Seelenfeuer

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»Dann habe ich da noch etwas«, sagte der Pater mit einem pfiffigen Lächeln. Langsam zog er einen in Schweinsleder gebundenen Oktavband hervor.

Die Abbildungen der Pflanzen in dem Buch waren so farbenfroh und wirklichkeitsgetreu, dass Luzia glaubte, die einzelnen Kräutlein riechen zu können.

»Ich habe doch gesehen, wie beim Betrachten dieser Seiten deine Augen geleuchtet haben. Jetzt soll das Buch dir gehören. Es soll dich immer an unsere gemeinsame Zeit in Seefelden erinnern.«

»Ich danke Euch von Herzen«, sagte Luzia gerührt und drückte die Hand des Paters.

»Gott schütze dich, mein Kind, und nun macht euch endlich auf den Weg.«

Die Holzkiste wurde neben Luzias Reisekiste auf den Karren geladen.

»Habt tausend Dank!

»Wir kommen dich besuchen. Vielleicht schon zu Martini!«

Luzia nickte. Aber sie wusste ganz genau, dass weder Elisabeth noch Jakob gern die weite Strecke zurücklegen würden.

»Jetzt aber los!«, rief Matthias ungeduldig und schwang sich auf den Bock. Er reichte Luzia die Hand und zog sie auf den Platz neben sich. Sie war ihm dankbar für seine Eile, denn länger hätte sie diesen Abschied nicht ertragen. Jakob reichte ihr den geflochtenen Korb, in dem Nepomuk saß.

Luzia biss sich auf die Unterlippe. Als die Ochsen den Karren anzogen, atmete sie hörbar aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie schon eine ganze Weile den Atem angehalten hatte.

Sie winkte, bis das Haus ihrer Zieheltern hinter den wenigen Häusern verschwunden war.

4

Matthias lenkte den Ochsenkarren geschickt über die festgefahrenen Pfade. Meersburg mit seiner bulligen Burganlage, den hohen Zinnen und dem Wohnturm hatten sie rasch hinter sich gelassen. Bald säumten Felder ihren Weg. Der leichte Wind hauchte den Apfelbäumen seinen Atem ein und sorgte dafür, dass die Blätter im Wind raschelten. Dazwischen blitzte azurblau der wilde Rittersporn und vereinzelt ein paar Weidenröschen. Auf manchen Feldern wurde so spät im Jahr noch Dinkel oder Einkorn geschnitten. Oft winkten ihnen die Leute, wenn sie vorbei fuhren, dann winkten sie zurück, und Luzia spürte, wie ihr das Herz wehtat. Sie schwieg und war dankbar, dass auch Matthias nichts sagte. Einzig das gleichförmige Rumpeln der Räder war zu hören. Die Wege waren trocken, staubig und furchtbar holprig. Schon nach kurzer Zeit fand Luzia alle erdenklichen Sitzpositionen so unbequem, dass ihr immer wieder ein leises Stöhnen über die Lippen kam. Jeder kleine Stein fühlte sich bald wie ein Fels an und die ausgefahrenen Spuren des Fahrwegs erweckten den Eindruck als seien es tiefe Täler. Sie dankte Matthias im Stillen, weil er ihre Sitzfläche mit einem Schaffell gepolstert hatte. Auf dem hölzernen Kutschbock hätte sie noch mehr gelitten.

Eine Fahrt mit dem Ochsenkarren war auch aus einem anderen Grund kein Honigschlecken, denn die Ochsen zogen die Fliegen an. Sie schlugen mit den Schweifen, um sie zu vertreiben, und dann versuchten die lästigen Störenfriede in Richtung Kutschbock ihr Glück.

Matthias, der ab und an einen scheuen Blick zu Luzia warf, hätte ihr mit Freuden eine angenehmere Reise geboten. Wenigstens mit einer harmlosen Plauderei hätte er sie gern abgelenkt. Doch wollte ihm heute nichts Gescheites einfallen. Deshalb hielt er vorerst lieber den Mund.

Matthias hatte sich für die alte Straße entschieden. Diese führte sie ab Meersburg ins Landesinnere und verlief zwischen Bermatingen und Markdorf. Auf beiden Seiten säumten lichte Mischwälder ihren Weg. Hier im Wald war es zwar angenehm kühl, aber durch die anhaltende Trockenheit der letzten Wochen schluckten sie den Staub, den die Hufe der vor ihnen gehenden Tiere aufwirbelten. Kurz vor Markdorf waren sie von einer dicken Staubschicht überzogen. Dabei waren sie gerade einmal drei Stunden unterwegs.

»Da vorne weiß ich ein schönes Plätzchen«, sagte Matthias in die Stille hinein und deutete auf eine kleine Anhöhe, wo sich eine Wegkreuzung befand. Dort gabelte sich der Weg. Links führte die Straße in das kleine Bermatingen. Der hohe Wehrturm, der schon eine Weile sichtbar war, gehörte mit zu den ältesten Türmen in der Gegend. Mächtig wachte er über die rebenumwachsene Siedlung. An der Kreuzung spendete eine große Eiche Schatten. »Ich glaube, da machen wir Rast. Dir würde ein Schluck Wein sicher guttun.«

Luzia fuhr aus ihren Gedanken auf. Erstaunt bemerkte sie, dass sie den See weit hinter sich gelassen hatten.

»Brauchen die Ochsen Wasser?«, wollte Luzia wissen. Offensichtlich hatte sie ihm nicht zugehört.

»Nein, aber du brauchst ein wenig Wein«, erwidert Matthias mit einem Lächeln.

Wahrscheinlich bemerkt sie gar nicht, wer den Karren lenkt, dachte er. Als der Meister ihm vor einigen Tagen die Begleitfahrt aufgetragen hatte, konnte Matthias sein Glück kaum fassen. So durfte er immerhin noch ein paar kostbare Stunden mit Luzia allein verbringen. In ihrer Gesellschaft hätte er ohne Murren auch eine Ladung Dung von Seefelden nach Ravensburg kutschiert. Er hatte sich bereits vorgestellt, wie er während der mehrstündigen Fahrt mit ihr lachen und plaudern würde. In seinen Träumen hatte er sie sogar gefragt, ob sie nicht als seine Frau weiterhin in Seefelden bleiben wollte. Stattdessen saß sie nun stumm wie ein Fisch neben ihm.

Gott, er könnte sich ohrfeigen! Er hätte ihr schon vor langer Zeit einen Antrag machen sollen, und nicht immer nur um den heißen Brei herumreden. Vielleicht hätte Luzia abgelehnt. Aber dann hätte er einfach nicht nachgeben dürfen. Zur Hölle! Hier und jetzt löste sich seine letzte Gelegenheit in Rauch auf. Wenn er an Luzias wunderbare Rundungen dachte, spürte er ein leises Ziehen in den Lenden. Warum nur fiel ihm jetzt nichts Geistreiches oder Amüsantes ein, um sie aufzuheitern? Sollte er einfach übers Wetter reden? Oder über die Biene, die gerade vorbeibrummte, oder über, ach zum Kuckuck, was für einen maulfaulen Ochsen gab er denn heute?

Doch Luzia spürte seine Beklommenheit gar nicht. Sie kämpfte immer noch gegen den Abschiedsschmerz. Erst als sich ein tiefes Schluchzen aus ihrer Brust löste und ihre Kehle emporstieg, merkte sie, dass ihre Wangen bereits tränennass waren.

Statt sich weiterhin Gedanken über eine möglichst einfallsreiche Unterhaltung zu machen, fasste sich Matthias schließlich ein Herz.

»Wir machen da vorn unter der Eiche eine Pause, dann kannst du dich ein wenig ausruhen!« Ohne eine Antwort abzuwarten, lenkte er die Ochsen geschickt in den Schatten.

Von ihrem Kummet befreit, machten sich die Tiere gleich über das spärliche Gras her, welches in braunen Halmen zu ihren Hufen wuchs.

Matthias half Luzia vom Wagen. Sie griff nach dem Reisekorb, in dessen Inneren sich der maunzende Nepomuk befand. Als sie den Korb öffnete, sprang ihr ein schwarzer Blitz entgegen.

»Na, da hat es aber jemand eilig!«

Luzia verstand den Kater nur zu gut. Auch ihr taten alle Glieder weh. Sie rieb sich den schmerzenden Rücken, streckte und dehnte sich wie Nepomuk nach dem Mittagsschlaf.

»Komm, setz dich hier in den Schatten. Die Rast wird dir guttun. Sieh nur!« Er wies mit dem Finger, und Luzia sah in weiter Ferne den Bodensee glitzern. Wie eine Perle lag er zu ihren Füßen. Eingebettet von dunkelgrünen Wäldern und den schneebedeckten Gipfeln der Eisriesen. Luzia ließ ein letztes Mal ihren Blick schweifen, dann atmete sie tief durch und schickte in Gedanken einen letzten Gruß in die alte Heimat.

Weil sie sich danach ohne Widerworte auf das Lager setzte, wurde Matthias etwas zuversichtlicher. Er reichte ihr einen kleinen Lederschlauch, und zu seinem Erstaunen nahm Luzia einen großen Schluck von dem köstlichen Bodenseewein. Dann noch einen und schließlich noch einen. Als sie den Weinschlauch absetzte, waren ihre Wangen bereits etwas rosiger. Auch ihre kalkweißen Lippen hatten wieder Farbe bekommen.

»Danke, das tut gut«, sagte sie und strich sich mit den Fingern durch das Haar.

»Fällt dir der Abschied von Seefelden auf einmal doch so schwer?«, fragte Matthias vorsichtig, während die Hoffnung einen zarten Keim in seine Brust pflanzte.

Luzia nickte abwesend, bevor sie einen weiteren Schluck Wein nahm.

»Möchtest du noch einmal darüber schlafen? Ich meine, es wäre ein Leichtes, umzukehren und …«, platzte es aus ihm heraus. Die letzten Worte schluckte er dann aber doch hinunter.

»Nein, es geht nicht, ich werde diesen Weg zu Ende gehen«, antwortete Luzia mit ernster Miene.

»Aber wenn es dir doch so schwerfällt!«

Luzia schüttelte den Kopf. »Morgen oder an einem anderen Tag wäre die Sache nicht anders. Letztlich muss ich die Gelegenheit wahrnehmen, denn eine weitere wird sich mir nicht bieten, und auf Dauer reicht die Arbeit in Seefelden für zwei Hebammen einfach nicht. Elisabeth war schon lange nicht mehr in den Häusern. Das Geld wurde immer knapper. Sie hätten mich niemals weggeschickt, doch sie haben es nicht verdient, heute nicht zu wissen, was sie morgen essen sollen.« Sie wandte sich ihm zu. »Aber ich freue mich, dass wir diese Reise gemeinsam machen!«

Das unerwartete Kompliment entlockte Matthias ein Lächeln und es bestärkte ihn in seinem Vorhaben, Luzia zu fragen, ob sie …

»Zudem finde ich es reizvoll, mich auf etwas Neues einzulassen. Ich bin gespannt, was mir Ravensburg bietet.«

Seefelden war ihr also zu langweilig, schoss es ihm durch den Kopf.

»Hast du denn gar keine Angst vor der großen Stadt?«, wollte er kleinlaut wissen. Jetzt war er wieder auf der Hut.

Luzia zog die Schultern hoch.

»Nein, ich glaube nicht«, sagte sie mit einem Schulterzucken. Und obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug, ließ sie sich nichts anmerken.

Der schwere Bodenseewein hatte Luzia müde gemacht. Sie hätte noch ewig auf der Decke im Schatten sitzen können. Sie lehnte sich zurück und schloss halb die Augen. Bienen suchten mit dicken, gelben Beinchen auf den wilden Wiesenblumen nach Nektar. Die leichte Brise ließ die dünnen Stängel schaukeln und die bunten Blütenköpfe erzittern. Der leichte Wind trug den erdigen Duft von Baldrian und anderen späten Wiesenkräutern zu ihnen heran. Schmetterlinge in vielen bunten Farben schwebten von Blume zu Blume. Eine dicke Hummel brummte träge an ihnen vorbei.

 

Wenig später setzten sie ihre Fahrt fort. Die Ochsen zogen kräftig und das Gefährt nahm schnell an Fahrt auf. Kurze Zeit später erreichten sie Markdorf. Die kleine Stadt war dank ihres Weinbaus recht wohlhabend und ganz hübsch. Vollständig von Reben umgeben, lag sie am Fuße des Gehrenbergs. Auf der kleinen Anhöhe thronte die feine Sommerresidenz der Konstanzer Fürstbischöfe.

Zum Markttag drängten etliche Gefährte durch das Untertor in die quirlige Stadt und so waren sie froh, die Stadt umfahren zu können.

Matthias wollte unbedingt vermeiden, dass Luzia wieder in ihr brütendes Schweigen verfiel. Durch ihre Zugänglichkeit ermutigt, wagte er eine Frage zu stellen.

»Warum bist du eigentlich nicht bei deiner Mutter in Ravensburg geblieben? Wir kennen uns schon so viele Jahre und ich weiß auch allerhand von dir, aber von ihr hast du mir nie erzählt.« Gespannt wartete er darauf, wie sie reagieren würde.

Luzia atmete tief ein.

Matthias befürchtete schon, dass sie ihn wegen seiner Neugierde zurechtweisen würde, aber sie wandte sich ihm zu. Er war schließlich wie ein Bruder für sie, warum sollte sie ihm also die Wahrheit vorenthalten? Zudem war die Mutter nun tot, was es Luzia leichter machte, über sie zu sprechen.

»Mutter und ich haben in der Unterstadt gewohnt, nahe der hohen Stadtbefestigung. Die Krumme Gasse war mein Zuhause, oder sagen wir lieber: Dort stand mein Bett.« Die Erinnerung erfasste sie wie ein Wirbelsturm. Luzia sah wieder die schmutzige Gasse mit den winzigen, aneinander gedrängten Häusern vor sich. Sie sprach mehr zu sich selbst als zu Matthias.

»Der Wind pfiff Tag und Nacht durch die Ritzen, und in meiner Erinnerung habe ich vom Herbstmond bis weit in den Ostermond hinein gefroren. Manchmal konnte ich weder Finger noch Zehen fühlen. Es kam immer wieder vor, dass ich meine Mutter tagelang nicht zu Gesicht bekam. Wenn dem so war, gab es auch nichts zu essen.«

»Und dein Vater?« Matthias klang unsicher.

Luzia schüttelte den Kopf. »Mutter war nie verheiratet.«

Matthias wagte einen erstaunten Blick.

»Ich bin ein Kind der Sünde. Oder ein Bastard, wenn dir das besser gefällt!«

Er erschrak über die plötzliche Heftigkeit ihrer Worte. »Das ist nicht so schlimm, wie du denkst«, wollte er Luzia trösten, doch sie entzog ihm das Wort mit einer Endgültigkeit, die keine Widerworte zuließen.

»Glaub mir, es ist schlimm! Und dass ich nicht das einzige Sündenkind bin, weiß ich durchaus. Aber die Kirche verspricht uns bereits auf Erden die Hölle. Die Pfaffen hassen uns. Und manchmal wollen uns sogar unsere eigenen Mütter loswerden.«

Matthias erschrak.

»Wie kommst du auf den Gedanken, deine Mutter wollte dich loswerden?« Matthias wusste, dass die Frage dumm war. Seine Eltern hatten ihn zwar mit eiserner Hand erzogen, vor allem der Vater, dennoch hatte er sich während der Jahre seiner Kindheit im Großen und Ganzen geliebt gefühlt.

»Als ich alt genug war, mit acht Jahren, hat sie es mir selbst gesagt. Es war an meinem Geburtstag. Der Kohlkopf, den ich nach Hause brachte, war innen matschig und verfault, die Rüben waren holzig und das Brot alt. Mutter war wütend auf mich und meinte, dass Herbstkatzen noch nie zu etwas getaugt hätten. Das Beste wäre noch immer gewesen, sie bei Zeiten in der Schussen zu ersäufen.« Luzias Stimme wurde immer leiser, bis sie nur noch ein Flüstern war.

Matthias schalt sich einen Dummkopf, weil er Luzia nach ihrer Mutter gefragt hatte. Was hatte er da nur angerichtet? Aber hätte er das auch ahnen können? Vorsichtig sah er zu ihr herüber, doch sie war in ihre Erinnerungen versunken.

Inzwischen empfand Luzia weder Zorn noch Ärger über die Mutter. Eher Hilflosigkeit und Trauer. Gerne hätte sie ein letztes Mal mit ihr gesprochen. Von Frau zu Frau. Doch diese Möglichkeit gab es nun nicht mehr. Nicht in diesem Leben.

Hinter ihnen auf dem Wagen maunzte der Kater kläglich und versuchte sich aus dem Korb zu befreien. »Ich weiß, du hast keine Lust mehr, bald haben wir’s ja geschafft, und Matthias fährt uns doch, sagen wir, hmm … einigermaßen sicher, oder bist du anderer Meinung?« In ihrer Stimme schwang ein wenig ihrer üblichen Heiterkeit mit.

Matthias musste über Luzias Worte grinsen. »Also fahre ich euch nur einigermaßen sicher?«

Luzia nickte, und endlich zeigte sich wieder ein kleines Lächeln auf ihren schönen Zügen.

»Geht es dir jetzt besser?«

Sie nickte. Abermals huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Und hast du jetzt genug von meinen düsteren Erinnerungen?«

Matthias Blick wurde ganz sanft. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte nur nicht aufdringlich erscheinen. Aber wenn du mir noch mehr über deine Zeit in Ravensburg erzählen möchtest, würde mich das sehr freuen.«

Luzia sah ihn verwundert an. Soviel Ernsthaftigkeit war sie von ihm nicht gewöhnt. Weil es ihr guttat, sich die schlimmen Erinnerungen von der Seele zu reden, sprach sie weiter. Sie begann damit, dass ihre Mutter genau wie Elisabeth Hebamme gewesen war. »Aber die Frauen mochten sie nicht besonders. Mutters Worte wie auch ihre Hände waren immer grob.«

»So wärest du also in jedem Fall in ihre Fußstapfen getreten?«, fragte Matthias und klemmte seine Locken hinters Ohr.

Luzia schüttelte den Kopf. »Nein, Mutter glaubte, dass ich nicht zur Hebamme tauge. Die Herbstkatze – du erinnerst dich?«

Matthias sah die Trauer in ihren blauen Augen.

»Sie wollte mich als Magd auf einen großen Hof schicken. Hauptsache, aus den Augen. Doch ich wollte schon immer den Frauen in ihrer schwersten Stunde beistehen.«

Matthias nickte verständnisvoll. »Ich weiß, was du meinst. Mutter erzählt oft, dass ich bereits mit einem Schmiedehammer in der Hand zur Welt gekommen bin. Und es stimmt, seit ich mich erinnere, wollte ich Schmied werden. Mit Feuer und Wasser die Unbeugsamkeit des Eisens bezwingen. Ihm eine neue Form verleihen. An der Esse gelten andere Gesetze und manchmal scheint die Eisenschmelze fast wie Magie!«

Er bemerkte Luzias forschenden Blick und wurde über und über Rot.

»Ich glaube, wir sollten uns langsam sputen, die Stadttore bleiben nicht die ganze Nacht offen«, sagte er schnell und trieb die Ochsen mit dem Stock an.

Nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren, räusperte sich Matthias umständlich. »Selbst wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mir deine Mutter beim besten Willen nicht vorstellen. Was ich damit sagen will … Elisabeth kenne ich seit dem Tag meiner Geburt. Sie ist eine Seele von Mensch. Deinen Onkel, den Apotheker, wie heißt er gleich …?«

»Basilius«, half ihm Luzia.

Matthias nickte. »… Basilius kenne ich von seinen Besuchen in Seefelden, auch er scheint ein guter Mensch zu sein. Doch wie soll ich mir eine Frau vorstellen, die …, die so wenig Herz hatte?«

Luzias Blick wurde hart. »Ja, da hast du wohl recht. Herz hatte sie wahrhaftig keins. Doch dafür war sie schön und von den Männern begehrt. Wenn sie ihr weizenblondes Haar offen trug, reichte es ihr lang und seidig bis zur Hüfte. Ich kenne niemanden, der sie nicht schön gefunden hätte. Nur ihr Herz war aus Stein. Ich erinnere mich an die junge Gisla, sie wohnte am anderen Ende der Stadt. Unverheiratet und guter Hoffnung, wie man so schön sagt. In ihrer Verzweiflung versuchte sie, ihre Schwangerschaft zu beenden und das Kind in ihrem Leib zu töten. Gisla kam in der Nacht zu meiner Mutter. Sie war voller Blut, ihr Kleid, ihre Schuhe. Es rann ihr die Beine hinab. Ich weiß nicht, was sie genommen oder ihrem Leib angetan hatte. Jedenfalls hatte sie sich in der Hoffnung auf Mutters Hilfe mit letzter Kraft zu unserem Haus geschleppt.«

Luzia sah, wie sich Matthias’ Blick verdunkelte.

Männer konnten sich im Allgemeinen nicht vorstellen, zu welch schrecklichen Mitteln manche Frauen griffen, um eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Aber was blieb ihnen schon anderes übrig? Die eigenen Väter saßen ihnen im Nacken, die Väter der Kinder leugneten jede Schuld, die Gemeinde schmähte sie. Und die Kirche brandmarkte die ledigen Mütter als Sünderinnen.

»Außer einem Leinen gab Mutter Gisla nichts. Dafür empfahl sie ihr zu beten, dass die Blutung zum Stillstand kommen möge, damit niemand Verdacht schöpfte. Stell dir das einmal vor! Schließlich war Mutter Hebamme!« Luzia merkte gar nicht, wie ihre Worte immer lauter geworden waren. Erst Matthias’ Hand auf ihrem Arm ließ sie innehalten.

»Diese furchtbare Nacht werde ich wohl nie vergessen.«

Er nickte. »Was ich überhaupt nicht verstehe … nun, sie selbst war ja auch nicht verheiratet, als du zur Welt kamst, oder?«

Luzia nickte. »Dafür hat sie dann auch ein Leben lang gebüßt. Nie mehr hat sie auch nur einen Mann angeschaut. Der Pfarrer hat ihr einen Bußgürtel gegeben. Dieses mit scharfen Stacheln versehene Ding trug sie oft tagelang unter ihrem Kleid. Ihr Herz war einfach aus Eis und ihre Seele taub.«

»Was wurde dann aus Gisla?«, wollte Matthias wissen.

»Mutter schickte sie nach Hause. Gislas Vater entdeckte die blutgetränkten Laken, daraufhin schleppte er seine Tochter zum Pfarrer. Zuerst veranlasste der heilige Mann, dass die junge Frau an den Pranger musste, anschließend trieben sie die Büttel mit Ruten durch die Stadt.« Luzia machte eine lange Pause. »Ein paar Tage später zog man Gislas Leichnam aus der Schussen. Als Selbstmörderin hat man ihr sogar ein Begräbnis in geweihter Erde verweigert. Mutter war sich keiner Schuld bewusst, für sie kam die Entscheidung von Gott.«

Matthias Blick verriet mehr, als er sagen konnte. Doch insgeheim fragte auch er sich, warum sich Gisla diesem Mann so leichtfertig hingegeben hatte. Die Kirche gestand derartige Erfahrungen vor der Ehe lediglich dem Mann zu und für Weiber, die sich auf ihr Werben einließen, gab es ein paar deftige Worte. Doch seine Meinung wollte er lieber für sich behalten.

Es ging schon gegen den späten Nachmittag, und ihre Fahrt führte sie immer weiter ins Landesinnere. Die vorbeiziehende Landschaft veränderte sich langsam, die Obstbäume wurden immer seltener, dafür fuhren sie an dunklen Nadelwäldern vorbei. Luzia hoffte, Ravensburg bald zu erreichen. Sie fühlte sich völlig zerschlagen. Staub und Schweiß überzogen ihre Haut mit einer klebrigen Schicht. In seinem Korb miaute Nepomuk kläglich.

»Was hältst du davon, wenn du mir zum Schluss unserer Reise noch etwas von dir erzählst? Sieh es als Abschiedsgeschenk«, forderte Luzia Matthias nach einer Weile auf.

An Stelle einer Antwort lenkte er die Ochsen an den Wegrand. Sein Blick wirkte unsicher, und er räusperte sich umständlich.

»Eigentlich habe ich mir das alles etwas anders vorgestellt«, begann er stockend und nahm seine Kappe ab. Er rieb vor Aufregung seine Hände und zwang die braunen Locken hinter die Ohren. »Weißt du«, sagte er und blickte auf die Kruppe der Ochsen vor ihm. »Eigentlich wollte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber die Zeit rennt mir einfach davon. Nein, also, ich hätte schon viel früher … Ich finde, du solltest wissen, dass dir noch eine andere Möglichkeit bleibt … dass du nicht nach Ravensburg musst, ach, zum Henker«, schimpfte er und scharrte mit den Füßen auf dem Holz des Wagens. »In solchen Dingen war ich noch nie besonders gut. Aber was ich dir sagen, nein, was ich dich fragen wollte: Willst du mich heiraten?« Jetzt war es heraus.

Luzia schluckte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie glaubte, Matthias’ Gefühle für sie seien ebenfalls eher geschwisterlich. Was sollte sie jetzt sagen? Während sie sich räusperte, fühlte sie Matthias’ erwartungsvollen Blick auf sich.

»Das ist wirklich sehr nett von dir, und ich fühle mich sehr geschmeichelt«, begann sie. »Ich weiß, das halbe Dorf dachte, dass wir zusammengehören. Aber ich möchte noch nicht heiraten.« Und sicher keinen Kindskopf wie dich, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Aber ich weiß, dass auch du mich liebst, ich kann es fühlen«, gab Matthias heftig zurück.

»Doch es ist zuwenig für eine Ehe. Mir ist es zuwenig!«

Matthias verstand Luzia nicht. Sie empfanden mehr für einander als die meisten Eheleute, die er kannte. Was erwartete sie denn? Er nahm ihre Hand und legte sie auf sein Herz. »Dieses Herz schlägt nur für dich.«

 

Luzia wäre am liebsten im Erdboden versunken. Selten hatte sie sich so unbehaglich gefühlt. »Auch du wirst in meinem Herzen immer einen Platz haben – einen Ehrenplatz. Nur schlägt es für dich wie für einen Bruder.«

Er nickte stumm und gab Luzias Hand wieder frei. Dann lenkte er die Ochsen wieder auf den Weg und trieb sie an. Er sah starr geradeaus, während sich ein Orkan in seiner Brust Stück um Stück von seinem Herzen holte und es in ein Meer von Trauer zog. Wenigstens hatte er es versucht, tröstete er sich. Wenigstens das.

Für den Rest des Weges schluckten sie ihre Worte hinunter.

Bis Ravensburg war es jetzt nicht mehr weit. Schon kamen ihnen kleine und größere Wagen entgegen. Zumeist Bauern, die ihre Waren in die Stadt gebracht hatten.

»Sind diese Wagen Teil der Ravensburger Handelsgesellschaft?«, wollte Matthias wissen, als einige große Planwagen, die das Wappen der Stadt trugen, an ihnen vorüberfuhren. Seine Stimme klang müde, ansonsten ließ nichts seinen Schmerz erahnen.

Luzia nickte. Sie wusste, wie sehr sie ihn enttäuscht hatte, und freute sich, dass er wieder das Wort an sie richtete.

»Sie verkaufen ihre Leinwand bis ins ferne Spanien. Gleichzeitig bringen sie Gewürze, Felle und anderes nach Ravensburg. Von dort werden diese Waren dann weiterverkauft. Seit dreihundert Jahren besitzt Ravensburg das Stadtrecht und schon um 1270 wurde es zur freien Reichsstadt erklärt. Seither unterhält Ravensburg eine Münze und eine eigene Gerichtsbarkeit.«

Hinter einer Biegung tauchte endlich das Frauentor vor ihren Augen auf. Samt der hohen, grob gemauerten Stadtmauer war es Teil der wehrhaften Stadtbefestigung, die Ravensburg umgab. In unmittelbarer Nähe glitzerte der Grüne Gefängnisturm in der Sonne. Durch die grünglasierten Ziegel auf seinem Dach entstanden im Sonnenlicht eigenartige Muster. Sie jagten Luzia einen kühlen Schauer über den Rücken.

Schon von Weitem konnten die beiden sehen, dass für die Torwache ein langhaariger, recht ungepflegter Bursche verantwortlich war. Mit wütenden Bewegungen stach er in die Säcke, die auf einem wackeligen Handkarren standen und Rüben und Äpfel für eines der großen Patrizierhäuser enthielten. Der Bauer und seine junge Frau, denen das Gefährt gehörte, standen mit gesenktem Kopf daneben. Mit Entsetzen sah Luzia, dass auf dem Karren auch ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren saß. Nur wenige Zentimeter gingen die Stiche der Hellebarde an dem Kind vorbei. Das Mädchen schrie vor Angst. Schließlich rannte die Mutter zu ihm und riss das Kind vom Wagen herunter, was den Wachmann nur noch wütender machte. Mittlerweile war Matthias’ Ochsenkarren in Hörweite, und sie konnten vernehmen, wie der Torwächter die Leute anschrie:

»Aufsässige Bauern können wir in der Stadt nicht brauchen! Und faule Äpfel schon gar nicht!« Wieder und wieder stach er mit der Spitze seiner Hellebarde auf die Säcke ein.

Und dann bemerkte er Matthias und Luzia, die das Tor fast erreicht hatten.

Der Torposten drehte sich zu ihnen herum, und Luzia konnte seine blutunterlaufenen Augen sehen. Er hatte offensichtlich getrunken und war über die Maßen streitlustig. Mit einem gebellten Befehl wies er den Bauern an, seinen kleinen Karren zu wenden und ihn seitlich vom Tor abzustellen.

Dann waren sie an der Reihe. Matthias hielt den Wagen auf der Mitte des Weges an, wo der Torwächter ihnen breitbeinig die Weiterfahrt versperrte.

»Woher? Wohin?«, wurden sie barsch gefragt.

Luzia glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Wollte dieser unverschämte Kerl nicht einmal grüßen? Nun, dann musste sie es eben versuchen. Mit ihrem schönsten Lächeln sagte sie:

»Seid gegrüßt, Torwächter! Wir möchten heute Abend noch in das schöne Ravensburg.« Luzia erstickte beinahe an ihrer Freundlichkeit. Statt salbungsvoller Worte wollten ihr ein paar Zurechtweisungen über die Lippen kommen. Ihre Laune stand auf Sturm.

Der Torwächter lachte blöde, dabei entblößte er eine Reihe schadhafter Zähne. Der rechte Schneidezahn fehlte. »So, wollt ihr also? Da seid ihr heute nicht die Ersten. Was habt ihr überhaupt in unserer Stadt zu schaffen?«, bellte er gereizt.

Er trat einen Schritt an den Karren heran, auf die Seite, wo Matthias saß, aber er sah nicht ihn an, sondern musterte Luzia von oben bis unten. Ein hinterhältiges Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Auf einmal kroch Luzia die Angst den Rücken hinauf und ließ ihr eine Gänsehaut wachsen.

»Wisst ihr eigentlich, dass die Roten einen extra Zoll zu entrichten haben?«

Luzia erschrak und bedeckte ihr Haar mit dem dünnen Schultertuch. Mit so einem hatte sie es also zu tun. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Matthias’ Kiefer spannte und er wütend die Zähne aufeinanderbiss. Seine Rechte ballte sich zur Faust.

Luzia legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Dabei schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Rasch sah sie sich um. Soviel sie wusste, bewachten die Posten das Tor immer zu zweit. Vielleicht wäre der Kollege dieses Grobians etwas zugänglicher. Doch außer den Bauersleuten, die ergeben neben ihrem Wagen standen, war niemand zu sehen. Nicht einmal die Bettler, die sonst vor den Toren lagen und um Almosen flehten.

»Absteigen!«, befahl der Wachmann rüde und rüttelte am Wagen.

Matthias Gesicht wirkte so angespannt, dass die dicke, blaue Ader, die über seiner Schläfe verlief, deutlich hervortrat.

»Bleib ruhig!«, flüsterte Luzia ihm zu. Sie hätte ebenso gern wie Matthias eine Faust im Gesicht des unverschämten Mannes gesehen. Aber das würde ihnen schlecht bekommen. Sie mussten ruhig Blut bewahren.

Sie war bereits vom Wagen gestiegen, aber Matthias ließ sich unendlich Zeit.

»He! Wird’s bald, oder soll ich nachhelfen?« Der Wachmann ging zum hinteren Teil des Wagens, öffnete ungefragt die Reisetruhe und stocherte mit seiner Hellebarde hinein. »Was ist das für ein Gerümpel?«

»Nun, da ich vorhatte, eine Bürgerin der Stadt zu werden, komme ich mit einem Teil meines Hausstandes«, brachte Luzia mühsam hervor. Ihre Hände zitterten vor Wut.

»So schnell geht das nicht. Zuerst muss ich prüfen, was ihr für einen Mist mitbringt. Also weg da!« Der grobe Kerl schwang seine Waffe, um sie und Matthias auf Abstand zu halten. Dann richtete er die Spitze seiner Hellebarde auf den Reisekorb. Dahinter fauchte Nepomuk. Der Torwächter wich etwas zurück, hatte sich aber gleich darauf wieder in der Gewalt.

»Was führt ihr da mit? Teufelszeug, Hexenwerk!«, spie er aus und spuckte zu Boden.

»Das ist Nepomuk! Nur eine gewöhnliche Katze.« Luzia konnte eine gewisse Schadenfreude in ihrer Stimme nicht verbergen.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte der Wächter ins Innere des Weidenkorbs.

»Und er wird mich begleiten!«, stellte Luzia entschieden fest, dabei klang ihre Stimme um einiges schärfer als beabsichtigt. Die Blicke des Wächters wanderten vom Reisekorb zu Luzia und wieder zurück. Wenn du es wagst, ihn anzurühren, schlage ich dir auf deine dreckigen Finger, dachte sie zornig und stemmte ihre Fäuste in die Hüften.

»Eine schwarze Katze? Ich hasse Katzen! Aber die Schwarzen ganz besonders. Eine rote Hexe mit einer schwarzen Katze!« Seine Augen glitzerten gefährlich.

Luzia las in ihnen die Lust zur Gewalt. »Dann lasst uns passieren und Ihr müsst seinen Anblick nicht länger ertragen«, entgegnete sie so ruhig wie möglich.

Der Wächter grinste. Mit einem Ruck öffnete er den Korb und wollte nach dem Tier greifen. Nepomuk hob fauchend seine Pfote, doch der Kerl wollte sich dadurch nicht beeindrucken lassen.

Mit einem Sprung, den nur eine Katze zustande bringt, landete der Kater auf der Schulter des Mannes. Dort bohrte er seine Krallen in das dicke Lederwams, wobei er ein Stück des ungeschützten Halses erwischte.