schmal geschnitten, Stupsnase, bleicher Teint, dominiert von den übergroßen Augen eines Mangagirls. Trotzdem schreckte er einen Schritt zurück. Amélie Roux war mehr als blass: Mit den eingefallenen Wangen und den blutleeren Lippen wirkte sie schon fast transparent. Der gläserne Blick und der madige Ausdruck ließen ihn an eine zerbrochene Königin der Nacht denken, die ihr Näschen ein Leben lang lieber ins Kokain als in die Sonne gestreckt hatte.

Er erinnerte sich an die unschuldigen, aufmerksamen Rehaugen, die neugierig und servil die Umgebung abtasteten – jetzt fixierten sie einen Punkt in der Luft zwischen den Männern und waren in eine andere Welt gerichtet.


In der rechten Hand hielt sie einen Stift, mit der Linken nestelte sie an ihrer Skarabäuskette.

»Ja, bitte?«, hauchte sie kaum vernehmbar.

Broombosch trat näher, streckte ihr die Hand entgegen und bedankte sich für ihre Bereitschaft, ihn zu empfangen. Sie fummelte weiter an ihrer Kette, schwieg.

Broombosch ging in die Hocke, um seine Fragen auf Augenhöhe an sie zu richten. Sie blieb weiterhin stumm, wollte ihm weder verraten, wie es ihr ging, noch wie sie sich fühlte. Komplimente prallten an ihr ab wie Wassertropfen an einer frisch imprägnierten Pelerine. Alle Sanftheit, die er in seine Stimme legte, nützte nichts, genauso wenig wie die Beteuerung, dass sie sich nicht zu fürchten brauche. Ihre ätherischen Glupscher stierten an ihm vorbei. Aus der erstarrten Mimik in ihrem Neumondgesicht las er nur Abwesenheit.

Erleichtert räumte er das Feld, als ihn Pokorny zur Seite schob und sich einschaltete. Der Direktor begriff offenbar, dass er weniger seiner kostbaren Zeit vertrödeln würde, wenn er sich kooperativ zeigte und ihn aktiv unterstützte.

Pokorny sprach mit einer warmen, insistierenden Stimme länger auf sie ein. Broombosch überlegte sich, ob er da gerade einen empathischen Zug des Direktors erleben würde, aber die Stimme erschien ihm doch mehr suggestiv als väterlich. Effektiv war sie allemal – auf die Frage, wie lange sie hier sei, rappelte sie sich schließlich auf und zeigte eine Reaktion: Sie zuckte mit den Schultern.

»Eine geraume Weile …«

»Exakt, das haben Sie schön gesagt, Frau Roux. Sie sind ganz genau schon eine geraume Weile bei uns. Sind Sie zufrieden mit dem Service?«

Verstohlen taxierte sie Musmar, murmelte: »Doch … doch … Mir fehlt es an nichts.«

»Gut so! Im Urlaub sollte auch alles perfekt sein. Urlaub geht immer viel zu rasch vorüber. Im Nu ruft wieder die Pflicht – das ist Ihnen klar, Frau Roux? Bald werden Sie wieder anpacken müssen.«

Langsam taute sie auf. Sie zog ein Schmollmündchen, dann lachte sie: »Ist wohl so …«

»Wo arbeiten Sie denn?«

»Bei Schielmann. Sanitärbereich. Ein Anbieter für Fliesen und Kacheln.«

»Und was machen Sie dort?«

»Oh, ich arbeite im Callcenter. Daneben etwas Administration: Bestellungen, Rechnungswesen, Buchführung …«

»Gefällt Ihnen die Arbeit? Erzählen Sie Herrn Broombosch doch, ob der Job Sie erfüllt und befriedigt …«

Sie schaute den Direktor mit großen Augen an, dann drehte sie sich zu Broombosch und nickte.

»Ja, doch, sehr! Tolles Team, interessante Aufgaben. Ich könnte mir nichts anderes vorstellen. Warum fragen Sie?«

Broombosch zwinkerte aufmunternd und trat einen Schritt näher. »Weil mich interessiert, was in Ihnen vorgeht, Frau Roux. Jetzt sind Sie hier, in der Obhut von Doktor Pokorny – was ist geschehen?«

Sie blickte ihm jetzt direkt in die Augen, lächelte etwas verunsichert. Er konnte nicht ausmachen, ob sie ihn nicht verstanden hatte oder ob sie nachdachte.

»Können Sie mir erklären, warum Sie hier sind?«

Sie seufzte, setzte zu einer Antwort an, wandte den Blick von ihm ab und fixierte erneut den imaginären Punkt in der Luft. Sie beugte den Kopf zur Schulter und erwog: »Eine kleine Auszeit? Jeder Mensch braucht mal eine Pause.«

Er zögerte, sie unverblümt mit der Realität zu konfrontieren. Er war kein Psychologe, aber vom Umgang mit seiner demenzkranken Mutter wusste er: Hatte sich ein Bewusstsein in einem Paralleluniversum eingenistet, war es ihm unmöglich, Fakten von außerhalb in seine Überlegungen einzubeziehen. Er musste in ihren Kokon eindringen, umsichtig und sanft.

»Verstehe … Erschöpft. Sind Sie einfach müde? War die Arbeit zu belastend?«

»Nein. Warum müde? Ich arbeite gerne. Aber Arbeit ist nicht alles. Der Mensch hat doch ein Recht auf Urlaub und Freizeit. Etwas zu machen, was ihm guttut. Neben der Arbeit. Hier finde ich Ausgleich. Ich zeichne und lese.«

»Wann fühlten Sie sich zum ersten Mal als Mensch?«

Elektrisiert richtete sie sich auf.

Broombosch konstatierte die heftige emotionale Reaktion. Die traurige Schwere war wie auf Knopfdruck von ihr abgefallen. Aus den zusammengekniffenen Augen schossen feurige Blicke und sie bemerkte harsch: »Wann haben denn Sie sich zum ersten Mal als Mensch gefühlt?«

»Ich möchte es von Ihnen wissen.«

»Bei der Geburt?« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und spitz giftete sie: »Als blindes, schreiendes und zappelndes Packen, gerade mal drei Pfund schleimig-mariniertes Fleisch? Wohl kaum. Das Bewusstsein wird nicht geboren. Es wächst heran, über viele Erlebnisse und Erfahrungen. Es gibt kein einzelnes Ereignis, das einen zum Menschen macht. Plötzlich ist das Wissen einfach da, als selbstverständliche Gewissheit …«

Das splitternde Knacken des berstenden Stiftes in ihren Händen unterbrach sie. Erschrocken hielt sie inne. Der heftige Ausbruch war genauso rasch vorüber, wie er sie überrollt hatte. Ein Lohfeuer, kurz aufgeflackert und wieder erloschen.

»Sie entwerfen Leiterplatten?«

Die Überdrehtheit war Befangenheit gewichen. Sie starrte verlegen auf die beiden Stummel in ihren Händen wie ein kleines Mädchen, das eben Schokolade aus dem Küchenschrank stibitzt hatte. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Broombosch nahm das Blatt vom Tisch, betrachtete einen Moment das Geflecht aus filigranen, netzartigen Bleistiftstrichen, die sie mit einem Lineal über die gesamte Zeichenfläche gezogen hatte, hielt es ihr hin.

Sie kicherte, fingerte an der Kette, zuckte mit den Schultern.

»Sie zeichnet Labyrinthe.« Pokornys Zeigefinger tauchte über dem Blatt auf und wies auf ein kleines Knäuel mit abstehenden Extremitäten, das sie freihändig auf die orthogonalen Striche gemalt hatte. »Das hier ist Minotaurus, mit dem Stierkopf und den Hörnern. Später wird sie Theseus dazu setzen, manchmal auch Ariadne.« Er deutete auf den Stapel mit den vollgekritzelten Blättern. »Sie ist ausgesprochen fleißig, zeichnet ununterbrochen. Die sind alle in den drei Tagen entstanden.«

Amélie Roux sagte nichts. Erneut war sie weit abgedriftet und es kümmerte sie in keiner Weise, was über sie gesprochen wurde. Sie lächelte elegisch vor sich hin, strich mit der linken Hand ihr Haar hinters Ohr. Broombosch bemerkte das Tattoo an ihrem Hals. Er erkannte im kleinen blauen Emblem das Logo von Boston Dynamics.

Er hatte es die ganze Zeit gewusst, dennoch war er über die Bestätigung durch das Markenzeichen ganz froh: Frau Roux war eine Melog aus der Office-Reihe des größten Roboterherstellers, eine e-VA 3, im Home-Bereich eines der verbreitetesten Modelle rund um den Globus, aber auch im Amt erledigten sie unzählige Aufgaben. Zweifellos waren die e-VAs perfekte Vorzimmerdamen, optisch und in Sachen Usability von Boston Dynamics bis zur Modellreihe 3 verblüffend optimiert – nie hatte Broombosch aber bisher den Eindruck, einem wirklichen Menschen gegenüberzusitzen. Diese Silikongesichter waren immer etwas zu servil, zu fleißig und zu engstirnig: Nie hätten sie eine Begehrlichkeit außerhalb ihres Aufgabengebietes entwickelt oder auf eine Bemerkung unwirsch reagiert. Amélie Roux war anders. Da bestand kein Zweifel.