Korridorium – ein pluridimensionaler Thriller

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Korridorium – ein pluridimensionaler Thriller
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Cory d'Or

Korridorium – ein pluridimensionaler Thriller

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

51/398

3/398

7/398

8/398

10/398

14/398

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18/398

24/398

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201/398

204/398

206/398

225/398

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246/398

251/398

254/398

301/398

340/398

351/398

356/398

381/398

393/398

Bonuskorridor

Nachwort

Impressum neobooks

Vorwort

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1/398

11.11.11

Ich betrete den Korridor …

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»Ich betrete den Korridor …« Dieser unscheinbare Satz war am elften November 2011 der Startschuss für das in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche literarische Blog Korridorium.de.

Von diesem Tag an veröffentlichte Cory d’Or Tag für Tag weitere Beiträge: Storys, Fabeln, Offenbarungen, Einwürfe, Glossen und miteinander verwobene Fortsetzungsgeschichten – alle mit dem gleichen Anfangssatz und begleitet von einem Soundtrack passender Länge, komponiert und produziert von Tychonian Soundworks.

Zum angekündigten Ende des Projekts am zwölften Dezember 2012 waren es insgesamt 398 Blogeinträge, darunter auch so ausgefallene wie ein QR-Code, eine Infografik und ein Filmnachspann.

Was anfangs wie eine wilde und genreübergreifende Mischung von Prosa-Miniaturen und Kurzgeschichten wirkt, entfaltet sich Tag für Tag, Kapitel für Kapitel, zu einem Kaleidoskop aus Themen, Figuren, Orten, popkulturellen und historischen Verweisen, Selbstbezüglichkeiten und Erzählperspektiven, dessen einzelne Facetten mit der Zeit verborgene Querverbindungen offenbaren und sich zu einer großen, »pluridimensionalen« Geschichte entfalten – durchsuchbar mit Hilfe einer Reihe von Kategorien und Keywords (wobei Tags wie »Nous« und »K.« in den eingebauten FAQs des Blogs näher erläutert wurden).


»Es könnte um die Suche nach […] Glück, Liebe, Sinn, Mythos oder Erkenntnis [gehen]« – heißt es auf halber Strecke des Blogs unter »Was bisher geschah«, doch bereits mit Kapitel 51/398 kommt es zu einer überraschenden Wendung ganz anderer Art: Es geschieht ein Mord, ein Profiler hat seinen Auftritt, setzt sich mit den vom Mörder hinterlassenen Texten auseinander, verstrickt sich immer tiefer in den bizarren Fall und wird mit der Frage konfrontiert, ob es womöglich zusätzlich zur uns bekannten und vertrauten Wirklichkeit weitere parallele Realitäten gibt und damit auch: weitere Versionen seiner selbst. Aber lesen Sie selbst!

Dieses E-Book präsentiert Ihnen – in einer handverlesenen Auswahl aus den 398 Kapiteln des Blogromans – den in das Korridorium eingebetteten »pluridimensionalen« Thriller, der mit Kapitel 51 beginnt. Für einen besseren Einstieg hat der Herausgeber den Beginn der Mörderjagd zusätzlich noch einmal an den Anfang gesetzt. Als »Bonuskorridor« finden Sie am Ende ein bislang unveröffentlichtes Kapitel aus dem Thriller-Strang.

 

(Im Original-Blog verweisen interne Links, die ein zusätzliches Browserfenster öffnen, auf die jeweiligen Texte, über die zwischen dem Kommissar und dem Profiler gesprochen wird. In dieser E-Book-Ausgabe finden sich die wichtigsten dieser Verweise an der jeweiligen Stelle als hochgestellte Kapitelnummern.)

Exklusiv für Sie als Leser eines Korridorium-E-Books erhalten Sie im Nachwort das Passwort für das Original: eine archivierte Version des gesamten fraktalen Blogromans mit allen zwischen dem 11.11.11 und dem 21.12.12 veröffentlichen Texten von Cory d’Or – inklusive der externen Links unter vielen der »Korridore« sowie aller 398 Soundtracks zu den Texten, exklusiv für das Korridorium komponiert und produziert von Tychonian Soundworks.

Weitere E-Books mit (Fortsetzungs-)Geschichten aus dem fraktalen Blogroman:

• Korridorium – Zeitgeistfrakturen

• Korridorium – Storys aus dem Labyrinth

• Korridorium – der SciFi-Fraktor

• Korridorium – Mythenwege, Märchenpfade

• Korridorium – fraktale Romanzen

• Korridorium – magische Abenteuer

• Korridorium – letzte Erkenntnisse

Die acht Korridorium-E-Books, mit Cory d’Ors freundlicher Genehmigung als E-Book-Reihe herausgegeben von Margret Phlippen, enthalten insgesamt 328 der originalen 398 Kapitel des Blogs (mit – aus inhaltlichen Gründen – sieben Dopplungen) sowie sieben bislang unveröffentlichte Bonus-»Korridore« aus der Feder von Cory d’Or, Texte, die es aus unterschiedlichen Gründen zwischen dem 11.11.11 und dem 12.12.12 nicht ins Blog geschafft haben.

51/398

31.12.2011

Ich betrete den Korridor. In die Siegessäule hat es mich bisher nie verschlagen. Ist wohl auch nur was für Touris. Diesmal sind keine hier, weil die Mordkommission alles abgesperrt hat. Uwe Albo tritt mir entgegen. »So was ist mir im Lebtag noch nicht untergekommen. Echt übel. Den Scheißkerl kauf ich mir persönlich, wenn …« Er verliert den Faden. Sieht verstört aus. Dem kann ich nachhelfen: »Den Kerl? Oder die Frau?« Albo stutzt, aber merkt schnell, dass ich natürlich noch nicht mehr wissen kann als er. »So was macht keine Frau.« Er gibt mir den Weg frei. Der Fotograf ist gerade bei der Arbeit. Sein Blitz erhellt einen Stapel loser Blätter, auf dem ein blutiger Klumpen Fleisch liegt. Ein frisches Herz, wie es scheint, und zwar vermutlich das eines Menschen, sonst wären wohl kaum Albo und die Mordkommission angerückt – und er hätte auch mich nicht gleich herkommen lassen. Na, das Jahr hört ja gut auf. Ich sehe mich in dem Korridor um, kann aber nichts psychologisch Besonderes entdecken.

Später in seinem Büro drückt mir Kommissar Albo, nachdem ich gefühlte zwanzig Papptassen voller bitterem Kaffee auf ihn gewartet habe, die Blätter in die Hand. Das Blut hat dunkelrote Flecken darauf hinterlassen. Ich bin ganz froh, dass die Forensiker jedes einzelne Blatt in eine Plastikhülle gesteckt haben.

»Es sind fünfzig«, sagt Albo. Er sieht müder aus als sonst, seine dunklen Tränensäcke scheinen noch mehr vom Leid der Welt absorbiert zu haben. »Durchnummeriert.« Er lässt sich auf seinen Drehstuhl fallen. »Sonst haben wir nichts. Täter-DNA, Fingerabdrücke, Fußspuren: Fehlanzeige.« Ich sehe die Blätter durch. Maschinegeschriebenes. Kurze Texte. Geschichten. Kein Bekennerbrief allem Anschein nach. Auch keine Liebesbriefe. »Das Herz?«, frage ich.

Albo greift nach seinem Handy, als habe es gerade vibriert. Aber er muss sich getäuscht haben, steckt es mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln wieder weg. »Das Herz, ja. Das Opfer ist männlich, dem Blut nach. Vom Rest keine Spur.«

Ich stehe auf und winke mit dem Blätterstapel: »Guck ich mir zuhause mal näher an.« Albo sieht mich an, als hätte ich gerade mein Jackett geöffnet und ihm einen Sprengstoffgürtel präsentiert: »Die kannst du nicht mitnehmen. Hast du sie noch alle? Das ist wichtiges Beweismaterial.« Ich mache die drei Schritte zum Kopierer und hebe den Deckel hoch. Der Schnelleinzug nützt mir hier nichts, mit dem Plastik um die Blätter. Albo sieht aus, als wolle er protestieren. Grünes Leuchten fährt unter dem Deckel entlang. Kann das Kopiererlicht irgendwelche Spuren vernichten? Albo scheint zu dem Ergebnis zu kommen, dass das eher unwahrscheinlich ist. Er sackt wieder auf seinen Stuhl zurück. Dass wir es mit einer kranken Psyche zu tun haben, muss er gleich gespürt haben. Sonst wär ich jetzt nicht hier.

Ich lege das zweite Blatt auf. Auf dem ersten, das ich zur Seite lege, ist jede Menge eingetrocknetes Blut, das auf der Kopie hässliche schwarze Kontinente hinterlassen hat, ähnlich der Tintenkleckse für einen Rorschachtest. Die Flecke umfließen den Text mit der Nummer 1 auf dem Blatt. Es ist nur ein einziger Satz. Er lautet: »Ich betrete den Korridor …«

3/398

13.11.2011

Ich betrete den Korridor. Du läufst mir lachend und mit offenen Armen entgegen. Ardinea! Ich erkenne dich an der wilden Farbe deiner Augen.

7/398

17.11.2011

Ich betrete den Korridor, falls man das so sagen kann, denn eigentlich skype ich nur, und es ist mein Gesprächspartner, der mit seinem Laptop auf dem Arm den Korridor betritt, um mich mit ins Studio zu nehmen. »Uraniborg« heißt es, und ihn soll ich Tycho nennen, was gut zusammenpasst, denn die sogenannte »Himmelsfeste« war einst die Forschungsstation des dänischen Astronomen Tycho Brahe.

Dieser Tycho jedoch ist Musiker, und genau darum geht es mir auch: um Musik für meine Texte. Obwohl ich ihn gerade nicht sehe, weil die Webcam mir wackelnde Bilder des Korridors zum Studio zeigt, wiederhole ich zur Vorsicht noch einmal, was ich Tycho schon in meiner E-Mail geschrieben hatte, in das Mikro meines Headsets: »Ich kann euch allerdings nichts dafür zahlen.«

»Hast du ja schon geschrieben«, sagt er und öffnet eine schallgedämmte Tür. Ich hatte Synthesizerburgen und einen Haufen Instrumente erwartet. Aber der große, helle Raum mit Panoramafenstern in den Garten enthält neben einer von Klangschalen unterschiedlicher Größe umstandenen Liege nicht viel mehr als ein Keyboard. Dieses lässt sich unter dem Schreibtisch, vor dem ein Klavierhocker steht, offenbar herausziehen. Den zahlreichen Kabeln auf dem Tisch entnehme ich, dass hier ein Computer angeschlossen wird – vermutlich nimmt Tycho dafür sonst den, mit dem er mich gerade herumträgt.

»Willkommen in Uraniborg«, sagt Tycho. Er stellt den Laptop auf dem Tisch ab und verdeckt mit seinem Gesicht die Klangschalenkonstruktion.

»Was ist das für eine Liege hinter dir? Ist das für eine Klangmassage?«, frage ich neugierig.

»Oh, das«, sagt er, »wir experimentieren gerade mit Soundscapes, die der Hautwiderstand desjenigen steuert, der sich in die Liege legt. Sie wird mit Druckluft betrieben.« Tatsächlich erkenne ich hinter ihm zwischen den Klangschalen einen eigenartigen Mechanismus mit Schläuchen und chromglänzenden Kolben.

»Möchtest du auch mal? Wollen doch mal sehen, was für einen Hautwiderstand der Computer hat …« Das Bild kippt. Tycho setzt sein Laptop auf die Liege. Mit dessen eingebauter Webcam habe ich jetzt einige der Klangschalen im Blick. Der Druckluftperkussionist beginnt zu zischen und zu stampfen und bewegt die Klöppel, und bald umhüllen mich hypnotische Sphärenklänge.

»Bevor ich hier ganz wegdrifte …«, rufe ich in mein Headset, und da kippt auch schon wieder das Bild, und Tycho setzt mich, nachdem er die Pressluftmaschinerie abgeschaltet hat, wieder auf den Tisch. Auch er stülpt sich jetzt ein Headset auf. Die Klangschalen hinter ihm hallen noch lange nach.

»Wie bist du auf mich gekommen?«, fragt er neugierig. »Warst du auf einem meiner Schlafkonzerte?«

Ich schüttle den Kopf: »Noch nicht. Ich hab ein paar Tracks von euch im Internet gehört und dachte …« Ja, was hab ich mir eigentlich dabei gedacht?

»Du willst eine Reihe von Texten veröffentlichen und hättest gern jeweils einen kleinen Soundtrack dazu. Hab ich das richtig verstanden?«

»Genau«, sage ich.

Ich hatte schon in der E-Mail ein bisschen von mir erzählt: Dass ich im Bauamt einer kleinen Stadt in den neuen Bundesländern arbeite, da wenig zu tun habe, aber beschäftigt wirken will, weil ich am Gang zu den Toiletten sitze und die Kollegen mich hinter der Glastür gut sehen können, und dass ich angefangen habe, kleine »architektonische« Skizzen in den Computer zu tippen, inspiriert von den Anträgen auf meinem Schreibtisch und den Besichtigungen und Abnahmen, bei denen ich manchmal dabeisein darf.

Und dass ich Musik brauche für die Veröffentlichung. Viel Musik. Ungewöhnliche Musik. Musik, die Bilder im Kopf macht.

»Das Labyrinth des Minotaurus«, sagt er nachdenklich.

»Ja. Ich hab dir ein paar Minotaurus-Fragmente geschickt, weil das doch auch mal Thema eurer Schlafkonzerte war und in der Musik vorkommt. Das verbindet uns sozusagen. Am 11. November will ich anfangen.«

»So bald schon?« Mir rutscht das Herz in die Hose, als er das sagt. Ich bin viel zu spät dran mit meiner Suche nach Musik. Aber kleine Soundtracks zu den Geschichten wären mein Traum, und den will ich nicht so einfach aufgeben.

»Was macht«, fragt er, »eine junge Frau wie du als Sachbearbeiterin im Bauamt?«

»Ich hab in Leipzig Geschichte und Orientwissenschaften studiert, aber als Historikerin nichts gefunden. Tja und da … Jedenfalls dürfen meine Kollegen nichts von meinen literarischen Ambitionen wissen.«

Tycho lächelt ein wenig spitzbübisch: »Ich verrat keinem was. Wie viele Texte liegen denn schon vor?«

»Einen ersten Schwung habe ich schon, und ich will immer mindestens drei, vier im Voraus fertig haben. Was die Zuordnung der Musik angeht, würde ich euch völlig freie Hand lassen. Es sollen insgesamt knapp, äh, vierhundert werden.«

Er zuckt bei der Zahl nicht zusammen. Schon mal gut.

»Ich weiß«, fahre ich hastig fort, »dass es urst viel verlangt ist, aber …« Tycho unterbricht mich: »Kein Problem. Wir haben massig Material im Archiv, alles unveröffentlicht. Aber es sind schräge Sachen dabei.«

»Find ich super«, sage ich.

Tycho muss bei so viel Enthusiasmus grinsen: »Das wären dann Drones, Soundscapes, kompositorische Skizzen, Studio-Sessions, Field Recordings, psychoaktive Klangexperimente …«

»Na, das klingt doch alles ganz schau! Was die jeweilige Dauer betrifft, hab ich gedacht, die Musik sollte immer in etwa so lange dauern, wie man zum lauten Lesen braucht, also so zwischen sieben Sekunden und sieben Minuten.«

»Okay. Schick mir einen Text, und vierundzwanzig Stunden später hast du einen Soundtrack dazu. Sollte dir ein Stück nicht zusagen, kriegst du ein anderes.«

Wow. Ich kann mein Glück gar nicht fassen. Meine geplante Veröffentlichung bekommt eine Begleitmusik! Aber …

»Aber was«, frage ich besorgt, «wenn dir meine Texte nicht zusagen?«

Tycho verzieht keine Miene: »Wird nicht passieren. Ich les sie gar nicht, sondern guck nur, wie lang sie jeweils sind.« Er lässt sich nichts anmerken – außer einem kleinen Funkeln in seinen Augen, das mir verrät, dass er das wohl nicht ganz ernst meint.

8/398

18.11.2011

Ich betrete den Korridor. An die Türen zu beiden Seiten sind kleine Bretter genagelt, in die jemand grob mit einem Messer Wörter geritzt hat: »Schlucht« lese ich auf einer, »Horn« auf der zweiten, »Siedebecken« auf der dritten und auf der vierten »Hohlraum«. Auch die Tür am Ende des Korridors ziert ein solches Brett. »Die Auserkorene« steht hier, und mit einem Mal breitet sich ein prickelndes Glücksgefühl in mir aus. Andreia! Ich hatte die Suche schon fast aufgegeben. Ein Zettel ist unter das Brett geklemmt. Sofort erkenne ich ihre schön geschwungene Handschrift. »Bin gleich zurück.« Das »gleich« ist durchgestrichen, und darüber steht nun »einst«. Egal. Ich werde warten. Bestimmt hat sie von ihrem Zimmer aus eine hübsche Aussicht.

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20.11.2011

 

Ich betrete den Korridor und öffne die Tür zum Wohnzimmer. Allerdings ist in diesem Zimmer nichts wirklich das, was es zu sein scheint.

Die Tür zum Beispiel ist in Wirklichkeit ein Buch, das mit Schneemänner taugen selten zum Zigarettenanzünden betitelt ist. Der Sessel ist eine Politesse mit Namen Edna Gierke. Der andere Sessel ist ein Stuhl, der jedoch von der Familie immer ›der Hocker‹ genannt wird. Die Standuhr ist eine Vitrine für die Algenschnitzelsammlung des Patriarchen Wasmuth, der aussieht wie ein Lampenschirm, tatsächlich jedoch der Teppich des Raumes ist.

Das Klavier ist strenggenommen ein Spinett der Firma Gellwiesen, die inzwischen in den USA unter dem Namen Bellowmeadow bekannt geworden ist für ihre exquisiten Bisquits. Die blaue Wandfarbe ist der Geruch von gekochtem Weißkohl, das Gemälde an der Wand ist ein Foto, das Mirna und Kätzchen zeigt und den Titel Frauen und Katzen zuerst trägt. Hab ich was vergessen? Ja, der Mann, der verloren im Zimmer steht, ist in der Tat der Gerichtsvollzieher, er heißt allerdings Herbert Brünnchen und ist durch den Lichtschalter hereingekommen, bei dem es sich um die Durchreiche zur Küche handelt.

Das Wohnzimmer selbst, um auch das noch zu erwähnen, scheint zwar ein umbauter Raum zu sein, ist aber in Wahrheit ein Zeitungsartikel mit der reißerischen Schlagzeile ›Ganz Schwabingen trichinenverseucht?‹

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24.11.2011

Ich betrete den Korridor. Meine alten Gelenke schmerzen, aber ich lasse nicht darin nach, meinen täglichen Kontrollgang zu machen, durch den geheimen Korridor tief hinein in den Olymp, in dem sich eine verborgene Gewölbehalle befindet. Hier liegen, im siebentausendjährigen Schlaf, Elfen, Zwerge, Drachen, Wichtel, Trolle, Einhörner, der Vogel Rok, Zyklopen, Zentauren, Dschinns und Schutzengel. Sie warten hier die Herrschaft der Menschen ab, ungeschlachter, tumber, schwerfälliger Gestalten, die an der Oberfläche der Erde Unordnung machen und Unfrieden stiften.

Manchmal schlägt eines der Alten Wesen die Augen auf und glaubt, schwer zu träumen. Ich setze mich dann dazu und singe eines der alten Wiegenlieder. Nicht mehr lange, und die Zeit der Menschen wird zu Ende gehen. Wenn sie fort sind und die rechtmäßigen Hüter der Erde sich den langen Schlaf aus den Augen gerieben haben, wird mein neuntes Leben sich endlich dem Ende zuneigen, und ich werde ein letztes Mal mit schmerzenden Pfoten durch den Korridor laufen, ihnen voran, um ihnen den versteckten Ausgang zu zeigen, von dem aus sie vom Olymp herabsteigen können.

15/398

25.11.2011

Ich betrete den K… Wer war das?! Wer hat einen Eimer Wasser auf die angelehnte Tür gestellt? Wer wagt es, sich mit mir, dem Ungetüm, einen albernen Scherz wie diesen zu erlauben? Ich schüttle meine strähnige Mähne und brülle, dass es in den Gängen meines Palasts lange widerhallt. Ich finde euch! Niemand kennt das Labyrinth besser als ich, der Menschenfresser.

[Weitere Variationen des Minotaurus-Mythos finden Sie im E-Book Korridorium – Mythenwege, Märchenpfade. Anm. d. Hrsg.]

18/398

28.11.2011

Ich betrete den Korridor. Und, seltsam, aus irgendeinem Grunde steht mir plötzlich das Archetypische der Situation vor Augen – als würde ich mich und meine Situation von außen sehen:

Ich – der selbstbewusste, reflektierende Mensch, das cartesianische, souveräne Ego, sich getrennt von der Welt fühlend und handelnd, sie reflektierend und pro-aktiv.

Das Hineinkommen – als Geburtsvorgang und gleichzeitig willentliche Entscheidung für ein Vorankommen, für Fortschritt und Entwicklung. Mitschwingend hier der Erkenntnisdrang des Menschen, die Lust aufs Abenteuer, die unstillbare Neugier und der unerschrockene Forschergeist, der neue Räume durchmessen und den Herrschafts- und Wissensbereich ausdehnen will bis an die Grenze des Mach- und Denkbaren.

Der Korridor – als Geburtskanal, Durchgangsstation, Lebensweg und Öffnung in die Möglichkeiten der Wahl: Türen zweigen ab und führen in neue Räume, neue Gänge, neue Räume, neue …

Die Vision, die mich so überraschend und unwillkürlich übermannt hat, bricht ab. Ich stehe in einem Korridor. Er ist staubig, lieblos eingerichtet, schlecht gelüftet und düster. Auf einem Sims ein überquellender Aschenbecher. Es stinkt nach kaltem Rauch. Naserümpfend ergreife ich die Flucht.