Mia und die Schattenwölfe

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Während der Mahlzeit erzählte Sophie, die ein Internat außerhalb des Magischen Waldes besuchte, was sie im letzten Schuljahr alles erlebt hatte. Mia berichtete im Gegenzug von den Neuigkeiten bei sich und ihren Eltern.

Auch wenn es eine lustige Runde war und Mia sich sehr wohlfühlte, bedauerte sie doch ein bisschen, dass Onkel Norbert, Sophies Vater, nicht dabei sein konnte. Ihn hatte sie nämlich auch schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.

Doch auch zu dritt versprachen die kommenden sechs Wochen, eine äußerst aufregende Zeit zu werden.

Heute war Mia allerdings von der langen Fahrt und den vielen neuen Eindrücken sehr müde. Deshalb verabschiedeten die beiden Mädchen sich bald nach dem Abendessen von Tante Anna und gingen zusammen nach oben. Nachdem sie sich die Zähne geputzt und umgezogen hatten, schlüpften sie in ihr gemeinsames Bett. Zufrieden kuschelte Mia sich neben Sophie in die Decke. Jetzt endlich traute sie sich, eine Frage zu stellen, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte: „Sag mal, Sophie, hast du eigentlich einen Besen, auf dem du fliegen kannst?“

Sophie musste kichern. „Nein, leider nicht. Ich habe mir schon oft gewünscht, diese weit verbreitete Vorstellung würde stimmen. Aber das tut sie bedauerlicherweise nicht. Also muss ich meistens stinknormal zu Fuß gehen, so wie jeder andere auch.“

Mia war ein wenig enttäuscht, weil sie insgeheim gehofft hatte, mit Sophie durch die Lüfte fliegen zu können. Das war schon immer ein großer Traum von ihr gewesen. Andererseits war sie sich aber sicher, dass sie andere, genauso schöne Dinge gemeinsam erleben würden.

Dann fiel Mia noch etwas ein, über das sie schon nachgrübelte, seit sie realisiert hatte, was ihre Mutter gestern über magische Fähigkeiten gesagt hatte: „Kannst du eigentlich auch zaubern?“

Sophie seufzte tief und antwortete dann: „Das weiß ich im Moment noch nicht und auch sonst niemand. Magische Fähigkeiten zeigen sich erst im Alter von etwa 16 Jahren. Es kann sein, dass sie sich bei mir entwickeln. Es kann aber genauso gut sein, dass ich niemals werde zaubern können. Übrigens ist es genauso gut möglich, dass du mit 16 entdeckst, magisch zu sein! Schließlich kommst du, genau wie ich, aus einer Familie, in der diese Eigenschaft veranlagt ist.“

Sofort schlug Mias Herz schneller. Diese Aussicht war einfach zu schön, um wahr zu sein! Was würde sie dafür geben, später einmal zaubern zu können! Allein die bloße Vorstellung verzückte Mia.

Während sie noch über magische Fähigkeiten, Feen, sprechende Bäume, schnüffelnde Türen und laufende Stühle nachdachte, fiel sie schließlich in einen tiefen Schlaf.

Besuch bei Lindara

Am nächsten Morgen erwachte Mia herrlich ausgeruht. Sie drehte sich zu ihrer Cousine um und sah, dass diese noch schlief. Es war zwar sehr gemütlich im Bett und Mia hätte sich gerne noch ein Weilchen in die Decke gekuschelt. Gleichzeitig musste sie aber unheimlich dringend auf die Toilette und so stand sie schließlich auf.

Leise, um Sophie nicht zu wecken, schlich sie aus dem Zimmer hinaus und ging ins Bad.

Dort angekommen, klappte sie den Klodeckel hoch und wollte sich gerade auf die Toilettenbrille setzen, als sie eine forsche, gurgelnde Stimme hörte, die laut sagte: „Endlich kommt jemand! Ich dachte schon, ich müsste elendiglich verdursten!“

Erschrocken machte Mia einen Satz vorwärts. Fantasierte sie oder hatte eben wirklich die Toilette mit ihr gesprochen? Mia starrte das Klo an und war sich unschlüssig, was sie nun tun sollte.

Da ertönte die Stimme erneut: „Na, was ist nun? Erst Hoffnung auf einen Morgentrunk machen und dann verschwinden, oder wie? Das haben wir gern! Mach schon – setz dich endlich und stille meinen Durst!“

Mia blieb wie angewurzelt stehen. War denn jeder Gegenstand in diesem Haus lebendig? Konnte man noch nicht einmal in Ruhe auf die Toilette gehen? Sie konnte doch nicht Pipi in ein sprechendes Klo machen! Wer weiß, was passieren würde, wenn sie sich darauf setzte! Am Ende biss die Toilette, verschluckte Mia oder dergleichen.

„Sag mal, willst du Wurzeln schlagen, oder was? Hast du noch nie eine Toilette gesehen oder was ist los mit dir?“

Langsam wurde das Klo richtig sauer.

Mia gab sich einen Ruck – schließlich musste sie wirklich dringend ihre Blase entleeren. Sie zog die Hose herunter und setzte sich zögernd auf die Toilettenbrille. Dann ließ sie ihrem Drang freien Lauf. Ein zweistimmiges erleichtertes Seufzen war zu hören – eins von Mia, bei der endlich der furchtbare Druck auf die Blase nachließ, und eins von der Toilette, die schließlich doch etwas zu trinken bekam. Ein zufriedenes Schlürfen und gieriges Schlucken ertönten, dann sagte das Klo mit versöhnlicher Stimme: „Na also, geht doch!“

Mia blieb keinen Augenblick länger sitzen als unbedingt nötig. Ihr war das alles immer noch ziemlich suspekt und so stand sie schnell wieder auf, als sie fertig war. Erleichtert, dass nichts weiter passiert war, drehte Mia sich um und wollte auf die Spülung drücken. Aber sie suchte vergebens nach dem dafür vorgesehenen Knopf. Dann fiel ihr ein, dass es sowieso keinen Sinn machen würde, etwas wegspülen zu wollen, das schon getrunken worden war. Also wusch sie sich die Hände – das Waschbecken funktionierte zu ihrer Erleichterung komplikationslos und sprach sie auch nicht an – und ging zurück ins Schlafzimmer.

Sophie war in der Zwischenzeit ebenfalls aufgewacht und erwartete Mia mit einem breiten Schmunzeln.

„Du hast wohl eben Bekanntschaft mit unserer überaus höflichen Toilette gemacht, hm? Ich habe ihre Stimme bis hierher gehört!“

Im Nachhinein konnte auch Mia sich über die Szene im Badezimmer amüsieren und grinste fröhlich zurück. „Was macht sie nur, wenn ihr ein paar Tage nicht hier seid?“, fragte sie ihre Cousine.

„Och, dann stellen wir einen Eimer Wasser mit einem langen Strohhalm darin für sie bereit“, antwortete Sophie.

Während die Mädchen so plauderten, zogen sie sich rasch an und gingen anschließend hinunter in die Küche.

Tante Anna bereitete gerade das Frühstück vor und begrüßte die beiden gut gelaunt. „Guten Morgen, ihr zwei Hübschen! Habt ihr gut geschlafen?“

„Wie ein Murmeltier“, antworteten Mia und Sophie wie aus einem Munde.

„Das freut mich“, meinte Tante Anna. „Und jetzt seid ihr bestimmt hungrig. Ich dachte, bei diesem herrlichen Wetter können wir draußen im Garten frühstücken.“

Sie zeigte auf die Stühle und den Tisch, der bereits gedeckt war, und sagte an diese gewandt: „In den Garten, bitte.“

Sofort setzten sich die angesprochenen Gegenstände in Bewegung und trippelten auf die Terrassentür zu.

Dieses Mal wunderte Mia sich schon gar nicht mehr und folgte Sophie, Tante Anna und den Möbelstücken hinaus in den Garten.

Der Tisch und die Stühle stellten sich auf einem lauschigen, grasbewachsenen Platz unter einer Weide auf.

Tante Anna und Sophie nahmen am Tisch Platz, Mia jedoch zögerte. Misstrauisch musterte sie die noch freien Stühle. Sie hatte keine Lust, wieder auf dem Hosenboden zu landen, weil der ungezogene Stuhl von gestern ihr erneut einen Streich spielen wollte.

Doch Tante Anna, die Mias Zögern bemerkte und richtig deutete, beruhigte sie: „Keine Angst, Charlie ist noch oben auf dem Dachboden. Er darf erst nach dem Frühstück wieder herunterkommen.“

Beruhigt setzte Mia sich an den Tisch und begann zu essen.

„Habt ihr beiden heute schon etwas Besonderes vor?“, erkundigte sich Tante Anna.

„Ich wollte gerne mit Mia zu Lindara gehen“, antwortete Sophie. An Mia gewandt, fügte sie hinzu: „Lindara ist eine Elfe, mit der ich gut befreundet bin. Du wirst sie garantiert auch mögen und sie ist schon ganz gespannt auf dich!“

„Das ist eine gute Idee“, stimmte Tante Anna ihr zu. „Es wäre nur nett, wenn ihr rechtzeitig zum Abendessen hier wäret, dann könntet ihr mir danach noch helfen, die Sachen für den Markttag zu packen. Wenn ihr wollt, könnt ihr morgen übrigens gerne mit auf den Markt kommen.“

Begeistert nickte Sophie. Mia wunderte sich zwar, was an einem Markt so interessant sein sollte, aber wenn Sophie unbedingt dorthin wollte, würde sie schon ihre Gründe haben.

Als Mia ihr Brötchen fast aufgegessen hatte, kam plötzlich ein Vogel angeflogen und ließ sich ohne jegliche Scheu auf dem Tisch nieder. Mia erkannte, dass es sich bei dem Tier um einen Specht handeln musste, und wunderte sich über dessen Zutraulichkeit.

Tante Anna und Sophie dagegen schienen in keiner Weise irritiert darüber zu sein. Wie selbstverständlich schaute Tante Anna den Vogel auffordernd an. Als dieser keine Reaktion zeigte, sondern nur genüsslich einige Krümel vom Tisch aufpickte, fragte sie: „Nun, Kosko – was hast du zu berichten?“

Gelangweilt schaute der Specht sie an und fragte seinerseits: „Ist noch mehr von dem Kürbiskernbrot da?“

Streng gab Tante Anna zurück: „Du richtest mir jetzt erst mal aus, was Oma Käthe gesagt hat, anschließend bekommst du etwas zu essen.“

Der Vogel, der wohl Kosko hieß, ließ sich provokativ lange Zeit mit der Antwort. Er gähnte zunächst ausgiebig und sagte dann bewusst langsam und gelangweilt: „Sie braucht nichts vom Markt.“

„Gut“, antwortete Anna und streute ihm ein paar Kürbiskernbrotkrumen vor die Füße. Kosko pickte sie gierig auf und flog anschließend davon.

Kopfschüttelnd schaute Mias Tante ihm nach und sagte zu den beiden Mädchen: „Er weiß ganz genau, wie schwer Botenvögel derzeit zu kriegen sind. Ansonsten würde er sich dieses unverschämte Verhalten niemals erlauben. Immerhin wissen wir jetzt, dass wir Oma Käthe nichts vom Markt mitbringen sollen.“

 

Nach dem Frühstück brachen Mia und Sophie unverzüglich zu Lindara auf. Fröhlich schwatzend folgten sie einem schmalen, stark gewundenen Waldweg in südliche Richtung. Ohne Unterlass schaute Mia sich um, stets darauf gefasst, dass wieder irgendein seltsames Wesen auftauchen würde.

Doch schon nach ungefähr zehn Minuten, in denen die beiden nichts Ungewöhnliches gesehen oder gehört hatten, blieb Sophie stehen und verkündete: „Hier wohnt Lindara.“

Mia spähte in die Richtung, in welche ihre Cousine gezeigt hatte, und erblickte dort einen gigantischen Baum, den Sophie gemeint haben musste. In dem riesigen Stamm befand sich eine Tür, durch die ein Kind ihrer Größe mühelos aufrecht gehen konnte.

Genau auf diese ging Sophie zu und zog an einer Schnur, die links der Tür herunterbaumelte. Augenblicklich war ein liebliches Bimmeln zu vernehmen. Es hörte sich nicht wie eine herkömmliche Türklingel an. Vielmehr klang es, als hätte jemand unzählige kleine Glöckchen, die nun in unterschiedlichen Tönen gleichzeitig läuteten, am Ende der Schnur befestigt.

Kurze Zeit später wurde die Tür von innen geöffnet.


Vor Mia und Sophie stand ein mädchenhaft aussehendes Geschöpf, das etwa die gleiche Größe wie die beiden Kinder hatte. Lange blonde Locken umrahmten ein zartes Gesicht mit ebenmäßigen Zügen. Man hätte es als engelsgleich beschreiben können, wären da nicht die funkelnden blauen Augen gewesen, in denen der Schalk zu blitzen schien.

Die schlanke, feingliedrige Gestalt war in ein Kleid aus grünen Blättern gehüllt, das sanft ihre Knie umspielte.

„Oh Sophie – wie schön, dich zu sehen!“, jauchzte das Wesen mit glockenheller Stimme und fiel der Angesprochenen stürmisch um den Hals.

„Und du musst Mia sein! Sophie hat ja schon so viel von dir erzählt!“, sagte sie, an Mia gewandt. „Ich bin Lindara und sehr erfreut, dich endlich kennenzulernen!“

Die Elfe war Mia auf Anhieb sympathisch.

„Kommt doch rein! Ich habe frischen Schlüsselblumennektar da, den wir in der Laube oben trinken können“, lud Lindara die Kinder nun mit einer eleganten Geste in den Baum ein.

Die beiden Mädchen traten durch die Tür des Baumstammes und gelangten so in einen großen Hohlraum im Inneren des Baumes. In den Wänden befanden sich einige Löcher, durch die helles Sonnenlicht hereinflutete. Als Mia sich genauer umsah, erkannte sie, dass an einer Seite des Baumes eine schöne Holzküche und eine kleine Essecke standen. An der anderen Seite befand sich ein mit wundervollen Schnitzereien verziertes Bett, welches einen verspielten Baldachin aus Rosenranken hatte.

In der Mitte des Baumes schlängelte sich eine frei schwingende Wendeltreppe nach oben. Eben diese Treppe betraten Lindara und ihre Gäste nun und gelangten über sie ein Stockwerk höher. Hier gab es kein Dach. Nur die Äste des Baumes spendeten mit ihren Blättern angenehm kühlen Schatten.

Lindara lud die Mädchen ein, sich an einen runden Holztisch zu setzen, vor dem filigran geschnitzte Stühle standen.

Mia und Sophie ließen sich bereitwillig darauf nieder.

Die Gastgeberin eilte noch einmal zurück in die Küche und erschien kurze Zeit später mit einer Glaskaraffe und drei Gläsern wieder.

In der Karaffe befand sich eine honigfarbene Flüssigkeit, von der die Elfe in alle drei Gläser etwas füllte. Das musste der Schlüsselblumennektar sein, von dem sie eben gesprochen hatte.

Lindara reichte jedem der Mädchen ein Glas. Dann hielt sie ihr eigenes in die Höhe und sagte beschwingt: „Lasst uns auf Mias Besuch im Magischen Wald anstoßen!“

Mia und Sophie hoben ebenfalls ihre Gläser, und als sie das der Elfe berührten, stoben kleine silberne Perlen in alle Richtungen. Fasziniert beobachtete Mia, wie sie noch einen kurzen Augenblick im Sonnenlicht funkelten, um anschließend fast lautlos zu verpuffen. Dann, als keine einzige der wundersamen Perlen mehr zu sehen war, tat Mia es den anderen beiden gleich und führte ihr Glas zum Mund.

Der Nektar schmeckte wunderbar fruchtig und süß. Mia schloss voller Genuss die Augen und behielt das köstliche Getränk ganz lange im Mund. Erst nachdem sie den Geschmack voll ausgekostet hatte, schluckte sie den Nektar herunter. Während er ihre Speiseröhre entlangrann, vernahm Mia verblüfft eine zarte Melodie, die unheimlich fröhlich klang und unweigerlich gute Laune in ihr verursachte.

Fasziniert nahm Mia direkt noch einen Schluck. Der Geschmack blieb der gleiche, aber die Melodie, die dieses Mal beim Schlucken ertönte, war eine andere, wenngleich genauso fröhliche.

Eine ganze Weile konnte Mia sich nicht auf Sophie und Lindara konzentrieren, weil sie von ihrem Erlebnis mit dem Schlüsselblumennektar so angetan war. Sie trank immer und immer wieder davon und lauschte den zarten Melodien, die erklangen, sobald die Flüssigkeit ihre Kehle herunterrann. Irgendwann schaute sie wieder auf und bemerkte, dass die beiden anderen sie amüsiert beobachteten.

„Du scheinst Gefallen daran zu finden“, stellte die Elfe schmunzelnd fest.

„Und wie!“, bestätigte Mia. „Es ist einfach unglaublich!“

„Der Nektar ist eine Spezialität von Lindara“, klinkte Sophie sich in das Gespräch ein. „Sie stellt ihn selbst her.“

Jetzt war Mia umso beeindruckter.

Während sie erneut einen Schluck nahm, fragte Sophie Lindara, was im Magischen Wald in der letzten Zeit passiert sei.

„Hm, lass mich mal überlegen“, antwortete die Elfe. „Ach ja! Ich habe Kortin, dem Riesentausendfüßler, geholfen umzuziehen. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viele Schuhe er besitzt! Vielleicht sollte ich erwähnen, dass er einen wirklich ausgeprägten Schuhtick hat. Dreizehn Garnituren hat er sich mit der Zeit zugelegt – und das bei seinen tausend-und-vier Füßen! Wir haben allein zwei ganze Tage gebraucht, um nur die Schuhsammlung von einem Bau zum anderen zu schleppen! Das war vielleicht eine Heidenarbeit!

Dann ist vor einigen Tagen Professor Dack mal wieder ein Experiment missglückt. Ich weiß nicht, was er eigentlich vorhatte, aber sein Plan ist in jedem Fall furchtbar schiefgelaufen. Das ganze Gartenhaus ist dabei in die Luft geflogen! Es war nur glücklichen Umständen zu verdanken, dass niemand zu Schaden gekommen ist! Mittlerweile hat er ein neues Gartenhaus gebaut, welches sogar feuerfest ist.“

„Das ist typisch Professor Dack!“, kommentierte Sophie die Erzählung. An Mia gerichtet, erklärte sie: „Du wirst ihn auf jeden Fall noch kennenlernen. Er ist der Vater von Tristan, einem Jungen, der auch hier im Magischen Wald wohnt und ein guter Freund von uns ist. Professor Dack ist ein netter Mann, aber er ist unheimlich verwirrt. Ständig will er neue Sachen erfinden und macht komplizierte Experimente in seinem Gartenhaus. In dem Wohnhaus darf er nicht mehr arbeiten. Seine Frau hat es ihm verboten, nachdem schon so viel schiefgelaufen ist. Sie hatte Angst um das Haus und die Einrichtung – und das zu Recht, wie man sieht.“

So ging es noch eine ganze Weile weiter. Lindara berichtete, was sich in der letzten Zeit im Magischen Wald ereignet hatte, und Sophie und die Elfe erklärten Mia abwechselnd die Hintergründe der Geschichten. Dabei tranken die drei Schlüsselblumennektar und knabberten Kekse, welche Lindara auf den Tisch gestellt hatte.

Die Zeit verging wie im Flug und als Sophie irgendwann auf die Uhr schaute, war sie ganz erstaunt, wie spät es schon geworden war.

„Oh! Jetzt müssen wir aber aufbrechen! Wir haben meiner Mutter versprochen, ihr zu helfen, die Sachen für den Markt zu packen!“

„Sehen wir uns bald wieder?“, fragte die Elfe, während sie die beiden Mädchen zur Tür begleitete.

„Klar! Wir kommen übermorgen wieder bei dir vorbei“, versicherte Sophie ihr.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, machten die beiden Cousinen sich auf den Heimweg.

Als sie an dem Holzhäuschen angekommen waren, hörten sie das schnüffelnde Geräusch der Tür. Kurz darauf ertönte ihre knarzige Stimme: „Fräulein Sophie und das neue Fräulein Mia, tretet ein!“

Mit diesen Worten schwang die Tür auf und die Mädchen betraten das Haus.

„Ah! Gut, dass ihr so pünktlich seid!“, rief Tante Anna aus dem Garten. „Wie war es bei Lindara?“

„Schön!“, antwortete Sophie. „Mia war ganz begeistert von dem Schlüsselblumennektar!“ Mia nickte zustimmend.

„Hoffentlich schmeckt dir auch mein Brot“, meinte ihre Tante. „Es kann zwar nichts Besonderes, aber ich habe es heute frisch gebacken und es ist noch ganz warm. Kommt, wascht euch die Hände. Dann könnt ihr mir helfen, den Tisch zu decken.“

Das Abendessen fand wieder im Garten statt und das Brot war tatsächlich noch warm und schmeckte herrlich.

Als alle satt waren, räumten die drei gemeinsam den Tisch ab.

Anschließend ging es ans Packen. Tante Anna wollte einige Dinge auf dem Markt verkaufen. Um am Morgen Zeit zu sparen, sollten diese bereits jetzt auf die Kutsche geladen werden.

Die Sachen waren schon in einer Ecke des Wohnzimmers gestapelt. Alles war in geheimnisvoll aussehenden Kisten und Säcken verpackt.

Als Mia einen davon zur Kutsche trug, klaffte er etwas auseinander und Mia erhaschte einen Blick auf seinen Inhalt. Er schimmerte und glänzte silberfarben, doch mehr konnte sie durch den schmalen Spalt nicht erkennen.

„Was ist das?“, fragte sie ihre Cousine, die, ebenfalls mit einem Sack beladen, neben ihr lief.

„Das sind selbst gestrickte Umhänge von meiner Mutter“, erklärte Sophie. Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Moment stolperte sie über eine Unebenheit im Boden. Sie konnte sich gerade noch aufrecht halten, war aber so aus dem Konzept gebracht, dass sie anschließend nicht weitersprach.

Im nächsten Augenblick waren die beiden Mädchen auch schon bei der Kutsche angelangt. Mia sah erstaunt, wie Windipuss auf dem Kutschbock zusammengerollt schlief. Sophie, die Mias verblüfften und etwas mitleidigen Blick bemerkte, erklärte ihr: „Er ist eben ein richtiger Kutscher – durch nichts von seiner Kutsche zu trennen. Er wohnt quasi in ihr und wäre todtraurig, wenn man ihm verbieten würde, hier zu schlafen.“

Nachdem alles, was am nächsten Tag verkauft werden sollte, eingeladen war, bedankte Tante Anna sich bei den Kindern für die Hilfe und sagte: „Ich will dringend noch einen Umhang fertig bekommen, damit ich ihn morgen mitnehmen kann. Die Nacht scheint wunderbar klar zu werden, deshalb ziehe ich mich jetzt schon zurück. Denkt daran, beizeiten schlafen zu gehen. Morgen müsst ihr schließlich früh raus.“

Mia wunderte sich, was die klare Nacht mit dem Umhang zu tun habe, fragte aber nicht weiter nach.

Sie und Sophie spielten noch zwei Runden „Mau-Mau“ und gingen dann zu Bett.

Mitten in der Nacht wachte Mia plötzlich auf. Zuerst wusste sie nicht, was sie geweckt hatte, und wollte schon wieder die Augen schließen. Dann aber hörte sie eine leise und melodische Frauenstimme geheimnisvoll singen. Die Stimme war zu weit entfernt, um die einzelnen Worte verstehen zu können. Obwohl die Melodie sehr friedlich und beruhigend klang, konnte Mia nicht wieder einschlafen. Sie versuchte es eine ganze Weile lang, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen. Ein innerer Zwang trieb sie dazu, immerzu dem Gesang zu lauschen. Sie brannte vor Neugier, woher er wohl kam.

Schließlich hielt sie nichts mehr im Bett. Sie musste einfach herausfinden, was es mit der Melodie auf sich hatte!

Auf leisen Sohlen schlich sie aus dem Zimmer. Im Flur angekommen, blieb sie stehen und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung die Geräuschquelle kam.

Der Gesang schien von weiter oben an Mias Ohren zu dringen. Hatte Tante Anna nicht erwähnt, dass das Haus über einen Dachboden verfügte, auf dem der Stuhl Charlie die Nacht hatte verbringen müssen?

Mia schaute sich um. Erst jetzt entdeckte sie, dass es eine Tür im Flur gab, die sie bisher noch nicht bemerkt hatte, weil sie sich so unauffällig in die Wand einfügte. Es gab auch keine Türklinke, mit der man sie öffnen konnte. Aber als Mia versuchsweise dagegen drückte, schwang die Tür mit einem leisen Knarren nach innen auf. Augenblicklich war der Gesang lauter zu vernehmen.

Mia musste kurz innehalten, damit ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Dann erkannte sie eine schmale Holztreppe, die nach oben führte. Mit klopfendem Herzen stieg sie die Stufen empor.

Die Stimme klang inzwischen so laut an Mias Ohr, dass sie die einzelnen Wörter verstehen konnte. Gerade sang sie:

 

„Mond schein’ silbern und so fein

hier in diese Stube rein.

Keine Wolk’ verdirbt die Sicht,

bündel’ dich, oh Mondeslicht!“

Mia starrte in den Raum, der sich vor ihr erstreckte, und erkannte ihre Tante, deren Lippen die geheimnisvollen Worte formten. Sie saß in einem Schaukelstuhl, hielt zwei Stricknadeln in den Händen und sang, während sie unaufhörlich mit den Nadeln klapperte.

Verwundert erkannte Mia, dass da nirgendwo Wolle war, mit der Tante Anna strickten könnte. Stattdessen schien ein Faden aus der Luft zu kommen oder, genau genommen, erst dort wie aus dem Nichts zu entstehen.

Auf einmal sah Tante Anna auf. „Oh, Mia-Schätzchen! Konntest du nicht schlafen?“

„Was tust du da?“, fragte Mia neugierig zurück.

„Ich stricke den Umhang fertig, den ich morgen verkaufen will“, antwortete die Hexe lächelnd. „Er wird aus Mondstrahlen hergestellt. Deshalb braucht man eine sternenklare Nacht dafür. Sieh her: Mit meinem Gesang bündele ich die Strahlen zu einem Faden, welchen ich anschließend verstricken kann.“

Mia staunte. Darum war der Stoff, aus dem die Umhänge bestanden, so unglaublich schön. Kein Wunder, dass er dermaßen wundervoll silbern schimmerte und glänzte!

„Wow!“, stieß Mia hervor.

„Ja, er sieht sehr schön aus“, bestätigte ihre Tante. „Aber das ist längst nicht alles. Der eigentliche Nutzen dieser Umhänge besteht darin, dass der Träger sich damit überall hin wünschen kann. Ein einziges Wort nur muss er sprechen und schon ist er an jedem beliebigen Ort dieser Erde. Bei jedem Wunsch löst sich ein Faden auf, sodass das Kleidungsstück irgendwann verbraucht ist. Diese Umhänge sind sehr begehrt, aber nicht viele können sich einen solchen leisten. Sie sind extrem aufwendig herzustellen und daher äußerst kostbar und teuer.“

Mia war fasziniert. Gerne hätte sie der Hexe noch länger beim Stricken zugeschaut, doch ihre Tante scheuchte sie freundlich, aber bestimmt, zurück in ihr Zimmer.

„Ein Kind in deinem Alter gehört nachts ins Bett. Außerdem muss ich mich konzentrieren. Wenn ich falsch singe, lassen die Mondstrahlen sich nicht richtig bündeln und erfüllen später nicht ihren Zweck.“

Also ging Mia leise, um Sophie nicht zu wecken, zurück ins Bett.

Jetzt, da sie wusste, welch geheimnisvollen Dinge auf dem Markt verkauft wurden, konnte sie Sophies Begeisterung dafür verstehen. Sie freute sich nun ebenfalls sehr auf den morgigen Tag.